KAPITEL 1
Ausflug
Ein frecher Sonnenstrahl stahl sich durch das Fenster eines schummrigen Schlafzimmers und ließ sich auf einem wackeligen Stapel Kinderbücher in der Ecke nieder. Dieses Zimmer war so klein, dass es schon mit den wenigen notwendigen Dingen sehr vollgestopft wirkte. Es war ein feuchter Wintertag. Kein Wunder also, dass sich an einer Seite der Decke ein paar Schimmelflecken gebildet hatten, die leicht muffig rochen. Auf dem Schreibtisch lagen Schulhefte für die Winterferien verstreut und daneben stand ein Wecker, der leise vor sich hin tickte. Aus dem halb offenen Kleiderschrank hingen ein paar Kleidungsstücke heraus, die nicht besonders ordentlich gefaltet waren. Dieses Schlafzimmer gehörte der dreizehnjährigen Kiki.
Kiki war eine Schülerin der sechsten Klasse der Gengu-Mittelschule in Meliaka. Außerdem war sie chaotisch, sehr verträumt und Expertin darin, Löcher in die Luft zu starren.
Ein halbes Jahr war es nun her, dass ein schwarzer Kater in ihr Leben getreten war. Von diesem Kater hatte sie die geheimnisvollste Kunst der Welt erlernt: die Traumkunst.
Seitdem hatte sich ihr Leben von Grund auf verändert. Sie, die bisher noch nie Freunde gehabt hatte, war jetzt mit Lilian befreundet. Lilian war aus einer anderen Stadt an Kikis Schule gewechselt, doch sie hatte auch ein Geheimnis, das sie nur mit Kiki teilte: Auch sie war eine Traumkünstlerin. Gemeinsam hatten die beiden das Bündnis der Zwillingssterne gegründet, um schöne Träume für die Menschen zu schaffen und Albträume zu vernichten.
In diesem Moment saß Kiki - blass, dünn, mit einem runden Gesicht, klugen Augen, einer Pilzkopffrisur und vielen Sommersprossen auf den Wangen - mit dem Kopf gegen die Wand gelehnt auf ihrem Bett. Um sie herum lagen bunte Wachsmalstifte verstreut. Eingerollt auf ihrem Schoß lag der schwarze Kater Bobbi, ihr Traumlotse, und döste friedlich schnarchend vor sich hin. Bobbi hatte nicht nur einen weißen Fleck in Form einer Fächermuschel auf der Stirn, er hatte auch die Fähigkeit, die Wünsche der Menschen in ihren Träumen zu wittern. Auf diese Weise führte er Kiki nachts durch die Traumwelt und half ihr dabei, Träume zu gestalten.
Kiki setzte sich auf und nahm einen Wachsmalstift in die Hand. Sie hielt den Stift an eine ihrer Zeichnungen: Es war ein Mädchen in einem Kleid, das sie gerade hellrosa ausmalte. Kiki war so konzentriert bei der Sache, dass sie sich dabei unbewusst mit der Zunge über die Lippen fuhr. Sie hatte dem Mädchen große Augen und hübsche Locken verpasst, in denen eine Schmetterlingsspange steckte. Daneben stand ein fröhlicher Junge in einem Basketball-Outfit und mit einem Basketball in den Händen. Diese beiden Zeichnungen stellten Kikis beste Freunde dar - Lilian und Elias. Als Hintergrund hatte Kiki bereits einen Sternenhimmel und das Meer gezeichnet sowie zwei ihrer Lieblingsfiguren, den Polarfuchs Dilah und den Affenkönig Sun Wukong.
Doch all das konnte an einer Tatsache nichts ändern: Zum ersten Mal in ihrem Leben empfand Kiki ihre eigenen Winterferien als stinklangweilig. Früher hatte sie ihre freie Zeit problemlos zu Hause verbracht, in die Luft gestarrt, vor sich hin gebrütet und hin und wieder in ihren Lieblingsbüchern geblättert. Aber in diesen Ferien war alles anders. Sie dachte oft an ihre Freunde und rechnete sich aus, wann sie die beiden wiedersehen würde. Ihr erging es wie einem Feinschmecker, der von einer köstlichen Speise probiert hat und diesen wunderbaren Geschmack nicht wieder vergessen kann.
