Kapitel 1
»Ausgezeichnet«, sagte Begonia, als wir das Klassenzimmer der Akademie betraten. »Heute gibt's eine Vertretung.«
Ginger stand vorn im Klassenzimmer, ein Auge auf die Uhr gerichtet. »Nehmt Platz, Hexen, und dann fangen wir an. Lady Weatherby und Professor Holmes verspäten sich wegen eines Treffens des Hexenzirkels, deshalb haben sie mich gebeten, heute euren Unterricht zu übernehmen.«
»Müssen wir uns an den normalen Unterrichtsplan halten?«, fragte Laurel.
Ginger warf sich ihr rotes Haar über die Schulter. »Nur weil ich die Vertretung bin, heißt das nicht, dass wir den Lehrplan über Bord werfen können.«
»Können wir ihn wenigstens heute ändern?«, fragte Sophie. »Etwas Nützliches mit etwas Lustigem kombinieren?«
Ginger schien bereit, die Idee zu prüfen. »Was schwebt euch vor?«
»Wir wollen lernen zu kämpfen wie die Amazonen bei Wonder Woman«, rief Sophie.
Ginger blinzelte irritiert. »Was ist Wonder Woman?«
Sophies Wangen färbten sich rosa. »Nichts. Habe ich Wonder Woman gesagt?« Sie wollte nicht preisgeben, dass der Zauberspiegel im Geheimversteck endlose Stunden filmischer Unterhaltung aus der Menschenwelt bot. »Ich meinte eine Amazone wie Juliet Montlake.«
»Das Einzige, worum ich Juliet Montlake habe kämpfen sehen, ist ein Parkplatz in der Nähe des Wünsche-Markts«, antwortete Ginger. Sie klopfte mit dem Zauberstab auf ihre Handfläche. »Ihr wollt also ein paar Kampftechniken lernen, hm? Ist das der entscheidende Punkt?«
Fünf Köpfe nickten eifrig.
»Ich nehme an, ich könnte ein klitzekleines bisschen vom Lehrplan abweichen.« Ginger legte den roten Schopf schief und dachte nach. »Man weiß nie, wann man gute Angriffstechniken braucht.«
»Es ist Spellbound«, sagte Millie. »Es kann jeden Moment etwas passieren.«
»Ach, komm schon«, wandte Ginger ein. »So gefährlich ist es hier doch gar nicht.«
»Hier gibt es Morde, magische Verbrechen, Diebstahl, Machtmissbrauch.« Millie zählte alles an ihren Fingern ab. »Wir sind praktisch eine Enklave des Bösen.«
Ginger lachte. »Meinst du nicht, dass du vielleicht ein bisschen übertreibst?«
»Bring uns etwas Cooles bei«, bat Laurel. »Etwas, womit ich meinen Brüdern drohen kann, wenn sie nerven.«
Ginger hob einen Zeigefinger. »Dabei kann ich helfen.« Sie deutete mit ihrem Zauberstab auf die angrenzende Wand und sagte: »Ein gänzlich spitzes Teil / schick mir sofort 'nen Pfeil.«
Ein Pfeil schoss aus der Spitze ihres Zauberstabs, gerade als Sedgwick beschloss, durch die offene Tür zu flattern und sich der Klasse anzuschließen. Er flog gerade noch rechtzeitig aus dem Weg. Der Pfeil zischte an ihm vorbei, die Spitze steckte fest in der Wand.
Ich pfiff anerkennend. »Du würdest Robin Hood echt Konkurrenz machen.« Ich hielt inne. »Oder ihm das Geld der reichen Leute, die er bestohlen hat, wegnehmen.«
Mach dir meinetwegen bloß keine Sorgen, maulte Sedgwick von seinem Platz auf einem Regal aus. Meine Federn sind praktisch eine Rüstung.
Sie hat dich verfehlt, oder? Ich starrte ihn an. Und wenn du pünktlich gewesen wärst, wäre das nie passiert.
Und wenn du nicht so lange auf der Toilette gebraucht hättest, wäre ich auch pünktlich gewesen, hielt Sedgwick dagegen.
Du bist lächerlich, antwortete ich. Du bist eine Eule. Du brauchst das Badezimmer nicht.
»Was kannst du sonst noch?«, fragte Begonia die Lehrerin mit leuchtenden blauen Augen.
»Emma, warum stellst du dich nicht unter das Regal, auf dem Sedgwick sitzt?«, sagte Ginger.
Ich zögerte. »Wird das so eine Wilhelm-Tell-Situation? Brauche ich einen Apfel?« Ich war mir ziemlich sicher, dass meine Magiekünste einen Apfel hervorbringen konnten.
»Ich weiß nicht, wer Wilhelm Tell ist«, erwiderte Ginger und hielt ihren Zauberstab für einen weiteren Spruch bereit.
Ich stellte mich unter das Regal und wartete. Zu meiner Überraschung zielte sie nicht auf mich, sondern auf Sedgwick.
»Wie nach Essen und nach Trinken / sollst du in Schlaf versinken.«
Ein Betäubungspfeil surrte aus dem Ende ihres Zauberstabs und traf direkt Sedgwicks Bauch. Ich wusste ohne hinzusehen, wo er einschlug, denn ich spürte einen Schatten jenes Schmerzes, der meinen Vertrauten heimsuchte. Es blieb jedoch keine Zeit zu reagieren, denn Sedgwick kippte von der Kante des Regals und stürzte Richtung Boden. Ich griff nach ihm und fing ihn auf, bevor er zu einem Haufen platt gedrückter Federn wurde.
»Er hätte sich verletzen können«, schnappte ich und funkelte Ginger an. Es war mir egal, dass sie für die heutige Klasse verantwortlich war. Die Einzige, die meine griesgrämige Eule misshandeln durfte, war ich.
