Schweitzer Fachinformationen
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Lorna, mehr als drei Jahrzehnte später
Das ist eine dieser Reisen. Je näher man dem Ziel kommt, desto schwerer ist vorstellbar, dass man es wirklich jemals erreichen wird. Es gibt immer noch eine weitere Straßenbiegung, eine ruckelnde Fahrt, bis der Feldweg im Nirgendwo endet. Und es wird immer später. Warmer Sommerregen trommelt aufs Autodach.
»Ich schlage vor, wir lassen es gut sein und fahren ins Bed and Breakfast zurück.« Jon reckt den Hals übers Lenkrad, um die Straße, die sich vor der Windschutzscheibe verflüssigt, besser sehen zu können. »Wir genehmigen uns ein Bier und visieren eine Hochzeit irgendwo im Umkreis der M25 an. Was meinst du?«
Lorna malt mit der Fingerspitze ein Haus auf das angelaufene Fenster: Dach, Schornstein, Rauchschnörkel. »Lieber nicht, Schatz.«
»Irgendwo, wo es ein sonniges Mikroklima hat, vielleicht?«
»Sehr witzig.« Ungeachtet der Enttäuschungen, die der Tag bisher gebracht hatte - keine der Örtlichkeiten hatte ihren Erwartungen entsprochen, alle waren überteuert, aber dennoch geschmacklos -, ist Lorna ziemlich glücklich. Es hat etwas Berauschendes, mit dem Mann, den sie heiraten wird, durch dieses stürmische Wetter zu fahren. Nur sie beide, ganz gemütlich in ihrem keuchenden kleinen roten Fiat. Wenn sie alt und grau sind, werden sie sich an diese Reise erinnern, denkt sie. Als sie noch jung waren und verliebt und im Auto durch den Regen fuhren.
»Na toll.« Finster blickt Jon auf einen bedrohlichen dunklen Umriss im Rückspiegel. »Alles, was ich jetzt noch brauche, ist ein verdammter Traktor im Nacken.« Er hält an einer Kreuzung, an der diverse windgekrümmte Schilder in Richtungen zeigen, die wenig mit den vorhandenen Abzweigungen zu tun haben. »Und wohin jetzt?«
»Haben wir uns etwa verfahren?«, zieht sie ihn mit einem gewissen Vergnügen auf.
»Das Navi weiß nicht mehr weiter. Wir sind hier am Arsch der Welt.«
Lorna lächelt. Jons kindische, harmlose Griesgrämigkeit wird mit den ersten Hinweisen auf das Haus oder mit einem kalten Bier verschwunden sein. Er nimmt sich die Dinge nicht so zu Herzen wie sie und sieht Hindernisse als Herausforderung.
»Gut.« Er zeigt mit dem Kopf auf die Karte auf Lornas Schoß, die zerknüllt und voller Krümel ist. »Wie steht's um deine Kartenlesefähigkeiten, Schätzchen?«
»Na ja .« Umständlich faltet sie die Karte auseinander und schüttelt die Krümel zu den leeren Wasserflaschen, die im sandigen Fußraum herumrollen. »Meinen Berechnungen zufolge fahren wir gerade durch den Atlantik.«
Jon schnaubt und streckt die langen Beine aus. »Großartig.«
Lorna beugt sich zu ihm und streicht ihm über den Oberschenkel. Sie weiß, dass er es müde ist, im Regen über unbekannte Straßen zu fahren und Hochzeitslocations abzuklappern . und dann noch die abgelegenste, die versteckteste zum Schluss. Sie wären jetzt an der Amalfiküste, wenn sie nicht darauf bestanden hätte, stattdessen nach Cornwall zu fahren. Wenn Jons Geduld also langsam nachlässt, dann kann sie es ihm kaum verübeln.
Jon hatte ihr den Antrag an Weihnachten gemacht, vor Monaten. Für eine ganze Weile hatte das gereicht. Sie genoss es, verlobt zu sein, diesen Zustand seligen Aufschubs: Sie gehörten zusammen, doch sie entschieden sich noch immer jeden Morgen neu für dieses Zusammensein. Sie war in Sorge, dieses unbeschwerte Glück zu verlieren. Jedenfalls hatten sie es nicht wahnsinnig eilig. Sie hatten alle Zeit der Welt.
Und dann doch wieder nicht. Als Lornas Mutter im Mai unerwartet starb, war das wie eine Mahnung, nicht länger zu warten. Die Dinge nicht aufzuschieben und nicht zu vergessen, dass auf jedermanns Kalender bereits ein dunkles Datum eingekringelt ist, das immer näher rückt. In ihr wuchs der Wunsch, das Leben mit beiden Händen zu greifen, an einem nieseligen Sonntagmorgen auf ihren roten Glücks-High-Heels durch den Abfall auf der Bethnal Green Road zu stöckeln. Heute Morgen hat sie sich in ein sonnengelbes Vintage-Sommerkleid aus den Sechzigern gezwängt. Wann sollte sie es tragen, wenn nicht jetzt?
Jon betätigt die Schaltung und gähnt. »Wie heißt das Anwesen noch mal, Lorna?«
»Pencraw«, sagt sie fröhlich in dem Versuch, ihn bei Laune zu halten, denn sie ist sich bewusst, dass sie, wenn es nach Jon ginge, seine weitläufige Familie einfach in ein Partyzelt im Garten seiner Eltern in Essex quetschen würden, und das wär's. Dann würden sie ein Stück die Straße runter von seinen hingebungsvollen Schwestern ziehen - die winzige Stadtwohnung gegen ein Vorstadthäuschen mit einem Rasensprenger eintauschen -, damit seine Mutter Lorraine mit all den Babys helfen könnte, die prompt folgen würden. Glücklicherweise geht es nicht nach Jon. »Pencraw Hall«, sagt sie.
