Schweitzer Fachinformationen
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Mittwoch, 3. Juni
Die Vierundvierzig ist für Chinesen eine Unglückszahl. Sie klingt wie »doppelt sterben«, weshalb jegliche Erscheinungsform der Vier tunlichst vermieden wird. An jenem Unglückstag im Juni arbeitete ich seit genau vierundvierzig Tagen in der May-Flower-Tanzhalle in Ipoh, um mir nebenbei heimlich etwas dazuzuverdienen.
Heimlich deshalb, weil es sich für anständige Mädchen nicht gehörte, mit Fremden zu tanzen, auch wenn wir offiziell als »Lehrerinnen« bezeichnet wurden. Und vielleicht waren wir das sogar für die meisten unserer Kunden, nervöse Angestellte und Schuljungs, die gleich rollenweise Billetts kauften, um Foxtrott, Walzer oder den faszinierenden malaiischen ronggeng zu lernen. Die anderen Kunden nannten wir buaya oder Krokodile; grinsende Grapscher, gegen deren Zudringlichkeiten nur festes Kneifen half.
Natürlich würde ich nie das große Geld verdienen, wenn ich sie ständig zurückwies, aber das musste ich bald hoffentlich auch nicht mehr. Ich arbeitete dort nur, um die Schulden in Höhe von vierzig Malaya-Dollar zurückzuzahlen, die meine Mutter sich zu einem horrenden Zinssatz geliehen hatte. Eigentlich verdiente ich mein Geld als Lehrmädchen bei einer Schneiderin, doch das reichte nicht aus, um den Schuldenberg abzutragen, und meine arme, törichte Mutter schaffte es nicht aus eigener Kraft, denn beim Glücksspiel hatte sie leider jedes Mal Pech.
Hätte sie das Rechnen bloß mir überlassen, dann wäre uns dieses Unheil bestimmt erspart geblieben. Mit Zahlen konnte ich nämlich schon immer gut umgehen. Nicht dass ich sonderlich stolz darauf wäre. Bisher hat mir diese Begabung nicht viel genutzt. Wäre ich als Junge geboren worden, sähe die Sache anders aus, aber die Begeisterung, mit der ich als Siebenjährige Wahrscheinlichkeiten berechnete, war meiner damals frisch verwitweten Mutter leider keine Hilfe. In der traurigen Leere, die der Tod meines Vaters hinterlassen hatte, verbrachte ich Stunden damit, Zahlen auf Zettel zu kritzeln. Zahlen waren logisch und geordnet, im Gegensatz zu dem Chaos, das nun unser Leben beherrschte. Trotz allem bewahrte meine Mutter sich stets ihr sanftes Lächeln, das sie wie die Göttin der Barmherzigkeit erscheinen ließ, auch wenn sie wahrscheinlich oft nicht wusste, wie sie uns satt bekommen sollte. Ich liebte sie heiß und innig, aber dazu später mehr.
Als sie mich einstellte, befahl mir die Tanzhallen-Madame als Erstes, mir die Haare abzuschneiden. Dabei hatte ich sie jahrelang wachsen lassen, weil mein Stiefbruder Shin mich ständig hänselte, dass ich wie ein Junge aussähe. Die beiden geflochtenen Zöpfe, die ich immer noch so ordentlich zusammenband wie in meiner Schulzeit an der anglo-chinesischen Mädchenschule, waren ein liebliches Symbol für Weiblichkeit. Ich war überzeugt, dass ich mit ihnen zahlreiche Sünden ausgleichen konnte, einschließlich der undamenhaften Fähigkeit, aus dem Stegreif Zinssätze berechnen zu können.
»Nein«, sagte die Madame. »So kannst du nicht für mich arbeiten.«
»Aber die anderen Mädchen hier haben doch auch lange Haare«, wandte ich ein.
»Ja, aber du nicht.«
Sie schleppte mich zu einer furchteinflößenden Frau, die mir kurzerhand die Zöpfe abschnitt. Sie fielen direkt auf meinen Schoß, schwer, geradezu lebendig. Wenn Shin mich gesehen hätte, er hätte sich kaputtgelacht. Ich saß mit gebeugtem Kopf da, während die Schere an meinem bloßliegenden Nacken entlangklapperte, und betete, dass mein Hals heil blieb. Vorne schnitt die Frau mir zum Schluss einen Pony, und als ich aufblickte, lächelte sie.
»Hübsch«, sagte sie. »Genau wie Louise Brooks.«
Wer, bitte, war Louise Brooks? Anscheinend ein wahnsinnig beliebter Stummfilmstar. Ich wurde vor Verlegenheit knallrot. Es fiel mir schwer, mich an diese neue Mode zu gewöhnen, bei der flachbrüstige, jungenhafte Mädchen wie ich plötzlich als hübsch galten. In Malaya, am Rande des Britischen Weltreichs, war man in Sachen Stil und Eleganz natürlich eher rückständig. Die britischen Ladys, die zu uns kamen, jammerten immer darüber, dass wir der Londoner Mode um ein Jahr hinterherhinkten. Kein Wunder also, dass die Welle der Begeisterung für Paartänze und Bubiköpfe, die anderswo längst zum Alltag gehörten, erst spät nach Ipoh schwappte. Ich strich über meinen kurz geschorenen Nacken. Jetzt sah ich erst recht wie ein Junge aus.
