Schweitzer Fachinformationen
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Januar 1991
Gleich an ihrem ersten Abend in Sycamore schlich sich Jess aus dem Haus. Ihre lila Stoffturnschuhe waren ausgefranst, die neue Daunenjacke, in der ihr Notizbuch steckte, leuchtete so rot wie eine Ocotilloblüte. Die Haustür quietschte in den Angeln. Jess hielt auf Zehenspitzen inne, aber ihre Mutter, die auf dem linken Ohr taub war, rührte sich nicht. Vorsichtig zog Jess die Tür ins Schloss. Nicht zum ersten Mal verließ sie spätabends das Haus, und auch nicht zum letzten. (Es würde ein letztes Mal geben, aber nicht an diesem Tag.) Vor ihr lag eine ganze Nacht, die erste in dieser Kleinstadt im Norden von Arizona, in die ihre Mutter sie verschleppt hatte. Sie ging die Einfahrt hinunter. Ihr Atem hing wie Rauch in der winterlichen Wüstenluft.
Sie trat aus dem Lichtkegel über der Veranda und blieb am Ende der Einfahrt stehen. Anders als in Phoenix gab es hier keine Straßenlaternen, kein Reifenzischen von der nahe gelegenen Seventh Avenue, kein Stimmengewirr an Bushaltestellen und Bars, kein Turbinendröhnen von den Nachtflügen über dem Sky Harbour. Die kalte, stumme Dunkelheit schien so endlos, dass Jess schwindelig wurde. Die Stille war unheimlich, sie war eine Unstille. Der Schweiß unter Jess' Achseln prickelte, sie riss die Augen auf und musste an die Eulen denken, die auf dem Grundstück ihrer alten Nachbarn in einer Esche gewohnt hatten. Wann immer sie die Umgebung abgesucht hatten, hatten sie mit dem Kopf gezuckt wie ein Boxer, der Schlägen ausweicht.
Jess schaute nach oben, und plötzlich war die Stille wie weggefegt. Der pechschwarze Himmel brach in Getöse aus, die Milchstraße zerbarst und entblößte ihr galaktisches Herz. Jess kniff die Augen zusammen, als hätte sie in Flutlicht geblickt. Ihre alte Nachbarschaft in Phoenix war nachts ins Grapefruitrosa der Straßenlaternen getaucht gewesen, einen schwarzen Himmel hatte es dort nie gegeben. Und selbst draußen in der Wüste, fernab der hellen Stadt, hatten die Sterne und Planeten sich zurückgehalten wie schüchterne Kinder. Die Luft roch nach Minze, Jess' Nasenflügel bebten, sie erschauderte und fühlte sich mit einem Mal wie im freien Fall. O Gott, dachte sie, ich bin Baby Jessica! Ich liege in einem Brunnenschacht! Hilfe! Es ist so dunkel hier! Dann lachte sie auf und wunderte sich im selben Moment über das Geräusch, ein kehliges Gackern. Es war das Lachen ihres Vaters.
Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Die Konturen von Bäumen, Büschen und Hausdächern traten hervor, die Lichter in den Nachbargärten wirkten wie Stecknadelköpfe. Vor ihr erstreckte sich die neue Straße, der Mittelstreifen schien wie gemacht für einen Roadrunner. Beep, beep - sie dachte an den Vogel aus der Zeichentrickserie, und wie auf Kommando begann in der Ferne ein Kojote zu heulen. Unterhalb der mächtigen Silhouette der Black Hills - sie lagen im Westen, das wusste Jess, weil dort die Sonne untergegangen war -, blinkten die Lichter von Jerome. Ihre Nase, die Ohren und Füße waren taub vor Kälte. Sie hopste ein wenig auf der Stelle, um sich aufzuwärmen, und fragte sich, ob sie zurückgehen und sich eine Mütze und dickere Socken holen sollte. Aber dann trabte sie doch los, immer auf das eine Meile entfernte Stadtzentrum zu.
Sie hatte lange Beine und war groß; vor Kurzem hatte sie die eins siebenundsiebzig überschritten. Eine elegante Läuferin war sie nicht. Sie zog die Füße nach, schlenkerte mit den Armen und fühlte sich ganz allgemein wie ein Ast, der in der reißenden Strömung gegen Steine und Wurzeln schlägt und von Masse und Fliehkraft umhergewirbelt wird. Sechzehn war für sie das Jahr der Hüften gewesen. Inzwischen musste sie den Hosenbund mit einem Gürtel oder mit Sicherheitsnadeln zusammenraffen. Und die Füße erst - lächerlich. Ein Wunder, dass sie nicht ständig darüberstolperte. Mit dem Ballett hatte sie schon ein Jahr zuvor aufgehört, zu sehr hatte sie sich für ihren Körper in dem engen Gymnastikanzug geschämt, für ihre schweren Sprünge, unter denen der Boden des Tanzstudios erbebt war. Wie konnte die Evolution zulassen, dass der menschliche Körper zu etwas so Ungelenkem heranwuchs? Aber jetzt war sie draußen, machte große Schritte und atmete die kalte, klare Luft ein. Das Wohnviertel lag in einem Gebirgsausläufer, die Straßen führten steil auf und ab, bei Regen kreuzten Bachläufe die Senken. Wo es bergab ging, legte Jess an Tempo zu. Ihre schwingenden Arme erzeugten ein angenehmes Schlürfgeräusch auf der Daunenjacke, sie spürte das Notizbuch an ihrer Brust und wagte ein paar Sprünge, jeté, jeté, jeté. Für drei kurze Momente schien sie die Schwerkraft zu überwinden.
