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DER PROZESS
Jokum war wie üblich der Letzte im Lesesaal. Er studierte Literaturwissenschaft, auf Diplom. Er glaubte, einmal Schriftsteller werden zu können. Das wurde er nicht. Er wurde Fotograf. Es war April, im Jahr 1976. Es war außerdem ein Freitag. Er musste die Kolloquiumsarbeit zu Franz Kafkas Der Prozess fertigbekommen. Aber das mussten die anderen in der Gruppe ja auch, und die waren alle schon seit Langem fertig. War Jokum fauler oder fleißiger als sie? Unmöglich, das jetzt schon zu sagen. Er dachte: Ich sitze nach. Wieder sitze ich nach. Er hatte bereits acht A4-Seiten, liniert, geschrieben, doch aus seiner Sicht war daraus nichts geworden, nichts, wo mit er zufrieden hätte sein können. Er fand sowieso, dass nur aus wenigem überhaupt etwas wurde. Etwas? Was war etwas? Auch darauf hatte Jokum keine Antwort. Was er schrieb, hatte er entweder zuvor gelesen oder von anderen gehört, das über das Individuum, das vom System zerbrochen und ausgelöscht wird, von dem bürokratischen Fegefeuer, all das, was bereits da steht, schwarz auf weiß, das Offensichtliche, worüber man an einem schlechten Tag selbst nur zu gähnen vermochte. Und heute war ein schlechter Tag. Ein Freitag. Aber dieser Roman, der schon längst gelesen und bearbeitet worden war, hatte etwas an sich, das Jokum nicht zu fassen bekam, und das quälte ihn. Er wollte so gern etwas Originelles schreiben, etwas Einzigartiges, wenigstens etwas Persönliches, im besten Fall etwas Neues, einen Gedanken, der zum ersten Mal gedacht wurde. Aber woher sollte er wissen, wenn ihm ein derartiger Gedanke, wider jedweder Vermutung, tatsächlich kommen würde, dass ihn noch nie zuvor jemand gedacht hatte? So etwas war unmöglich. Vielleicht hatte sogar jemand gleichzeitig mit ihm diesen Gedanken. Vielleicht saß ein anderer Student in einem Lesesaal - beispielsweise in der Mongolei, wenn es denn dort überhaupt Lesesäle gab - und dachte das Gleiche wie Jokum? Das meiste kann man nicht wissen. Nein, er hätte einen anderen Roman aussuchen sollen, einen Roman, den nur er gelesen hatte, dann hätten auch seine Gedanken neu sein können, sozusagen frei, aber gab es so einen Roman? Und wie sollte er sicher sein, dass kein anderer ihn gelesen hatte. In diesem Fall müsste er ihn selbst schreiben. Ihm kam die Idee, einen Roman selbst zu schreiben und ihn dann zu interpretieren, aber weiter kam Jokum mit dieser Idee nicht. Also blieb es dabei. Wie üblich. Er hörte auf zu denken, soweit das möglich war, und nahm sich stattdessen das Ende des Prozesses vor, mit dem er sich schon lange beschäftigt hatte, sowohl in wachem wie in träumendem Zustand: Als Josef K. endlich den Dom verlassen soll, sagt er zu dem Pfarrer: Ich kann mich aber im Dunkel allein nicht zurechtfinden. Und das war Jokums Pointe, seine schlichte Zusammenfassung, dass Josef K. Hilfe haben will, Hilfe ist alles, was er will, aber alle, die sagen, sie wollten ihm helfen, führen ihn stattdessen auf den Tod zu. Was bedeutet das? Es bedeutete laut Jokum, dass man sich auf niemanden verlassen kann und dass dieses Leben, hier gemeint als das Dasein an sich, im Grunde genommen tragisch ist. Wir wissen, dass wir sterben werden, und auf dem Weg dorthin ist es auch nicht besonders gemütlich.
Das Leben ist also ein Teufelskreis.
Das sollte vorläufig genügen.
Aber da gab es noch etwas anderes, das Jokum quälte, doch das befand sich außerhalb, oder eher hinter dem Roman selbst, und war dennoch unlösbar mit ihm verknüpft. Denn in einem Nachwort erzählt Max Brod, der enge Freund des Autors, dass er sich Kafkas inständigem Wunsch widersetzt habe, alles was sich in meinem Nachlass findet, restlos und ungelesen zu verbrennen. Damit rettete Max Brod unter anderem den Prozess vor den Flammen. Man stelle sich das mal vor. Man stelle sich eine Welt ohne Der Prozess vor! Kann man sich das überhaupt vorstellen?, fragte Jokum sich und hatte damit also wieder angefangen zu denken. Eigentlich schon. Der Zweite Weltkrieg wäre dadurch nicht vermieden worden. Norwegen hätte so oder so gegen die EWG gestimmt. Jemand hätte früher oder später die Atombombe erfunden, und die Miete in Sogn Studentby wäre trotz allem gleich hoch.
Ja, und?, dachte Jokum. Ja, und?
