Schweitzer Fachinformationen
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Als das Expeditionskorps am 9. Juli 1830 Algier betrat, so hieß es, wurden die Soldaten angesichts der schlechten hygienischen Bedingungen in dieser bereits von Pest, Cholera und Typhus dezimierten Stadt vom Grauen gepackt. Die Straßen waren übersät mit Unrat. Es wimmelte nur so von Ratten und Kakerlaken. Die Ruhr, aber auch die Syphilis und die von Reisenden eingeschleppten Blattern waren endemisch geworden, hatten die Körper der Elenden befallen, die Knochen und die Haut der Kinder zerfressen. Wie früher auf dem französischen Land aßen die Menschen alle aus ein und demselben Napf, zogen ihre Kleider erst aus, wenn sie ihnen in Fetzen vom Leib fielen, und legten sie nicht einmal zum Schlafen ab. Es hieß, dass die uralten Hospitäler, die einst vom Trinitarierorden und den Lazaristen des Hl. Vincent de Paul gegründet wurden, verschwunden waren. Dass es nur noch in einigen Moscheen Sterbezimmer gab, in denen die Waisen, die Witwen, die Bettler und die Irren auf dem Boden ihr Leben aushauchten. Es hieß, dass in der Woche nach ihrer Ankunft in Algier fast zehntausend Menschen hospitalisiert werden mussten und dass es, als die Truppen die Sümpfe der Mitidja-Ebene und die von den Türken verwüstete Stadt Bône durchquerten, zum Massensterben kam. Das Sumpffieber ließ die Männer wie die Fliegen verrecken. Es hieß, es habe so viele Tote gegeben, dass man in Paris schon überlegte, alles abzublasen, aber im letzten Moment wieder davon Abstand nahm, denn man dachte, dass der wahre Feind in Afrika die Krankheit war, das wahre Schlachtfeld das Krankenhaus, und dann sagten sie, sagten es immer wieder, würden es hundertfünfzig Jahre später immer noch sagen, dass man anständigerweise diese armen Algerier auf ihrem armen Land nicht alle so schlecht versorgt in einem solchen Elend lassen könnte, und daher wurden auf Befehl von Charles X., als noch immer die vom Fieber geschwächten Soldaten wie Skelette durch den Sumpf zogen, in Hafennähe Lazarette errichtet, wo man die Passagiere und Schiffsladungen unter Quarantäne stellte, und überall, in jeder halbwegs wichtigen Stadt, richtete die Julimonarchie auf Kosten Frankreichs von der Armee verwaltete Gesundheitsläden ein, um notfalls auch mit Gewalt für Desinfektion und Reinigung zu sorgen.
Es hieß, Arzt sei ein sehr schöner Beruf, es gäbe keinen schöneren auf der Welt, und Ärzte hätten dieses Land gerettet, ohne Mühen und Plagen zu scheuen. Um sich selbst noch mehr zu überzeugen, erzählten sie immer wieder die Geschichte von François Clément Maillot, der aufgrund seiner Erfahrungen mit dem Wechselfieber in Korsika plötzlich die Eingebung hatte, die Malaria sei auch an dem Fieber in Algerien schuld, und der gegen den Rat aller anderen die Verabreichung von Chininsulfat in hohen Dosen zu verschreiben begann, so dass binnen weniger Monate die Todesfallrate wie durch ein Wunder sank. Noch dazu erzählten sie, zwei Generationen später habe Alphonse Laveran, als er gerade unterm Mikroskop das Blut eines in der Kaserne von Bardo festgehaltenen Kavalleristen untersuchte, bei den weißen Blutkörperchen dieses Soldaten sphärische Teilchen entdeckt, die von seltsamen beweglichen Elementen umgeben waren, und begriffen, dass weder Luft noch Wasser, sondern die Stechmücke der große Verursacher des Sumpffiebers war. Und alle sagten sich, berauscht von dem Gefühl, sich der Sorge um den Körper angenommen zu haben, so wie andere, als sie diese Länder für Frankreich in Besitz nahmen, für die Seelsorge zuständig wurden, die Medizin habe ihren Teil geleistet, indem sie sich dafür einsetzte, im Kampf gegen die Stechmücken die Sümpfe trockenzulegen und die Mitidja-Ebene in Ackerbauland umzuwandeln, denn Ackerbau bedeutet Entwässerung, Bewässerung und damit Sanierung, und daher wurden die fruchtbarsten Landflächen der Algerier konfisziert und die Bauern vertrieben, um dieses erniedrigte Volk seiner Finsternis zu entreißen, denn, so setzten sie hinzu, dank der Kolonialärzte bot man nun der gesamten Bevölkerung Behandlungsmöglichkeiten an, von denen sie sich in früheren Zeiten nicht einmal hätten träumen lassen, von Algier bis hin zum einfachsten Dorf, und so konnten immer mehr muslimische Kinder in ihren ersten Lebensjahren ohne Angst vor dem Tod aufwachsen, und Algerien, dieser stinkende und von Übeln befallene Kadaver, den man verzweifelt wieder zum Leben erwecken wollte, verwandelte sich in ein Paradies.
