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AECOR (UND DIE ERDE)
Ich habe nie eine Erde gekannt, die nichts von außerirdischem Leben wusste. Neunundzwanzig Jahre vor meiner Geburt entnahm die Cetus-Sonde den Geysiren Europas Proben, die voller Bakterien waren; die ersten Geländewagenfotos von den fossilen Gliederfüßlern auf dem Mars trafen ein, als meine Eltern noch in der Ausbildung waren. Ich weiß nicht, wie es in den einsamen Jahren davor war, als wir die Erde für eine singuläre Zufluchtsstätte hielten, eine Oase in der galaktischen Wüste. Manchmal wünschte ich, ich wüsste es. Ich wünschte, ich hätte dabei sein können, als die ersten Ergebnisse von Cetus per Funk durchgegeben wurden. Ich wünschte, ich könnte euch erzählen, wie es in einem der alten Kontrollzentren oder den Forschungslaboren oder Nachrichtenredaktionen zuging, als wir gemeinsam mit dem gesamten Planeten in Echtzeit erfuhren, dass uns unser enges Weltbild auf das Prachtvollste um die Ohren geflogen war. Am Anfang meines Lebens jedoch, nur dreißig Jahre später, war extraterrestrisches Leben Allgemeinwissen - etwas, das für jedes Kind selbstverständlich war. Menschen sind ungemein anpassungsfähig.
Noch ein Wunsch: euch erzählen zu können, dass ich schon immer Astronautin werden wollte. Das wäre doch eine viel bessere Geschichte, nicht wahr? Ein paar meiner Kolleginnen und Kollegen könnten (und können) das von sich sagen. Ein ganzes Leben, ins Rollen gebracht vom Anblick der Saturnringe durch ein Straßenteleskop oder von verbissener Zielstrebigkeit, inspiriert von dem Moment, in dem der Betreffende die ersten verschwommenen Bilder eines wolkengesprenkelten, blaugrünen Exoplaneten sah. Keine dieser Erzählungen kann ich für mich beanspruchen. Ich war vier, als uns die Fotos des Tarter-Raumteleskops erreichten, und weiß tatsächlich noch, wie sie mir gezeigt wurden. Meine Mutter nahm mich vor ihrem Tablet auf den Schoß. Ihre Stimme war leise vor Staunen, und sie hielt mich ganz fest.
»Schau, Liebling«, sagte sie. »Das ist ein Planet, der um einen anderen Stern kreist. Da gibt es Luft und Ozeane, genau wie bei uns.«
Meine Antwort darauf ist der Zeit und der Unzuverlässigkeit der Erinnerung zum Opfer gefallen, aber ich kann mich noch an mein völliges Desinteresse erinnern. Das Bild war langweilig, und was mir dazu erklärt wurde, mochte zwar neu und ganz interessant gewesen sein, aber ich war vier. Neu und ganz interessant traf auf etwa neunzig Prozent meines Lebens zu - von dem Schorf auf einer Wunde über einen neuen Zeichentrickfilm bis zum unerwarteten Geschmack des Safts beim Mittagessen. Es ist schwer, neue Entdeckungen wertzuschätzen, wenn man die Grundlagen der Wirklichkeit noch nicht kennt. Und so fiel die Bedeutung des ersten fotografischen Beweises eines bewohnbaren Exoplaneten bei mir auf unfruchtbaren Boden. Wahrscheinlich ist jede Kindheit voller Fehleinschätzungen.
Meine Eltern lebten in einer Wohnung im zwölften Stock einer Wohnanlage mit Blick auf den Fraser. Das klingt schöner, als es war. Ich kannte nur das Gewimmel der Großstadt, und mein Zugang zur Natur beschränkte sich auf die Hydrokulturbehälter unseres kastenförmigen Balkons, wo mein Vater das Gemüse zog, das wir abends aßen. Ein Hydrokulturbehälter hat mit der echten Natur nur wenig gemeinsam, aber er ist dennoch ein Ökosystem. Oft saß ich stundenlang dort draußen in der heißen Stadtluft, fasziniert von den Insekten, die ihrerseits von Dingen angezogen wurden, die grün sind und wachsen. Sie waren ein kleines Wunder, diese Tierchen - winzige, erstaunliche Ungeheuer, die überhaupt nicht zu den uns umgebenden Betonblöcken passten, Miniaturtiere, die mir wie Magie vorkamen und weit wilderen Orten angehörten, als es die Paprikapflanzen meines Vaters waren. Da waren Käfer und Bienen, Spinnen und Raupen. Ich beobachtete, wie sie von einem Blatt zum anderen flogen oder sich abseilten. Ich ließ sie über meine Handfläche krabbeln. Ich staunte darüber, wie etwas so Kleines an einen Ort gelangt war, der selbst für mich, die im Vergleich zu ihnen eine Riesin war, unfassbar hoch oben lag. Sie hatten ihre eigenen Dramen, ihre eigenen Ziele. Sie brauchten mich nicht, wie es bei einem Hund oder einem Goldfisch der Fall gewesen wäre. Diese Unabhängigkeit, diese völlige Losgelöstheit vom Reich der Menschen gefiel mir am besten an ihnen.
