Schweitzer Fachinformationen
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Das E-Book basiert auf: 1. Auflage 2020, Dumont Reiseverlag
Die Freiheit auf Schienen genießen - dafür begibt sich der britische Autor Tom Chesshyre auf eine abenteuerliche Zugreise quer durch Europa: Von London über die Ukraine bis nach Venedig. Das eigentliche Reiseziel: Europa und seine Bewohner kennenlernen. Und herauszufinden, was sie in politisch und gesellschaftlich aufgewühlten Zeiten wie diesen verbindet. Tom Chesshyre reist ohne genauen Plan, eben dorthin, wohin die Schienen führen, und freundet sich unterwegs mit seinen Mitreisenden an - und natürlich mit dem ein oder anderen Schaffner. Ein persönlicher Reisebericht, der zeigt, was Europa zusammenhält. Und eine leidenschaftliche Einladung, sich mit dem nächsten Zug selbst auf den Weg zu machen.
Tipp: Setzen Sie Ihre persönlichen Lesezeichen an den interessanten Stellen und machen Sie sich Notizen# und durchsuchen Sie das E-Book mit der praktischen Volltextsuche!
VORWORT
KAPITEL 1 VON MORTLAKE IN LONDON NACH CALAIS IN FRANKREICH Der Kontinent ruft
KAPITEL 2 VON CALAIS NACH BRÜGGE » Zer is no train today. «
KAPITEL 3 VON BRÜGGE ÜBER MAASTRICHT NACH BONN » Wir müssen Ihnen eine Krawatte schicken! «
KAPITEL 4 VON BONN ÜBER LEIPZIG NACH WROCLAW » Earl Grey oder English Breakfast? «
KAPITEL 5 VON WROCLAW NACH LWIW » Ich meine, zum Teufel! Es ist wirklich ein seltsames System. «
KAPITEL 6 VON LWIW NACH ODESSA UND ZURÜCK Schlafwagen und wunderbare Menschen
KAPITEL 7 VON LWIW ÜBER BUDAPEST NACH BELGRAD Zweifelhafte Politik und ein paar Drinks
KAPITEL 8 VON BELGRAD ÜBER ZAGREB IN KROATIEN NACH LJUBLJANA IN SLOWENIEN »Gott sei Dank sieht man uns nicht an, was wir durchgemacht haben.«
KAPITEL 9 VON LJUBLJANA ÜBER INNSBRUCK NACH VERONA Gulasch, Bahnhöfe und Feindschaften
KAPITEL 10 VON VERONA NACH VENEDIG Che Bella Corsa! (Was für eine Fahrt!)
NACHWORT DANK BENUTZTE ZÜGE ÜBERNACHTUNGEN NÜTZLICHE WEBSITES THE TOP OF EUROPE: ANMERKUNGEN ZU SCHWEIZER ZÜGEN BIBLIOGRAPHIE
KAPITEL 2
VON CALAIS NACH BRÜGGE
>>Zer is no train today<<
C alais ist 33 Kilometer von Großbritannien entfernt, und es ist ein seltsamer Ort mit einer faszinierenden Geschichte. Traurige Bekanntheit erlangte Calais wegen einer Dschungel genannten Zeltstadt (nicht weit vom Fährhafen) mit Asylsuchenden, die hofften, nach Großbritannien zu kommen. Nach Beschwerden des Vereinigten Königreichs, dass Frankreich nicht genug dagegen unternehme, dass sich Menschen in Autos und Lastwagen auf den Zügen durch den Eurotunnel verstecken, wurde das Camp im Oktober 2016 geräumt. Präsident Macron hat allen potentiellen Flüchtlingen und Migranten erklärt, dass Nordfrankreich eine »Sackgasse« sei und dass der Versuch, den Kanal zu überqueren, zwecklos wäre. Trotzdem wurden im Jahr vor meiner Reise über 115.000 solcher Versuche unternommen - und das ist nur die Zahl derer, die festgenommen wurden.
Calais gehörte über zweihundert Jahre zu Großbritannien; in der Vergangenheit hätten Asylsuchende ihr Ziel also einfach erreicht, indem sie hier angekommen wären. Von 1347, als Edward III. von England Calais nach der Schlacht bei Crécy annektierte, bis 1558, als die Franzosen unter Henry II. es zurückgewannen, war Calais ein wichtiger englischer Hafen. Auf dem Höhepunkt stammten angeblich ein Drittel der Einnahmen der englischen Regierung aus Zöllen des Hafens, wobei der Handel mit Wolle die bedeutendste Einkommensquelle war. Zu der Zeit war Calais als »hellster Juwel in der englischen Krone« bekannt. Es war auch ein offizieller Parlamentsbezirk. Der allen Kindern in England bekannte Dick Whittington war eine Zeit lang Bürgermeister von Calais (1407, als er ebenfalls Bürgermeister von London war). Zum Verlust des Hafens gibt es die berühmten Worte Mary Tudors: »Wenn ich tot bin und geöffnet werde, wird man Calais in meinem Herzen finden.«
Eine wichtige Rolle spielte der Hafen im Zweiten Weltkrieg. Während der Belagerung von Calais im Mai 1940 hielten mehr als 3000 britische Soldaten neben 800 französischen sechs Tage deutschem Sperrfeuer stand. Dieser tapfere Widerstand lenkte die Nazi-Divisionen von Dünkirchen ab und trug zum Gelingen der Evakuierung bei.