In der Ecke ihres Betts lag eine hübsche Postkarte aus einem weit entfernten Land. Kikis zehn Finger reichten nicht aus, um zu zählen, wie oft sie diese Karte schon gelesen hatte. Auf der Vorderseite war das Bild einer malerischen Meereslandschaft zu sehen - blauer Himmel, strahlende Sonne und ein Sandstrand, Wellen und hohe Kokospalmen. Auf der Rückseite stand in Lilians geschwungener Schrift:
Liebe Kiki,
frohes neues Jahr! Ich vermisse dich sehr. Ich weiß gar nicht, ob es bereits Neujahr ist, wenn diese Postkarte bei dir ankommt. Aber ich hoffe ganz fest, dass du zu Hause einen angenehmen Jahreswechsel verbringst. Mir geht es hier gut. Meine Eltern haben sonst nie Zeit, mit mir Urlaub zu machen. Ich glaube, es tut uns ganz gut, jetzt endlich einmal richtig zu entspannen. Wie geht es mit deinen Hausaufgaben voran? Ich kann mich hier gar nicht richtig darauf konzentrieren. Viel Zeit bleibt mir nicht mehr dafür, hoffentlich werde ich bald damit fertig.
Ich freue mich schon darauf, dich wiederzusehen! Dann unternehmen wir etwas. Übrigens habe ich auch schon Geschenke für dich und Elias!
Lilian
Lilian machte mit ihrer Familie den ganzen Winter über Urlaub auf einer Insel im Süden. Und Elias war zu seiner Familie nach Riverton gefahren. Nur Kiki war zu Hause geblieben . Zum Glück hatte sie noch Bobbi, der ihr Gesellschaft leistete. Mit ihm fühlte sie sich weniger einsam.
Seit Kiki mit Lilian gegen Selina gekämpft und sie damit die Pläne des Schattenkaisers durchkreuzt hatten, ging es im Traumreich eindeutig friedlicher zu. Die Albschatten verhielten sich gesitteter und auch die Albträume waren weniger geworden. Bobbi hatte dem Traumältesten alles berichtet, was sie herausgefunden hatten, und der Traumälteste hatte Kiki und Lilian dafür großzügig belohnt. Bei dem Gedanken an ihr großes gemeinsames Abenteuer mit ihrer Freundin fiel Kiki sofort wieder ihr letzter Besuch bei dem Traumältesten ein. Der Hüter der Träume hielt durch seine Haare eine Verbindung mit allen Menschen dieser Welt aufrecht. Er selbst saß seit Jahrtausenden an derselben Stelle in der Mitte eines Sees. Wie manch andere Kinder mit einer besonders starken Vorstellungskraft hatte der Traumälteste auch Kiki zu einer Traumkünstlerin ernannt. Doch im Gegensatz zu vielen anderen jungen Traumkünstlern hatte er Kiki eine besondere Aufgabe übertragen: die Bedrohung durch die Albschatten im Auge zu behalten. Denn dieses Schattenheer, das die Wünsche der Menschen in Albträume verwandelte, hatte schon einmal einen heftigen Kampf gegen die Traumkünstler geführt. Und die Gefahr, die daraus entstand, war noch lange nicht für immer gebannt.
