Schweitzer Fachinformationen
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In seinem fünfzigsten Jahr verlor Kim Karlsen sein Gedächtnis. Vielleicht wissen Sie nicht, wer das ist. Sie wissen vielleicht auch nicht, wer ich bin. Aber das spielt keine Rolle. Ich weiß es. Und ich weiß auch, wer Sie sind. Stelle ich ganz einfach hiermit fest. Kim Karlsen wachte also eines Morgens auf und war ein leerer Bogen, ein unbeschriebenes Blatt. Lief auf der innersten Rille. Er näherte sich dem Loch. Aus diesem Grund ist er, wie die meisten inzwischen begriffen haben werden, nicht in der Lage, den Stift selbst zu führen, und da ich derjenige bin, der ihm immer am nächsten stand und ihn nur selten aus den Augen ließ, habe ich diese Aufgabe übernommen, nämlich seine Interessen zu wahren, sein Begleiter zu sein, und ich will nach bestem Wissen und Gewissen versuchen, dies auf eine so präzise und rechtschaffene Art zu tun wie nur möglich.
Kim Karlsen wachte also eines Morgens auf, am 4. Januar 2001, und hatte sein Gedächtnis verloren. Ich bin mir völlig im Klaren darüber, dass es nicht das erste Mal ist, dass so etwas passiert, weder in der Literatur noch im Film und übrigens auch nicht in dem, was Sie das wahre Leben nennen, aber es war das erste Mal, dass Kim Karlsen das Gedächtnis verlor, und das genügt für mich. Es geschah leise und ohne viel Dramatik. Er schlug lediglich die Augen auf und spürte in diesem Moment noch überhaupt keinen Unterschied. Dort, wo er lag, war es dunkel. Er hätte ebenso gut die Augen weiter geschlossen halten können. Er sah nichts, und er konnte nichts sehen. Er lauschte, hörte aber auch nichts. Er konnte nicht einmal seinen eigenen Körper hören, dieses merkwürdige Getöse, mal schön, mal hässlich, meistens beides zugleich, das dem Menschen bestätigt, wie selbstverständlich der Schlag des Herzens ist, der zwiefache Lauf des Bluts, das Absinken, der ununterbrochene Kreislauf, das hässliche Räuspern, wenn sich Schleim im Hals festsetzt, das Knistern in Haut, Haaren und Nerven, das langsame, ruhige Säuseln, als stünde im Innern ein Wald, durch den der Wind weht, die nicht gar so willkommene Bewegung der Darmgase oder das spitze, grelle Summen im Innenohr, wenn man beispielsweise zu viel laute Musik gehört hat, der Tinnitus, eine Hundeflöte, die das ganze Universum ausfüllt und die nur derjenige, der so etwas hat, hören kann - und die Bluthunde. Kim Karlsen hörte wie gesagt nichts. Er fühlte nur seinen Körper, wie ein Joch. Es hätte, zumindest vorläufig, ein Morgen wie jeder andere in Kim Karlsens Kalender sein können, aber das war er nicht. Kim blieb eine Weile liegen, ohne sich zu bewegen, in der verstummenden, stummen Dunkelheit, und versuchte, sich zu erinnern. Was ihm nicht gelang. Er versuchte, sich vorzustellen, was dieser