Julius Caesar segelte von Calais aus nach Britannien. Napoleon erwog, von Calais aus in England einzufallen. In Calais war viel los.
Première Classe im Wolkenbruch
ANKUNFT IN CALAIS
Vom Fährhafen zum Stadtzentrum von Calais sind es fünf Kilometer zu laufen, entlang einer langen unbenannten Straße, gesäumt von Lagerhäusern und weiteren hohen Zäunen mit Stacheldraht. Ich bin der einzige Passagier, der diesen Weg in die Stadt gewählt hat. Die anderen Fußgänger haben anscheinend Taxen oder Busse genommen. Vielleicht weil es schüttet. Ich habe meinen Pac-a-Mac-Regenmantel angezogen - sehe aus wie ein wahrer Eisenbahnfan - und patsche durch Pfützen einer Straße folgend, die zum zentralen Kirchturm führt, wie ich annehme, der, den ich vom Wasser aus gesehen hatte.
In diesem tropfnassen Zustand steuere ich das Hotel Première Classe Calais Centre-Gare an, direkt gegenüber dem Bahnhof der Stadt. Ich werde während der Reise immer so nah wie möglich an Bahnhöfen übernachten, um die Weiterfahrt am nächsten Tag so bequem wie möglich zu machen. Ich habe auch beschlossen, billig zu übernachten, wenn auch nicht spottbillig. Mein Budget beträgt 40 bis 50 Euro pro Nacht. Das Première Classe Calais Centre-Gare erfüllt alle Kriterien.
Nach einer Kurve führt die lange Straße schließlich auf die »Kirche« zu. Nach einem Sexshop, der »Gadgets und Filme« anbietet, gelange ich zu dem Gebäude und stelle fest, dass es kein Gotteshaus ist. Es ist das prunkvolle HÔtel de Ville, gebaut in überladenem flämischem Renaissancestil mit einem raketenförmigen Glockenturm, der 75 Meter hoch ist. Das steht auf einer kleinen Informationstafel. Das Gebäude stammt aus dem Jahr 1925 und wurde im Zweiten Weltkrieg beschädigt, hat aber erstaunlicherweise die schlimmsten Bombardierungen überstanden. Fast das ganze Stadtzentrum wurde zerstört.
Hotel Première Classe ist nur um die Ecke, neben Le Klub und Les Pirates Bar.
Die ersten Eindrücke sind nicht die besten. Mit der grauen Betonfassade und einem Vordereingang, der aussieht, als wäre er dauerhaft zubetoniert, sieht es aus wie ein kleines Gefängnis. Man kommt durch einen Seiteneingang neben einem Parkplatz hinein. Bald bin ich in einem winzigen rot-weißen Zimmer mit einem Bett mit einer beigen Decke und einem Fernsehgerät von der Größe einer Müslischachtel auf einem hoch angebrachten Regal. Letztlich gar nicht so schlecht und hinreichend bequem. Ich blicke durch ein schmutziges Fenster. Eine Gruppe von Personen geht verstohlen vorbei; sicher Asylsuchende, die überlegen, wie sie über den Kanal kommen, aber vielleicht ziehe ich voreilige Schlüsse. Mein Zimmer liegt erfreulicherweise direkt gegenüber dem Bahnhof und dem Buffet de la Gare.
Es hat aufgehört zu regnen. Ich mache einen kleinen Stadtbummel und finde mich bald im Parc Richelieu wieder, wo ich mir eine Statue von General de Gaulle und Winston Churchill ansehe, die 2017 errichtet wurden. Churchill raucht eine Zigarre und stützt sich auf einen Stock. De Gaulle, der ungefähr 30 Zentimeter größer ist, trägt einen langen durchgeknöpften Mackintosh und hat einen entschlossenen Gesichtsausdruck. Ein Stück weiter in dem kleinen Park komme ich zu einer Gedenktafel, die an Emma, Lady Hamilton, erinnert. Die Geliebte Lord Nelsons starb mit nur 49 Jahren verschuldet und in Armut in Calais.
