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Vom Globus zum Planeten! Der indische Historiker Dipesh Chakrabarty zählt zu den international einflussreichsten Wissenschaftlern, die sich in den letzten Jahren mit der Bedeutung des Klimawandels auseinandergesetzt haben. Der Klimawandel, so argumentiert er, stellt unsere althergebrachten Vorstellungen von Geschichte, Moderne und Globalisierung grundlegend in Frage. Die Aufgabe besteht daher darin, diese Konzepte auf den Prüfstand zu stellen und überhaupt die Geistes- und Sozialwissenschaften mit neuen Ideen und Begriffen zu versorgen, damit sie den Herausforderungen des Anthropozäns gewachsen sind.
In seinem Buch taucht Chakrabarty tief ein in Geschichte und Philosophie und stellt kühne Überlegungen darüber an, wie das menschliche Denken und Leben zukünftig zu gestalten ist. Insbesondere erklärt er, dass wir zu einem besseren Verständnis sowohl unserer Herkunft als auch unserer Zukunft nur dann gelangen, wenn wir in der Lage sind, uns selbst aus zwei Perspektiven gleichzeitig zu betrachten: einer globalen und einer planetarischen, wobei letztere den Menschen absichtlich dezentriert. Erst auf diese Weise wird es möglich, in geologischen Zeiträumen zu denken sowie ein angemessenes Bild von der menschlichen Handlungsfähigkeit zu gewinnen. Angesichts der drohenden Naturkatastrophen ist es dafür höchste Zeit.
Einleitung:
Mich bringen diese Wirren weder zum Lachen noch zum Weinen, sondern spornen mich eher an, zu philosophieren und die menschliche Natur besser zu beobachten. Denn ich glaube nicht das Recht zu haben, die Natur zu verspotten oder gar zu beklagen, wenn ich bedenke, daß die Menschen wie alles übrige Seiende nur einen Teil der Natur bilden, und daß ich nicht weiß, wie jeder einzelne Teil der Natur mit dem Ganzen, zu dem er gehört, harmoniert und mit den anderen Teilen zusammenhängt.
Baruch Spinoza an Heinrich Oldenburg (1665)1
Wenn Hegel, der nach eigenem Bekunden ein Bewunderer von Spinoza war, noch leben würde und die Tiefen unserer Wahrnehmung der Gegenwart ausloten könnte, würde er etwas beobachten, das unmerklich, aber unaufhaltsam ins historische Alltagsbewusstsein derjenigen eingesickert ist, die täglich eine Nachrichtendosis zu sich nehmen: ein Gewahrwerden des Planeten und seiner geobiologischen Geschichte. Dies geschieht nicht überall mit der gleichen Geschwindigkeit, denn zweifellos ist und bleibt die globale Welt uneinheitlich. Die derzeitige Pandemie, die Zunahme autoritärer, rassistischer und fremdenfeindlicher Regime auf dem ganzen Globus sowie Diskussionen über erneuerbare Energien, fossile Brennstoffe, Klimawandel, Überschwemmungen, Extremwetterlagen, Wasserknappheit, Rückgang der Biodiversität, das Anthropozän und so weiter - all dies signalisiert uns, wenn auch verschwommen, dass mit unserem Planeten etwas nicht stimmt und dass dies mit menschlichem Handeln zu tun haben könnte. Bis10her sind geologische Ereignisse und die Geschehnisse, die der Geschichte des Lebens zugrunde liegen, Expert:innen und Spezialist:innen vorbehalten gewesen. Doch mittlerweile, so schemenhaft das auch empfunden wird, ist der Planet neben den uns schon vertrauteren Befürchtungen in Bezug auf den Kapitalismus, auf Ungerechtigkeit und Ungleichheit mehr und mehr zu einer Angelegenheit umfassender und tiefer menschlicher Sorge geworden. In jüngster Zeit hat die COVID-19-Pandemie auf tragische Weise illustriert, wie sich ausweitende und beschleunigende Globalisierungsprozesse Veränderungen der sehr viel längerfristigen Geschichte des Lebens auf diesem Planeten lostreten können.2 In diesem Buch geht es um diese gerade entstehende Objektkategorie menschlicher Sorge, den Planeten, und darum, welche Auswirkungen sie auf die uns vertrauten Globalisierungsgeschichten hat. Diese begriffliche Verschiebung ist während meiner Lebenszeit erfolgt, und ich hoffe, man wird mir vergeben, dass ich mit einigen autobiografischen Anmerkungen beginne.