Tag, zu dem er gerade erwacht war, mit sich bringen würde an großen und kleinen Begebenheiten, an Vergnügungen und Rückschlägen. Doch auch das missglückte ihm. Und wie hätte er überhaupt wissen sollen, ob es Tag oder Nacht oder immer noch Abend war? Er wusste es nicht. Seine Gedanken fanden nirgends Halt. Sie ließen sich nicht zu Ende denken. Sie kamen von nirgendwoher und entglitten ihm wieder, noch ehe sie fertig gedacht waren. Doch es war nicht bloß die Dunkelheit, die ihn am Sehen hinderte. Er konnte auch nicht über den Augenblick hinaussehen, in dem er sich befand. Er war im Augenblick gefangen. Er erinnerte sich nicht mehr daran, wer er war. Er erinnerte sich nicht mehr daran, wo er war. Er erinnerte sich nicht mehr daran, welcher Tag es war. Nicht einmal an den vergangenen Schlaf konnte er sich noch erinnern. Er spürte dem Nachspann nach. Womöglich glaubte er, dass es vorübergehen würde. Vielleicht glaubte er, es wäre nur ein vorübergehendes Phänomen - wenn es ihm überhaupt möglich war, so weit zu denken, denn die Vorstellung, die er vom Vorübergehen hatte, war ebenfalls nur vorübergehend und verschwand hinter reihenweise anderer vergeblicher Gedanken. Auf jeden Fall irrte er sich. Es war nicht vorübergehend. Ab hier gab es keinen Plan, keine Worte, keine Abmachung, nur mehr Chancen. Er war zu einem vorübergehenden Augenblick geworden. Und es war weder Furcht, Angst noch Panik, die Kim Karlsen verspürte: Er fühlte sich nur aus tiefstem Herzen verlegen.
Und jetzt ist es meine Aufgabe, ernsthaft zu beginnen.
Und ich fange ganz vorsichtig an.
»Hallo«, sagte Kim Karlsen.
Leise, testend sagte er das, als lernte er eine neue Sprache und wendete sich an den Rest der Welt.
»Hallo?«
Kim Karlsen lauschte seiner eigenen Stimme in der Dunkelheit, wenn es überhaupt seine war. Er erkannte sie nicht wieder. Sie war ihm überhaupt nicht ähnlich. Gleichzeitig schien sein Mund zu groß für sein Gesicht zu sein - weich, fast nicht zu schließen -, und das Gesicht um diesen Mund herum fühlte sich zu stramm an, als wäre es irgendwie eine Nummer zu klein. Er verstand kaum, was er sagte. Es klang wie Geschnatter.
Offenbar war sonst niemand in der Nähe, denn Kim Karlsen erhielt keine Antwort, weder beim ersten noch beim zweiten oder dritten Versuch. Ich kann übrigens hier schon verraten, ein für alle Mal, dass er allein war, damit diesbezüglich kein Zweifel besteht, denn das wäre das Letzte, was ich wollte: Zweifel säen. Zweifel ist das absolut Letzte, was ich säen möchte. So ein Gärtner bin ich nicht. In meinem Treibhaus soll ohnehin alles welken. Denn Zweifel, das ist nicht mein Ding. Wie schon gesagt, ich bemühe mich, rechtschaffen und präzise zu sein. Kim Karlsen war so allein, wie ein Mensch es nur sein kann. Er war dort, wo es nicht einmal mehr Einsamkeit gibt.