Calais hat viele Kneipen für die, die auf Sauftour sind, obwohl ich nicht viele Briten sehe. L'Hovercraft Bar, Le Buzz und Le London Bridge Pub am Hauptplatz scheinen die beliebtesten zu sein. Dort gibt es eine weitere Statue von de Gaulle, diesmal mit seiner Frau, die aus Calais stammte.
Ich überquere den Platz und gehe am Hafen entlang zum Fort Risban, ursprünglich von den Engländern gebaut, nachdem sie Calais im 14. Jahrhundert eingenommen hatten. Regen beginnt wieder niederzuprasseln, und ich flüchte in die Brasserie de la Mer, wo ich eine köstliche heiße Bouillabaisse esse und den Hits von Stevie Wonder aus einer Stereoanlage lausche, bevor ich in mein Zimmer zurückkehre, um Mord im Orient-Express zu lesen. Poirot will gerade »einen Schlafwagenplatz im Zug Istanbul-Calais« beziehen. Ich befinde mich also am Reiseziel des Detektivs mit dem »nach oben gezwirbelten Schnauzbart«.
Wieder im Hotel, habe ich - obwohl gesättigt durch die exzellente Bouillabaisse - Mühe einzuschlafen.
Durch die dünnen Wände meines Zimmers höre ich, wie sich ein beunruhigendes häusliches Drama entwickelt.
»Warum hast du so einen **** geredet?«, sagt der Mann in Cockney-Englisch.
Die Antwort der Frau, auch in Cockney-Englisch: »Nein, nein, nein.«
Mann: »Wir sollten den ganzen **** rausbringen und einfach wegschmeißen.«
Frau: »Nein, nein, nein.«
Mann: »Was hab ich denn falsch gemacht?«
Unverständliche Antwort.
Mann: »So wie du redest, hab ich das Gefühl, dass alles den Bach runtergeht.«
Nichts gegen Mord im Orient-Express, aber eine Weile mache ich mir Sorgen über einen Mord im Hotel Première Classe Calais Centre-Gare. Schließlich schlafe ich ein, frage mich aber noch: Warum fahren Menschen in Urlaub, wenn sie sich nur streiten? Warum jetzt? Und ich muss etwas herzlos zugeben: Können sie es nicht woanders machen?
»This polis cracked my tooth« (»Der Polizist hat mir den Zahn eingeschlagen.«)
EIN MORGEN IN CALAIS
Am nächsten Morgen treffe ich die Eritreer, aber vorher gehe ich zum Bahnhof. Ich will heute nach Dünkirchen fahren, denn ich war noch nie dort und würde gerne die berühmten Strände sehen, wo Großbritannien - und Europa - vor den Nazis gerettet wurde. Aber es gibt ein Problem.
»Zer is no train today« (»heute fährt kein Zug«), antwortet der fast kahle Bahnhofsmitarbeiter. Er hat flaumige Haarbüschel, haselnussbraune Augen, eine Brille und eine undurchschaubare Art.
»Was meinen Sie?«, frage ich.
»Zer is a strike« (»es wird gestreikt«), antwortet er. »Sie können den Bus um halb eins nach Dünkirchen nehmen.«
»Aber ich will nicht Bus fahren.«
»Zer is no train today«, wiederholt er.
Verdammt. Ich hätte das prüfen sollen, bevor ich losgefahren bin. Die Leute bei der französischen Bahn scheinen zu streiken. Natürlich! Toller Start. Ich gehe nach draußen und überlege, was ich als Nächstes tun soll. Der Bahnmitarbeiter hat gesagt, dass auch morgen noch gestreikt wird. Ich sitze auf absehbare Zeit ohne Zug in Calais fest.
Zumindest scheint es so.
Ich gehe wieder in den Bahnhof und sehe mir die Abfahrtszeiten der Busse an. Da fällt mir auf, dass der um 15.39 Uhr nach Lille ein kleines Zugsymbol statt eines Bussymbols hat. Ich frage den Bahnmitarbeiter danach.
»Oui, es gibt einen Zug nach Lille«, räumt er ein.
Es ist der einzige Zug an dem Tag. Ein französischer Zugführer streikt anscheinend nicht. Très bien! Oder sogar magnifique!
Ich werde also nach Lille fahren.
Aber vorher gehe ich in die Gegend von Calais, die mal der Dschungel war. Mein Ziel ist die L'Auberge des Migrants. Obwohl der Dschungel offiziell geräumt wurde, befinden sich immer noch viele, die die Hoffnung haben, den Kanal überqueren zu können, in den Straßen von Calais.
Der Weg führt durch einen Vorort mit einem Fußballplatz und der Zentrale der...
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