Manche Insekten werden gleichsam zweimal geboren. Zuerst wird ein Ei gelegt. Eier sind für die meisten irdischen Spezies der vorgezeichnete Weg, und bei größeren Tieren, die sich auf diese Weise fortpflanzen, ist die Sache einfach. Das Ei bricht auf, das Jungtier - sagen wir: ein Entenküken - schlüpft, und äußerlich unterscheidet es sich nicht sonderlich von seinen Eltern. Ein Entenküken ist immer noch als Ente erkennbar. Es wird wachsen, in die Pubertät kommen und seinen niedlichen Flaum verlieren, aber es schwimmt und watschelt und pickt. Bei Insekten ist der Vorgang komplizierter. Nehmen wir beispielsweise einen Nachtfalter. Aus dem Ei schlüpft eine Larve, die wir als Raupe kennen. Dieses Wesen hat Beine, Organe, eine Mundöffnung - alles, was ein Lebewesen braucht. Die Raupe ist perfekt an ihre derzeitigen Bedürfnisse angepasst, die darin bestehen, alles zu fressen, was ihr vor die Nase kommt, und sich von Feinden fernzuhalten. Sie kriecht und frisst und kriecht und frisst und kriecht und frisst, bis sie eines Tages damit aufhört. Sie sucht sich einen Zweig oder ein Blatt. Sie hüllt sich in ein schützendes Proteinnetz ein. Und dann löst sie sich unglaublicherweise auf. Die Raupe zerfällt zu organischem Schleim, und nur einige wenige, wesentliche Bestandteile bleiben intakt. Binnen einiger Wochen setzt sich der Schleim neu zusammen und erschafft dabei eine völlig neue Gestalt. Sobald das Tier seinen Körper erneuert hat, schlüpft es abermals, und ein Wesen kommt zum Vorschein, das sich so sehr von seiner vorherigen Gestalt unterscheidet, dass man, hätte man die Metamorphose nicht mitangesehen, vernünftigerweise davon ausgehen würde, dass Raupe und Motte zwei verschiedene Spezies sind.
Vielleicht konnte ich damals mit bewohnbaren Exoplaneten nichts anfangen, aber bei der Metamorphose war das anders. Die Veränderlichkeit der äußeren Erscheinung ist in meinen Augen immer etwas Wunderbares gewesen.
Aus dem Kälteschlaf zu erwachen, gehört nicht zu den Dingen, die ich besonders gern mache. Auf einer Skala des Unwohlseins würde ich es mit einem leichten Kater vergleichen oder mit der Sorte Erkältung, bei der die Nebenhöhlen knacken, wenn man mit der Hand daraufdrückt. Die Wahrnehmung an sich lässt sich mit keiner dieser beiden Erfahrungen vergleichen. Rein körperlich fühlte ich mich etwas steif, ein bisschen schwach, aber ansonsten okay. Aufzuwachen ist eher psychisch unangenehm, eine Phase, in der sich das Bewusstsein nach jahrelanger Untätigkeit erst wieder zurechtfinden muss. Ihr dürft nicht vergessen, dass die medikamentös induzierte Kältestarre nicht das Gleiche ist wie Schlaf. Im Schlaf erlebt man, wie die Zeit vergeht, selbst wenn man nicht träumt. Nicht so beim Kälteschlaf. Man ist erst wach, dann wieder nicht, dann doch wieder . Aber etwas fehlt, und es lässt sich nie genau bestimmen, was das ist.
Sobald die Merian in die Umlaufbahn um ihr erstes Ziel eingetreten war, schickte der Navigationscomputer ein Signal an die Kälteschlafkammern der Besatzung. Ein automatisiertes System fügte unserer Nährlösung eine chemische Substanz bei, die anschließend in unsere Gehirne gelangte, wo sie uns ganz langsam weckte. Soviel ich weiß, dauert dieser Vorgang etwa eine Stunde, aber für mich geschah es innerhalb eines Augenblicks. Licht. Schatten. Verwirrung. Ich musste mir die grundlegendsten Dinge ins Gedächtnis rufen, ganz so, als würde ich alles rekapitulieren, was ich in meiner Kindheit gelernt hatte. Ich habe Hände. Ich habe einen Mund. Was ich da sehe, sind Farben. Ich bin Ariadne. Ich existiere. Dann kamen die Erinnerungen und Zusammenhänge und schließlich ein Lächeln.
Wir sind auf Aecor.
Nach und nach befreite ich meinen Geist von der sprichwörtlichen Watte und brachte die vorgeschriebene Prozedur hinter mich. Als Erstes zog ich an den Schlaufen, um meine Handgelenke von den weichen Stoffhalterungen zu befreien, dann löste ich die Fesseln um Taille und Fußknöchel. Es mag makaber klingen, gefesselt in etwas zu liegen, das letzten Endes eine Hightech-Transportkiste ist, aber die Gurte sind aus gutem Grund da und lassen sich im Handumdrehen entfernen. Sie sind fest in den Wänden der Kälteschlafkammer verankert, sodass ich im Zustand der Bewusstlosigkeit in der Mitte des Containers schwebe und nicht gegen die Wände stoße. Das ist viel besser, als voller blauer Flecken aufzuwachen.
Sobald ich meine Gliedmaßen bewegen konnte, drückte ich auf den Knopf, der die Tür zur Kammer öffnete. Das Licht in meiner Kabine war gedämpft, aber ich zuckte dennoch zusammen, während meine Augen sich daran erinnerten, wie sie sich anpassen mussten. Kälteschlafkammern waschen ihre Bewohner regelmäßig, aber täglich mit Reinigungslösung besprüht zu werden, ist nicht das Gleiche wie ein richtiges Bad. Meine Augen, meine Nase und mein Mund waren um die Ränder herum völlig verklebt. So ist das, wenn man sich achtundzwanzig Jahre lang nicht richtig wäscht.
Meine Haare, die ich mir vor dem Start abrasiert hatte, reichten mir jetzt ein gutes Stück über die Schultern. Auch meine Nägel waren furchtbar lang geworden - in etwa so, wie man es nach zwei Jahren ohne Nägelschneiden erwarten würde. Ungefähr so viel war ich in den achtundzwanzig Jahren Flug gealtert - zwei Jahre. Der Kälteschlaf fährt einen runter, und eine interstellare...
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