Schon als kleines Kind hatte es sie ständig ins Freie gezogen. Sie war aus dem Haus gerannt, die Treppe hinuntergesprungen und zum Spielplatz, in den Garten oder ins Schwimmbad gehüpft, damals, als sie noch klein genug gewesen war, um pausenlos zu tanzen und mit ausgebreiteten Armen ihre chassés und pas de bourrée zu vollführen. In Phoenix endeten ihre nächtlichen Ausflüge meistens im Garten hinter dem Haus, wo sie sich mit Taschenlampe und Buch auf einer Decke im Gras ausstreckte. Wenn die Rasensprenger losgingen und sie zurück ins Haus flüchtete, spürte sie die weiche, nachgiebige Erde zwischen den Zehen. Nach der Führerscheinprüfung hatte sie sich manchmal in den Pick-up ihres Vaters gesetzt, den Wagen lautlos bis ans Ende der Einfahrt rollen lassen und den Motor erst auf der Straße gestartet; nach der Trennung der Eltern hatte sie das Gleiche mit dem rostbraunen Kombi ihrer Mutter gemacht. Sie war nie weit gefahren, meist nur durch die rasterförmig angelegten Straßen des Viertels. Unterwegs hörte sie ihre Mixtapes, manchmal parkte sie auch unter einer Straßenlaterne, um Tagebuch zu schreiben oder ein paar schlechte Gedichte zu verfassen. Sie brauchte das einfach, um runterzukommen. Sie suchte nie Ärger und traf sich auch nicht heimlich mit anderen - na ja, nur ein Mal, mit dem Jungen, aber das war jetzt schon ein halbes Jahr her. Sie hatte ein Ventil für den Druck gebraucht, der sich tagsüber in ihr aufstaute - wenn sie ihre neuerdings kurvigen Hüften durch die Schulkorridore schob, wenn der Junge mit seinen Freunden über sie lachte, wenn ihre Eltern sich mal wieder stritten und verstummten, sobald sie das Zimmer betrat. Was sie hier in der neuen Stadt suchte, wusste sie noch nicht, sie wusste nur eins: Sie wollte raus.
Auf einer Kuppe blieb sie stehen, um zu verschnaufen. Vor ihr erstreckte sich die Straße bis hinunter ins Zentrum. Das weitläufige Phoenix hatte unablässig gezischt und gerauscht, wie um selbst nachts der glühenden Hitze zu trotzen. Sycamore hingegen wirkte märchenhaft verschlafen. Rechts und links der Main Street reihten sich kleine Ladengeschäfte aneinander, es gab ein College auf der einen und eine Highschool auf der anderen Seite. Die Stadt schien im Schlaf zu seufzen. Jess fand das kein bisschen zauberhaft, ganz im Gegenteil, sie musste an Frankenstein denken: »Der Regen klatschte heftig an die Fensterscheiben, als ich beim Scheine meiner fast ganz herabgebrannten Kerze das trübe Auge der Kreatur sich öffnen sah.« Sie verdrehte die Augen, musste über sich selbst lachen. Warum gleich so dramatisch? J-Bird, mach mal ein freundliches Gesicht, sagte ihre Mutter immer. Du bist sechzehn!
Inzwischen fast siebzehn. Sie wusste nicht genau, warum, aber der kommende Geburtstag schien irgendwie von Bedeutung zu sein. Er brachte sie dem Ziel, von anderen ernst genommen zu werden, einen Schritt näher. Einen Schritt weiter weg vom vergangenen Scheißjahr.
Am Nachmittag war sie mit ihrer Mutter zur neuen Schule gefahren. Während ihre Mutter mit den Anmeldeformularen beschäftigt gewesen war, hatte Jess an einer Säule gelehnt und ihre zukünftigen Mitschüler beobachtet, die durch die Flure geeilt waren, gelbe Spindtüren zugeknallt hatten und beim Schrillen der Klingel auseinandergestoben waren wie fallende Würfel. Sie hatte an ihre alte Schule in Phoenix gedacht, an all die Angeber, Sportskanonen, Cheerleader mit Haarsprayfrisuren. Hier in der neuen Schule hatte sie immerhin einen Morrissey-Fan und einen Jungen mit Sicherheitsnadel im Ohr und Misfits-T-Shirt entdeckt. Vielleicht war ja doch noch nicht alles verloren. Misfit - unpassend, wie ein zu enger Mantel oder zu kleine Handschuhe, wie ihre blöde, in der Taille zusammengeraffte Hose. Warum erkannte sie sich ausgerechnet in den traurigen Vorsilben wieder? Entwurzelt. Bedrückt. Missgestaltet. Anormal. Ex-Freundin. Ex-Tochter.
Zwei Jungs in Jeans und Flanellhemden trugen einen riesigen Pappkarton durch die Pausenhalle. Beide lächelten ihr freundlich zu, aber sobald sie vorüber waren, tuschelten sie über den Karton hinweg und drehten sich lachend um. War das ein Flirtversuch oder eine Warnung? Jess zupfte sich den Pulli über die Hüften und widerstand dem Drang, sich hinzukauern. Sie dachte an den Jungen, an den zu denken sie sich eigentlich verboten hatte. Seine Aufmerksamkeit hatte sie genossen wie einen Rausch, ihr war bei jeder Berührung heiß geworden. Jess presste sich an die Säule, kreuzte die Beine und verdrehte sich in sich selbst.
Danach waren sie für eine halbe Stunde ziellos durch den Ort gekurvt, die Main Street hinauf und wieder hinunter, durch die angrenzenden Wohnviertel und vorbei an der Sycamore High, dem Sycamore College und der Post, wo ihre Mutter zwei Tage später ihre neue Stelle antreten sollte. Sie fuhren über Haarnadelkurven zu dem winzigen Bergarbeiterstädtchen Jerome hinauf, wo die Straßen schmal waren und die Häuser sich an den steilen Hang...
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