Kikis Gedanken wanderten allmählich wieder zurück ins Hier und Jetzt. Bei den Abschlussprüfungen vor den Winterferien hatte Lilian als Klassenbeste abgeschnitten. So etwas überraschte eigentlich niemanden mehr - niemanden, bis auf Ruben, den sensiblen Bücherwurm und Musterschüler. Der war bei der Verkündung der Ergebnisse beinahe in Ohnmacht gefallen. Natürlich war es schwer für Ruben, sich auf diese neue Situation einzustellen, denn bevor Lilian in die Klasse gekommen war, war er ausnahmslos immer der Beste gewesen. Lilian war es auch zu verdanken, dass sich Kikis Schulnoten in allen Fächern stetig verbesserten. Nur in Mathematik war davon nicht viel zu bemerken, da kam sie mit viel Mühe gerade noch so durch. Ihr Mathelehrer, Herr Yama, fühlte sich in seinen Bedenken Kiki gegenüber dadurch nur bestärkt. Doch was ihren Lehrer betraf, gab Kiki ihre Hoffnung noch nicht ganz auf. Menschen konnten sich ändern, das hatte sie schließlich in letzter Zeit aus nächster Nähe beobachtet: bei ihrem Vater Miro. Der hatte nach dem Tod ihrer Mutter eine Zeit lang getrunken und sich kaum um Kiki gekümmert. Erst als Kiki in einen tiefen Schlaf gefallen war, aus dem sie ganze drei Tage nicht erwachte, hatte das in seinem Herzen etwas wiedererweckt. In der Fabrik leistete er jetzt hervorragende Arbeit, war fleißig und schob oft Überstunden. Zum Jahresende hatte er von seinem Betriebsleiter sogar eine besondere Belobigung erhalten. Und er hatte tatsächlich geschafft, was zuvor niemand für möglich gehalten hätte: Er hatte aufgehört zu trinken. Vor den Neujahrsfeiertagen war Miro mit seiner Tochter shoppen gegangen und hatte sie von Kopf bis Fuß neu eingekleidet. Darüber hatte sich Kiki besonders gefreut.
Wenn ihr Vater wieder Überstunden machte, war Kiki in den letzten Wochen oft allein zu Hause. Meistens arbeitete sie dann gelangweilt an den Aufgaben, die sie die Ferien über aufbekommen hatten. Mühsamer als ein Kampf gegen die Albschatten waren diese Hausaufgaben! Sie sehnte sich immer stärker nach dem Ende der Ferien. Sollte die Schule ruhig anfangen! Dann sah sie wenigstens Lilian und Elias wieder. Sogar ihre Lehrer und ihre anderen Mitschüler fehlten Kiki ein bisschen, obwohl sie sich darüber selbst am meisten wunderte. So verflogen die Tage. Wenn Kiki nicht über ihren Hausaufgaben brütete, probierte sie neue Rezepte aus, räumte ein bisschen auf und half bei der Hausarbeit. Manchmal kämmte sie Bobbi aus Langeweile sogar das Fell. Doch irgendwann war es endlich so weit: Die zweite Hälfte des Schuljahrs begann.
»Zeit zum Aufstehen, Kiki«, rief ihr Vater und steckte den Kopf zur Tür herein. »Ich gehe jetzt zur Arbeit, dein Frühstück steht in der Küche.«
»Okay .«, murmelte Kiki im Halbschlaf unter ihrer Decke hervor.
»Heute ist der erste Schultag nach den Ferien, komm nicht zu spät.«
»Oh ja .«, erwiderte Kiki verschlafen.
Drrrring .
Der Wecker auf ihrem kleinen Schreibtisch klingelte ein zweites Mal und Kiki verkroch sich tiefer unter ihre Decke. Widerwillig stopfte sie sich die Deckenzipfel in die Ohren und schloss mit einem zufriedenen Seufzen die Augen.
Miiiaauuu! Ein schrilles Maunzen ließ sie auffahren. Bobbi saß auf dem Schreibtisch, sah sie streng an und deutete mit der Pfote auf den Wecker.
»Oh nein, ich komme schon wieder zu spät!« Kiki sah auf den Wecker. In einer halben Stunde begann der Unterricht.
»Miau!«, maunzte Bobbi vorwurfsvoll.
Kiki sprang aus dem Bett, schlüpfte hastig...