»Nein, das konnte er nicht«, antwortete sie sachlich. »Was glaubst du, warum ich dich gebeten habe, dort zu stehen?«
Ich warf einen Blick auf die betäubte Eule in meinen Armen. »Wie lange wird er bewusstlos sein?«
»Eine Weile«, antwortete Ginger. »Ich denke, es ist nicht ganz so ablenkend für dich, wenn er schläft.«
»Nicht, wenn ich mir Sorgen um ihn mache«, entgegnete ich. »Kannst du ihn aufwecken?«
Ginger richtete ihren Zauberstab auf Sedgwick. »Ohne eine Riesenmenge Krach / mach diese Eule wach.«
Sedgwicks große Eulenaugen sprangen auf und erschreckten mich. Ich sprang zurück und er flatterte empört aus meinen Armen.
Warum habe ich mir bitte schön die Mühe gemacht, zu deiner Klasse zu kommen?, murrte er und flog zurück in die Sicherheit des Regals.
»Was kann noch aus einem Zauberstab schießen?«, fragte Laurel. Trotz des Traumas meiner Eule genoss sie eindeutig jeden Moment der heutigen Unterrichtsstunde.
»Wir wissen bereits, wie wir mit unseren Zauberstäben Licht und Wasser erzeugen können«, sagte Millie, wie immer die Hermine unserer kleinen Gruppe.
»Manchmal benutze ich meinen als Laserpointer«, teilte Begonia mit. »Mein Vertrauter liebt es, das Licht über den Boden zu jagen. Wir sollten den Vorsitzenden Maunz herholen, um damit zu experimentieren.«
»Ein Laserpointer ist aber nicht sehr praktisch als Angriffsmittel, oder?«, meinte Millie abfällig. »Es sei denn, man hat vor, jemanden mit einer Präsentation zu Tode zu langweilen.«
Ein langsames Lächeln breitete sich auf Gingers hübschem Gesicht aus. »Ich habe was.« Sie richtete ihren Zauberstab zuerst auf die Jalousien und ließ sie herunter. Dann dimmte sie die Feenlaternen im Klassenzimmer so weit herunter, dass es stockdunkel wurde.
»Ich kann nichts sehen«, beschwerte sich Millie. »Wie kann ich mir Notizen über den Zauberspruch machen?«
Ich kann gut sehen, freute sich Sedgwick.
Spar dir deine Überheblichkeit. Millie kann dich nicht hören, sagte ich.
Sedgwick sträubte verärgert seine Federn. Oh, mir gefällt, was sie vor
Bevor er zu Ende sprechen konnte, explodierte das Licht im Raum und blendete uns alle.
»Meine Augen«, jammerte Millie und bedeckte ihr Gesicht.
»Ich wette, das ist nicht die Art von Licht, die du gemeint hast«, flüsterte Sophie Millie zu.
Bis sich meine Augen an die plötzliche Veränderung gewöhnt hatten, hatte Ginger das normale Licht im Klassenzimmer bereits wiederhergestellt.
»Ich habe den Zauberspruch nicht verstanden, weil ich zu sehr damit beschäftigt war, mich vor dem Geblendetwerden zu schützen«, beschwerte sich Millie. »Kannst du ihn wiederholen, damit ich ihn mir aufschreiben kann?«
Ginger unterdrückte ein Lächeln. »Ich habe es leise gesagt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das schon teilen sollte. Er ist sehr mächtig und ich habe euch schon mehr gezeigt, als ich sollte.«
»Bitte, Ginger«, flehte Laurel. »Was ist, wenn wir in einer Höhle gefangen sind und es die einzige Möglichkeit ist, die Spinnen zu verjagen?«
»Spinnen?«, fragte Begonia mit einem Schaudern. »Warum sollten wir in einer Höhle mit Spinnen gefangen sein?«
Gingers Schultern entspannten sich. »Okay, gut. Aber ihr dürft es mit niemandem teilen und es nicht unsachgemäß verwenden. Verstanden?«
Wir nickten alle.
»Läuft wie geschmiert / Licht explodiert.« Ginger zuckte mit den Schultern. »Das war's. Natürlich müsst ihr euren Willen sehr sorgfältig fokussieren. Sonst kann es passieren, dass ihr den Zauberstab explodieren lasst. Dann wärt ihr wehrlos gegen die Spinnen.«
»Igitt, Spinnen«, wiederholte Begonia und schlang die Arme um sich.
»Dir ist schon klar, dass es hier keine echten Spinnen gibt«, schnauzte Millie. »Das ist alles hypothetisch.«
Laurel hob ihre Hand. »Können wir es jetzt mal versuchen?«
Ginger kaute auf ihrer Lippe. »Ich weiß nicht, Laurel. Es ist eine Sache, es euch zu zeigen .«
»Lass es wenigstens Emma versuchen«, sagte Sophie. »Sie soll jetzt sowieso weiterführende Aufgaben bearbeiten.«
Das stimmte. Ich hatte mit Lady Weatherby und Agnes privat trainiert, zusätzlich zu den Hexenförderklassen. Sie wollten sichergehen, dass meine Zauberkräfte nicht Amok liefen und alles zerstörten, was sich ihnen in den Weg stellte.
»Emma, hättest du Interesse?«, fragte Ginger.
Ich schaute meine Freundinnen an, die aufmunternd nickten. »Ich schätze, das habe ich.«
Ginger winkte mich nach vorn. »Dann lass uns anfangen.«
Ich trat vor die Klasse und umklammerte meinen hellblauen Zauberstab, Tiffany. »Zuerst den Pfeil?«
Ginger zuckte mit den Schultern. »Was auch immer...