Kim Karlsen hob den Arm, traf die Wand und fand einen Lichtschalter. Den drückte er. Eine Deckenlampe flammte auf. Die Decke war weiß. Die Wände waren weiß. Das Licht blendete ihn ebenso stark, wie es zuvor die Dunkelheit getan hatte. Die Dunkelheit und das Licht sind ja bekanntlich nur zwei Seiten derselben Sache. Nun konnte er endlich sehen. Er lag nackt auf einem Doppelbett. Er blickte an sich selbst hinab. Das war also er. Das war also der Körper, in dem er aufgewacht war. Wie alt war dieser Körper? Denk an eine Zahl, dachte Kim Karlsen, und nähere dich der fünfzig. Er dachte - oder erriet vielmehr - sein eigenes Alter, doch diese Zahl nahe der fünfzig machte keinen Eindruck auf ihn, vielleicht war der Körper ja noch älter, auf jeden Fall nicht jünger, er wirkte abgenutzt irgendwie, kein Wrack, nein, nur erschöpft, mager, leer, die Haut an den Hüften und über der Leiste war fleckig, als hätte er genau dort einen Sonnenbrand. Ich bin wohl Nudist, schoss es Kim Karlsen durch den Kopf, und er war wie vom Donner gerührt, ehe auch dieser Gedanke sich ihm entzog und er von Neuem anfangen musste zu denken. Kalt war ihm nicht. Sein Blick schweifte umher. Ein schwarzer Anzug lag ordentlich über einem Stuhl. Auf dem Fußboden, der mit einem roten Teppich bedeckt war, stand ein Paar Schuhe, ebenfalls schwarz. Es sah fast so aus, als trieben sie in rotem Wasser. Die Gardinen, grün, schwer, waren vor dem einzigen Fenster im Raum zugezogen. Eine Schultertasche hing über einem Haken neben der Badezimmertür, die offen stand. Im Spiegel über dem Waschbecken sah er ein Stück gelben Duschvorhang. Eine weitere Tür war verschlossen, und an ihr war eine Art Plakat befestigt, wie er sehen konnte, mit Instruktionen für die Evakuierung und einer Übersicht der Notausgänge für den Fall eines Feuers. In der Ecke neben der Tür war ein Fernsehgerät hingestellt worden.
Worte, die Kim Karlsen einfielen: Schiff, Gefängnis, Krankenhaus.
In einer anderen Ecke stand ein niedriger viereckiger Schrank: die Minibar.
Dann flüsterte er mit dieser fremden Stimme: »Ich bin wohl in einem Hotel.«
Hotel.
Aber in welcher Stadt, in welchem Erdteil und aus welchem Grund?
Auf dem Nachttisch lag eine Fernbedienung. Als er danach griff, fiel sein Blick auf seine Hand, die rechte, das war gar nicht zu vermeiden, denn es war eine hässliche Hand, eine ungewöhnlich hässliche Hand, die man nicht so ohne Weiteres übersehen konnte, mit Narben übersät, kreuz und quer von einem Knöchel zum anderen, und besonders der Zeigefinger - der Zeigefinger war das Schlimmste an der ganzen Hand, er war gekrümmt und schief und zeigte in alle Richtungen, als hätte er sich in der Mitte irgendwie im Gelenk gelöst. Und wenn das Auge der Spiegel der Seele ist, wie einige von Ihnen behaupten, dann ist die Hand das Werkzeug der Seele. Die Hand segnet und schlägt. Die Hand streichelt und droht. Die Hand gibt und nimmt.
Es war zweifellos seine Hand.
Sie gehörte zu ihm.
Ich habe mich verletzt, dachte Kim Karlsen.
Und dieser Gedanke schaffte es, ihn anzutreiben, ihn zu einer Fortsetzung zu zwingen, denn er dachte außerdem: Das ist eine Narbe und keine Wunde.
Zwischen Wunde und Narbe liegt Zeit.
Die Zeit hatte also irgendwelche Wunden geheilt.
Kim Karlsen war halbwegs zufrieden mit diesem Gedankengang. Dass er gute Laune bekommen hätte, wäre zu viel gesagt gewesen, denn mit der Hand selbst war er ganz und gar nicht zufrieden.
Sie war nicht nur hässlich anzusehen. Er stellte überdies fest, dass daran etwas fehlte.
Ein grauer Streifen auf der Haut um sein schmales Handgelenk wies darauf hin. Seine Uhr war weg.
Er schaltete den Fernseher ein. Das Bild, das sich vor ihm aufbaute, war mächtig unscharf. Es hätte ebenso gut in Schwarz-Weiß sein können und nicht in Farbe. Er versuchte, den Ton lauter zu stellen, doch der Bildschirm blieb stumm und grau. Erst allmählich gelang es ihm zu erkennen, was das Bild darstellen sollte. Eine Sprungschanze. Eine gebeugte Gestalt fegte über die steile Bahn hinab und...
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