Die Madame verschränkte bedächtig die Arme über dem imposanten Busen und sagte: »Du brauchst einen Namen. Am besten einen, den man in England kennt. Wir nennen dich Louise.«
Und so kam es, dass ich an jenem Nachmittag des 3. Juni als Louise den Tango tanzte. Obwohl der Aktienmarkt schwächelte, befand sich unsere geschäftige kleine Stadt Ipoh, die ihren Reichtum den Zinn- und Kautschukexporten verdankte, in einem Taumel aufschießender Neubauten. Es regnete ungewöhnlich stark für die Tageszeit; ein wahrer Wolkenbruch ging nieder. Der Himmel verfärbte sich eisengrau, und man musste das elektrische Licht einschalten, sehr zum Unmut der Tanzhallenbetreiber. Der Regen trommelte laut auf das Blechdach, während der Orchesterleiter, ein kleiner Goaner mit dünnem Oberlippenbärtchen, sein Bestes gab, ihn zu übertönen.
Tänze aus dem Westen waren der letzte Schrei, weshalb am Rande jeder Stadt öffentliche Tanzhallen wie Pilze aus dem Boden schossen. Manche, etwa das neu errichtete Celestial Hotel, waren geradezu pompös, andere dagegen nichts weiter als große, vom Tropenwind durchwehte Bretterschuppen. Wir Profi-Tänzerinnen wurden in einem Pferch gehalten, als wären wir Hühner oder Schafe. Der Pferch bestand aus einer Stuhlreihe, die durch ein Band abgetrennt war. Auf den Stühlen saßen lauter hübsche Mädchen, alle mit einer an die Brust gehefteten nummerierten Papierrosette. Aufpasser sorgten dafür, dass uns nur Männer ansprachen, die ein Tanz-Billett hatten, doch einige versuchten es auch ohne.
Ich war ziemlich überrascht, als mich jemand zum Tango aufforderte. Tango hatte ich nämlich nie richtig gelernt. In Miss Lims Tanzschule, wo ich zum Trost dafür, dass mein Stiefvater mich gegen meinen Willen von der Schule genommen hatte, Walzer und sogar den geradezu verwegenen Foxtrott hatte lernen dürfen, war Tango nicht unterrichtet worden. Er galt als viel zu verrucht, obwohl wir alle gesehen hatten, wie Rudolph Valentino ihn in den Schwarz-Weiß-Filmen tanzte.
»Du musst Tango lernen«, sagte meine Freundin Hui, als ich im May Flower anfing.
»Du siehst wie ein modernes Mädchen aus«, meinte sie. »Du wirst bestimmt oft aufgefordert.«
Die gute Hui. Sie brachte mir den Tango schließlich selbst bei. Sie gab sich wirklich Mühe, doch wir torkelten herum wie zwei Betrunkene.
»Vielleicht fragt dich ja doch keiner«, sagte sie hoffnungsvoll, als wir bei einer ruckartigen Drehung beinahe gestürzt wären.
Natürlich kam es anders. Ich merkte schnell, dass die Typen, die Tango tanzen wollten, meistens zur Sorte buaya gehörten, und der Mann, der mich an jenem unglückseligen vierundvierzigsten Tag aufforderte, bildete keine Ausnahme.
Er sagte, er sei Händler, spezialisiert auf Schul- und Bürobedarf. Sofort stieg mir der holzige Pappgeruch meiner Rechenhefte in die Nase. Ich war sehr gern zur Schule gegangen, aber diese Tür war mir nun verschlossen. Stattdessen musste ich das Geschwätz dieses Händlers ertragen, der mir ständig auf die Füße trat und mir dabei erzählte, dass das Geschäft mit Schreibwaren zwar stabil sei, er aber hochfliegende Pläne habe.
»Du hast schöne Haut.« Sein Atem roch nach knoblauchtriefendem hainanesischem Hühnchenreis. Da ich nicht wusste, was ich sagen sollte, konzentrierte ich mich auf meine armen geschundenen Füße. Es war hoffnungslos. Der Händler glaubte offenbar, Tango bestünde aus jähen, möglichst dramatisch aussehenden Verrenkungen.
»Früher habe ich Kosmetikartikel verkauft.« Wieder kam er mir viel zu nah. »Mit der Haut von Frauen kenne ich mich also aus.«
Ich lehnte mich zurück, um den Abstand zwischen uns zu vergrößern. Doch bei der nächsten Drehung schleuderte er mich so heftig herum, dass ich mit ihm zusammenstieß. Das hatte er natürlich absichtlich gemacht, aber seine Hand wanderte unwillkürlich zu seiner Tasche, als hätte er Angst, dass etwas herausgefallen wäre.
»Wusstest du«, sagte er lächelnd, »dass es eine Methode gibt, die Frauen zu ewiger Jugend und Schönheit verhilft? Sie funktioniert mit Nadeln.«
»Nadeln?«, fragte ich neugierig, obwohl dies zweifellos die dümmste Anmache war, die ich je gehört hatte.
»Im Westen von Java gibt es Frauen, die sich hauchdünne Goldnadeln ins Gesicht stechen, so tief, bis sie nicht mehr zu sehen sind. Diese magische Methode hält das Altern auf. Einmal bin ich einer bildschönen Witwe begegnet, die schon fünf Ehemänner überlebt hatte. Zwanzig Nadeln steckten in ihrem Gesicht. Sie sagte allerdings, die Nadeln müssten nach ihrem Tod unbedingt wieder entfernt werden.«
»Warum?«
»Weil der Körper unversehrt sein muss, wenn man stirbt. Alles, was hinzugefügt wurde, muss entfernt, und alles, was fehlt, muss wiederbeschafft werden - sonst kann die Seele keine Ruhe finden.« Er weidete sich an meinem Staunen und fuhr fort, mir den Rest seiner Reise in aller Ausführlichkeit zu erzählen.
Manche Männer waren sehr redselig, andere tanzten lieber schweigend, während sie einen mit ihren Schweißpfoten umklammerten. Die Schwätzer waren mir lieber, denn sie waren in ihre eigene Welt vertieft und schnüffelten nicht in meiner herum.
Wenn meine Familie...
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