Schließlich erzählte man mir, dass von all diesen Ärzten, Arztsöhnen, Arztfrauen und Arzttöchtern eine Familie, die nicht zu den französischen Kolonisten zählte, sondern schon seit der Vertreibung aus Spanien im 15. Jahrhundert in diesem Land lebte, in Algerien und später dann in Frankreich so berühmt wurde, dass es in vielen Hospitälern heute noch stets irgendeinen alten Professor gibt, der bei der Erwähnung ihres Namens einen wehmütigen Seufzer ausstößt. Man erzählte sich, ohne das gewaltige Erbe meiner Großmutter Louise, deren Vater erschöpft aus dem Arbeitslager im Süden Algeriens heimgekehrt war, in das Vichy ihn hatte deportieren lassen, weil er Jude war, hätte mein Großvater Joseph 1947 niemals einer alten Dame diese zwischen Palmen und Zypressen versteckte Klinik abkaufen können. Es ging das Gerücht, diese Erbschaft, die Louise in die Hände gefallen war, sei wirklich immens, gigantisch, monströs gewesen, es habe eine Kolonnadenvilla gegeben, Gutshöfe, Tausende Hektar Weizenfelder, Weinberge, Orangenhaine, große Ziegenherden, Schafherden und sogar Pferde, arabische Vollblüter. Man wusste nicht so recht, wie Louises Vater zu Reichtum gekommen war, woher dieses Teufelsgeld stammte, vielleicht von seinen großen Ziegelfabriken und seiner starken Beteiligung beim Bau von Kasernen, Häusern, Plätzen, Verwaltungsgebäuden, Schulen des kolonialen Bausektors, man wusste im Grunde nichts Genaues, als hätten diese gewaltigen Geldsummen die Macht erlangt, ihre Herkunft zu verschleiern. Einige behaupteten, die Heirat von Joseph und Louise sei arrangiert gewesen, wie damals so oft in dieser noch traditionellen jüdischen Welt. Andere sagten, an einem Abend in Sommer 1939, an dem er Bereitschaftsdienst hatte, sei Joseph in eine legendäre Luxusvilla oben auf dem Hügel von Algier gerufen worden, an das Bett eines dicken Mannes mit geschwollenen Augen und dunklen Tränensäcken, man habe absichtlich ihn und nicht den Arzt aus dem Viertel gerufen, vielleicht weil es sich um eine dieser peinlichen Krankheiten handelte, von denen weder die Nachbarn noch die Freunde etwas wissen durften. Vielleicht wusste man, dass er ein so guter Arzt war, von allen verehrt und so gelehrt, dass man nur ihn und keinen anderen holen durfte. Tatsächlich rettete er ihm das Leben, woraufhin der Besitzer ihm die älteste Tochter zur Frau gab. Sie behaupteten, Louise habe Joseph mit Kraft und Stolz geliebt, so wie man jemanden liebt, von dem man von vornherein weiß, dass er der Einzige sein wird, dass Joseph aber Louise nur mit ihrem Geld liebte, denn ohne das ganze Geld wäre Louise nicht Louise gewesen, und dass er seine Zeit damit zubrachte, sie mit Frauen zu betrügen, die keines hatten, doch nachdem er ganze Nächte verschwand, kehrte er immer wieder zu ihr zurück, sie empfing ihn mit einem ironischen Lächeln, und er stieg ins Ehebett, sie stritten sich und sie versöhnten sich brav, sie machte die Beine breit und alles begann von vorn, unter der Pracht von Rosen und Jasmin, mit ihren beiden Kindern, und nichts änderte sich, und alles blieb immerdar gleich in ihrer schönen Klinik, in der diese Großbürger, blind für alles, was nichts mit Körpern und Schmerzen zu tun hatte, mit absoluter Hingabe Patienten aller religiösen Überzeugungen und aus allen sozialen Schichten behandelten.
In der Zeitung hieß es, dass all diese Ärzte aus Algerien, diese Professoren, die so viele Schüler geprägt, so vielen Kindern auf die Welt geholfen, so viele Sterbende begleitet hatten, nach dem Exil auf Stellen in der Provinz versetzt wurden, dass Paris ihnen systematisch verwehrt blieb: Man dürfe doch nicht, so lautete in eigenwilliger Rhetorik die Erklärung eines Ministers, »eine Katastrophe mittels einer Beförderung sanktionieren«. Weiter schrieb man, damals habe ein gewisser Joseph C. sich geweigert, sich von Menschen, welche die Pieds-noirs am liebsten übers Meer schicken würden, vorschreiben zu lassen, wie er sich zu verhalten habe, und gegenüber von einem Zoo ein altes Gebäude gekauft, das niemand mehr haben wollte, mit dem Gedanken, es zur exakten Kopie seiner Klinik in Algier, seiner verlorenen Klinik, umbauen zu lassen. Man sagte, er habe mit großem Geschick das Vertrauen der chirurgischen Koryphäen gewonnen; nun musste er sich in Frankreich nur noch das Vertrauen der Kreditanstalten sichern, denn er war mittlerweile ruiniert. Eine sehr berühmte Bankiersfamilie hatte ihm dabei geholfen. Doch um sein Vorhaben zu verwirklichen, musste er noch dafür sorgen, dass ihm sämtliche Ärzte, die Paris nicht haben wollte, erfolgreich ins Netz gingen. Ein Parameter hatte sich damals zu seinen Gunsten ausgewirkt. In den 1960er-Jahren waren die öffentlichen Krankenhäuser nicht länger in der Lage, alle jungen Mediziner, die eine Krankenhauskarriere anstrebten, aufzunehmen. Dennoch hatten genau diese Krankenhäuser, sofern der Nepotismus und die Arroganz der Professoren nicht den Juden oder gar den Protestanten den Weg versperrten, alle Mühe, den immer größer werdenden Bedarf an Betten zu stillen oder sich zu modernisieren. In hässlichen und düsteren Gemeinschaftssälen stapelte man Dutzende von Kranken, und immer mehr Mediziner, ob nun stationär oder nicht, hatten, sofern sie nur ein wenig geistig offen waren, angefangen, mit den Privatkliniken und ihren komfortablen Gehältern zu liebäugeln, zumal mehrere Regierungsmitglieder regelmäßig die...
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