Wie für viele andere Inder meiner Generation war für jemanden, der in den 1960er Jahren im von Ungleichheit geprägten, ungestümen, linksgerichteten Kalkutta heranwuchs, eine egalitäre und gerechte Gesellschaftsordnung etwas Schätzens- und Wünschenswertes. Akademisch schlug sich meine jugendliche Begeisterung später in meinen frühen Untersuchungen zur Geschichte der Arbeit und meiner Beteiligung an dem indischen Projekt der Subaltern Studies nieder, das die Anerkennung der Handlungsmacht (agency) sozial niedrigstehender, »subalterner« Menschen bei der Erschaffung ihrer eigenen Geschichte zum Ziel hatte. Außerdem wurde unser Denken tief beeinflusst vom weltweiten Aufstieg der Postcolonial, Gender, Cultural, Minority und Indigenous Studies sowie weiterer Wissenschaften, die der australische Gelehrte Kenneth Ruthven in den früher 1990er Jahren unter der Rubrik »neue Geisteswissenschaften« zusammengefasst hat.3
11In den Fängen des tiefgreifenden historischen Wandels, den wirbelnde Globalisierungsströme im Leben gewöhnlicher Mittelschichtsinder wie mir ausgelöst hatten, arbeitete ich zu dieser Zeit als Historiker und Gesellschaftstheoretiker an der University of Melbourne. Selbst nachdem ich 1995 an die University of Chicago gewechselt war, ließen die Fragen mich nicht los, die für die Kämpfe der einfachen Bevölkerung in meiner Jugend kennzeichnend gewesen waren: die Fragen nach Rechten, nach der Moderne, der Freiheit und nach einem Wechsel in eine vernünftigere und demokratischere Welt, als ich sie kennengelernt hatte. Mein Buch Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference (2000) war ein Produkt jener Jahre, in dem ich versuchte, anhand eines postkolonialen Rahmens ein Verständnis davon zu entwickeln, was antikoloniale und sich modernisierende Eliten in den früheren Kolonien mit ihrer Arbeit erreicht haben und erreichen konnten, die sich in einigen Fällen an der Grenze des geistigen Erbes eines imperialen Europas entlang bewegte, das sie gar nicht umhin konnten anzutreten. Dies war mein Diskussionsbeitrag zur Geschichte des Globus, den europäische Imperien, antikoloniale Modernisierer und das globale Kapital gemeinsam gestaltet hatten, und dieses Thema dominierte die Geschichtswissenschaft und andere Deutungsfächer in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bis ins 21. Jahrhundert hinein.4
Zu Beginn dieses Jahrhunderts geschah etwas, das mich zur Verlagerung meiner eigenen Perspektive zwang. Im Jahr 2003 forderte ein verheerender Buschbrand im australischen Capital Territory mehrere Menschenleben sowie das Leben vieler nichtmenschlicher Wesen, Hunderte Häuser brannten aus, alle Wälder und Parks in der Umgebung der berühmten »Buschhauptstadt« des Landes, Canberra, wurden zerstört. Dies waren Orte, die ich liebgewonnen hatte, als ich dort an meiner Doktorarbeit schrieb. Das von diesen tragischen Verlusten verursachte Gefühl der Trauer machte mich neugierig auf die Geschichte dieser spe12ziellen Brände, und als ich anfing, mich über ihre Ursachen zu informieren, erreichte die Nachricht von einem anthropogenen Klimawandel schnell die humanozentrische Gedankenwelt, die ich bis dahin bewohnt hatte: Wissenschaftlichen Behauptungen zufolge waren die Abermillionen Menschen durch ihre Anzahl und aufgrund ihrer Technologien zu einer geophysischen Kraft geworden, die imstande wäre, das Klimasystem des Planeten insgesamt auf furchterregende Weise zu verändern. Außerdem erfuhr ich von der wachsenden wissenschaftlichen Literatur über die Anthropozän-Hypothese, das heißt die Annahme, dass die Einwirkung des Menschen auf den Planeten so groß sei, dass sie eine Abänderung der geologischen Chronologie der Erdgeschichte verlange, um deutlich zu machen, dass der Planet die Grenzen des (etwa 11??700 Jahre alten) Holozäns überschritten habe und in ein neues Zeitalter eingetreten sei, das einen neuen Namen verdiene: das Anthropozän.5
Faktisch hatte die Gestalt des Menschen im Laufe meiner Lebenszeit eine Dopplung erfahren. Es gab (und gibt immer noch) den Menschen der humanistischen Geschichtsschreibung, der die Fähigkeit besitzt, gemeinsam mit anderen Menschen für Gleichheit und Fairness zu kämpfen und sich gleichzeitig um die Umwelt und bestimmte Formen nichtmenschlichen Lebens zu kümmern. Und dann war da noch jener andere Mensch, der Mensch als geologischer Handlungsträger (agent), dessen Geschichte sich nicht im Rahmen eines rein humanozentrischen Standpunkts erzählen ließ (den die meisten Kapitalismus- und Globalisierungsnarrative einnehmen). Die Verwendungsweise des Wortes Handlungsmacht in dem Ausdruck »geologische Handlungsmacht« wich stark von dem Begriff der »Handlungsmacht« ab, den meine Historikerhelden in den 1960er Jahren - E.??P. Thompson zum Beispiel oder unser Lehrer Ranajit Guha - geprägt und zelebriert hatten. Diese Handlungsmacht war nicht autonom und selbstbewusst, wie in Thompsons oder Guhas Sozialgeschichten, son13dern eine unpersönliche, unbewusste geophysische Kraft, die Folge kollektiven menschlichen Handelns.
Die Vorstellung von einem anthropogenen und planetarischen Klimawandel wird in der akademischen Welt heutzutage kaum noch in Frage gestellt, aber über die Idee des Anthropozäns hat es sowohl unter Natur- als auch unter Geisteswissenschaftler:innen viele Debatten gegeben.6 Außerdem ist der Ausdruck aufgrund dieser Diskussionen in den Geisteswissenschaften der Gegenwart zu einer populären und - wie häufig in solchen Diskussionen - vieldeutigen Kategorie geworden. Doch unabhängig davon, ob die Geolog:innen sich eines Tages bereiterklären werden, das Etikett »Anthropozän« formal anzuerkennen, machen die Daten, welche die von der Internationalen Kommission...
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