Die Sache war die: Wäre Der Prozess nicht veröffentlicht worden, säße er nicht hier und schriebe eine Kolloquiumsarbeit darüber. Er wäre vielleicht an einer anderen Stelle, draußen, in der Stadt, unterwegs, oder auf der Piste, wie es auch hieß. Aber höchstwahrscheinlich säße er dennoch genau hier, der letzte Mann an einem Freitagabend im April, im Lesesaal von Sophus Bugge, Universität Oslo, nur mit einem anderen Roman als Der Prozess, beispielsweise mit Der Fremde von Camus oder Hamsuns Auf überwachsenen Pfaden. Der einzige Unterschied wäre mit anderen Worten, dass seine Gedanken woanders wären, nicht bei Josef K., sondern bei Mersault oder bei dem Greis in der psychiatrischen Klinik von Vinderen, aber sein verdammter Körper wäre exakt derselbe, und er säße auf demselben harten Stuhl, nein, das Leben war ein Kreis, ein Teufelskreis. Jokum fiel nichts ein, was Jokum zu einem anderen hätte machen können als zu dem, der er war, es sei denn, er wäre gar nicht geboren worden, und ein anderer hätte seinen Platz eingenommen, wenn er nicht ganz einfach leer geblieben wäre, aber was brachte das ihm, Jokum, nichts, absolut nichts, aber vielleicht hätte es ihm geholfen, hätte er anders geheißen, nicht Jokum, oh, wie konnten sie, diese seine Eltern, nur auf so eine Idee kommen? Er hätte beispielsweise Josef K. heißen können, wenn Max Brod, Kafkas untreuer Freund, den Prozess verbrannt hätte, denn dann wäre dieser Name noch frei gewesen. Aber Jokum? Aus allen Namen, die zur Wahl standen, entschieden sie sich für Jokum, und der Vorname verfolgte ihn auch noch in seinem Nachnamen, er war dort sein eigener Sohn, denn sein vollständiger Name war Jokum Jokumsen.
Aber was wäre passiert, wäre er bei der Geburt vertauscht worden? Hätte man ihn im Krankenhaus liegen lassen, und hätte ein anderer seinen Platz eingenommen?
Auch das war nur ein geringer oder gar kein Trost.
Doch wenigstens brachte es Jokum einen guten Abschluss ein, die Erkenntnis, dass das Leben im Großen und Ganzen gesehen tragisch war, nahezu sinnlos, wir waren nach dem Bild eines sinnlosen Gottes geschaffen worden, wenn es denn Gott überhaupt gab, etwas, woran Jokum stark zweifelte, was er aber auch nicht mit Sicherheit von sich weisen konnte, also zweifelte er. Es gefiel ihm, sich so zu bezeichnen, in guten Momenten wohlgemerkt, ein starker Zweifler. Er legte die Seiten in einen braunen Umschlag, leckte an dessen Rand, es schmeckte verschimmelt, wie ihm schien, vielleicht hatte der Geschmack etwas mit Fallobst zu tun, braunen, weichen Äpfeln im Gras, die im Begriff waren, sich aufzulösen, er musste mehrere Male schlucken, plötzlich war ihm übel, oder er wurde müde, seine Augen brannten, bevor er den Umschlag zuklebte und mit dem Namen des Leiters der Kolloquiumsgruppe beschriftete. Ottar Hansen, sein Name war Ottar Hansen, solide, geradeheraus, kein Firlefanz, Ottar Hansen war ein Name, der seinem Namen alle Ehre machte. Plötzlich saß Jokum im Dunkeln. Er verbarg sein Gesicht in den Händen und glaubte sofort, diese Dunkelheit käme von innen, aus seiner eigenen Dunkelkammer, dass sein Inneres jetzt freigelassen worden war, vielleicht war es der ersehnte Zusammenbruch, ja, es war ein Zusammenbruch. Der musste ja kommen. Er genoss dieses Bild von sich selbst, es war fast wie eine Theatervorstellung: Letztendlich kam es zum Zusammenbruch des beständigen und treuen, aber trotz allem menschlichen Studenten. Ja, so hatte es kommen müssen, früher oder später. So konnte es ja nicht weitergehen. Und jetzt war es dazu gekommen. Wenn eines der hübschen Mädchen, beispielsweise vom kunsthistorischen Institut, ihn hier so sitzen sehen könnte, tragisch, allein im Lesesaal, am späten Freitagabend, mit dem Gesicht in den Händen, badend in seiner inneren Finsternis, würde das nicht einen gewissen Eindruck machen? Auf jeden Fall. Aber vielleicht hatten die Mädchen vom kunsthistorischen Institut ja ein Herz aus Stein? Was wusste Jokum schon von kunsthistorischen Herzen? Wenig. Die kunsthistorischen Herzen waren eine Lektion, die ihm nicht vertraut war. Aber er arbeitete daran. Das muss man betonen. Jokum hatte den großen Wunsch, sich mit dieser Lektion intensiv vertraut zu machen. Ich denke da besonders an eine bestimmte Person, die Wand an Wand mit ihm in der Sogn Studentby wohnte, die das Aufbaustudium in Kunstgeschichte absolvierte und auf die wir später zurückkommen werden. Jokum konnte sich gut vorstellen, in ihr geprüft zu werden, sowohl schriftlich als auch mündlich. Denn er saß ja sowieso in der Dunkelheit, und somit konnte ihn auch niemand sehen. Aber es handelte sich eher um eine Dunkelheit im übertragenen Sinn, von der hier die Rede ist, eine Dunkelheit, in der man gesehen werden kann, in dem Nachtschein der Melancholie. Es sollte schicksalsschwerer sein, mein Leben, dachte Jokum, es sollte mehr Größe haben, mehr Höhe, nicht nur Zentimeter, es sollte ganz einfach mehr zu verlieren geben, nein, Letzteres zog er sofort wieder zurück, warum sollte er mehr zu verlieren haben? Er wollte nicht mehr zu verlieren haben, wenn doch, müssten das einige dieser Zentimeter sein, mit denen er gesegnet oder eher verflucht worden war, möglichst viele. Es gibt einen Begriff, in die Höhe schießen. Und nur, damit es einmal gesagt worden ist: Jokum war in die Höhe geschossen....
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