Er fährt sich mit der Hand durch das weizenblonde Haar, das von der Sonne fast weiß ist. »Noch ein Versuch?«
Sie strahlt ihn an. Sie liebt diesen Mann.
»Ach, zur Hölle, fahren wir hier lang. Die Chancen, dass wir richtigliegen, stehen eins zu vier. Hoffentlich können wir diesen Traktor abschütteln.«
Sie schütteln ihn nicht ab.
Es regnet immer weiter. An der Windschutzscheibe kleben Wiesenkerbelblätter, die von den quietschenden Scheibenwischern in Schlieren verschmiert werden. Lornas Herz klopft schneller. Auch wenn sie durch die Regenbächlein, die die Scheiben hinunterlaufen, nicht viel sehen kann, weiß sie, dass die bewaldeten Täler, die Flussläufe und einsamen kleinen Buchten der Roseland-Halbinsel hinter dem Glas liegen. Sie erinnert sich, als Kind schon auf diesen Wegen unterwegs gewesen zu sein - sie verbrachten fast jeden Sommer in Cornwall - und auch daran, wie die Meeresbrise durch das heruntergekurbelte Fenster drang und die letzten Überreste des verrußten Großraums London wegblies - und sie erinnert sich an die Anspannung im Gesicht ihrer Mutter.
Ihre Mutter war stets sorgenumwölkt gewesen und litt ihr ganzes Leben unter Schlaflosigkeit: Nur am Meer schien sie schlafen zu können. Als Lorna klein war, fragte sie sich, ob in der Luft in Cornwall wohl betäubende Dämpfe lagen wie im Mohnfeld aus dem Zauberer von Oz. Jetzt kommt eine leise Stimme in ihrem Kopf nicht umhin, nach Familiengeheimnissen zu fragen. Warum bist du hier? Doch sie beschließt, dieser Stimme kein Gehör zu schenken.
»Bist du dir sicher, dass dieser alte Kasten überhaupt existiert, Lorna?« Jons Arme sind ausgestreckt und steif am Lenkrad, die Augen rot vor Anspannung.
»Er existiert.« Sie bindet sich ihr langes, dunkles Haar zu einem hohen Knoten zusammen. Ein paar Strähnen lösen sich, umspielen ihren blassen Hals. Sie spürt die Hitze seines Blicks: Er liebt ihren Hals, die weiche Babyhaut direkt hinterm Ohr.
»Noch mal für mich.« Sein Blick richtet sich wieder auf die Straße. »Das ist irgend so ein altes Herrenhaus, das du schon mit deiner Mutter besucht hast, als ihr hier im Urlaub wart?«
»Genau.« Sie nickt eifrig.
»Deine Mutter mochte es gern prächtig, ich weiß.« Er schaut finster in den Rückspiegel. Mittlerweile regnet es in silbernen, welligen Strömen. »Aber wie kannst du dir sicher sein, dass es gerade dieses war?«
»Ich bin in irgendeinem Online-Hochzeitsverzeichnis über Pencraw Hall gestolpert und hab es sofort erkannt.« So viele Dinge waren bereits verblasst - die Hyazinthennote des Lieblingsparfüms ihrer Mutter, wie sie mit der Zunge geschnalzt hat, wenn sie nach ihrer Lesebrille suchte -, doch in den letzten paar Wochen waren andere längst vergessen geglaubte Erinnerungen in unerwartet klarer Schärfe zurückgekehrt. Und dies war eine davon. »Wie Mama auf dieses große alte Haus zeigt. Ihr ehrfurchtsvoller Blick. Das ist irgendwie bei mir hängengeblieben.« Sie dreht an dem Diamantverlobungsring an ihrem Finger und erinnert sich noch an andere Dinge. Eine rosa gestreifte Tüte Karamellbonbons schwer in ihrer Hand. Ein Fluss. »Ja, ich bin ziemlich sicher, dass es dasselbe Haus ist.«
»Ziemlich?« Jon schüttelt den Kopf und lacht sein lautes, dröhnendes Lachen. »Meine Güte, ich muss dich wirklich lieben.«
Eine Weile fahren sie in einträchtigem Schweigen weiter. Jon wirkt nachdenklich. »Morgen ist der letzte Tag, Liebling.«
»Ich weiß.« Sie seufzt, der Gedanke, wieder in die heiße, überfüllte Stadt zurückzukehren, erscheint ihr nicht gerade reizvoll.
»Wenn du noch etwas tun wolltest, was gar nichts mit der Hochzeit zu tun hat?« Seine Stimme klingt entwaffnend sanft.
Sie lächelt verdutzt. »Klar. Was meinst du?«
»Na ja, ich dachte, dass du vielleicht noch irgendetwas . von Bedeutung . besichtigen möchtest?« Seine Worte klingen unbeholfen. Er räuspert sich und sucht ihre dunklen Augen.
Lorna weicht seinem Blick aus. Ihre Finger lösen ihr Haar, sodass es raschelnd herabfällt und ihre errötenden Wangen verbirgt. »Nicht wirklich«, murmelt sie. »Ich will einfach bloß Pencraw sehen.«
Jon seufzt, legt einen anderen Gang ein. Lorna wischt ihre Kritzelei vom beschlagenen Fenster und späht gedankenverloren durch das entstandene Bullauge.
»Also . Wie waren die Bewertungen?«, erkundigt sich Jon.
Sie zögert. »Na ja, es gibt keine. Nicht wirklich.«
Er zieht eine Augenbraue hoch.
»Aber ich habe angerufen und mit einem echten, lebendigen Menschen gesprochen, mit der Assistentin der Hausherrin oder so. Sie hieß Endellion.«
»Was soll...
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