Schweitzer Fachinformationen
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Barcelona, August 1945
Eine liebende Mutter zieht das Schweigen stets der Wahrheit vor. In diesem Stillschweigen voller Ängste und Hoffnungen befindet sich der Ort, an dem man träumen kann. Es ist ein Ausweg aus der Dunkelheit, eine Zuflucht, um einer trostlosen Kindheit zu entfliehen und sich mit den vom Bürgerkrieg gestohlenen Jahren zu versöhnen.
Als Nil an jenem von Dunst und Feuchtigkeit getränkten Morgen aufwachte, freute er sich auf die versprochene Limonade mit Tarzan und Jane. Der hartnäckige Traum, der ihn seit Jahren verfolgte, war weit weg. Dieser Traum, in dem sein Vater in einer Zelle mit abgeblätterten, blutbespritzten Wänden verzweifelt seinen Namen rief und einen Unbekannten anflehte, ihm nicht länger wehzutun.
In der kleinen, vom ersten Morgenlicht gefluteten Küche brütete seine Mutter Soledad über den Rechnungsbüchern der Schreinerei von Joan Romagosa, die für das klägliche Einkommen verantwortlich war, das ins Haus kam und sie über Wasser hielt. Schwarzhandel, Reparaturarbeiten und andere Geschäfte. Als sie ihren Sohn bemerkte, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Wenn es einen Moment am Tag gab, der ihr ein Lächeln entlockte, dann war es dieser. Als wollte sie einem höheren Wesen dafür danken, dass sie einen weiteren Tag mit ihrem Sohn zusammen sein konnte und er ihr nicht genommen worden war wie die kleine Rosa. Nil küsste seine Mutter mit dem Temperament eines Jungen, der noch nicht zum Mann geworden war, und stürzte sich begeistert auf den Toast, der auf dem Tisch stand.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Junge.«
Soledad schloss ihren Sohn fest in ihre Arme und öffnete dann die Schublade der Anrichte - das einzige Möbelstück, das noch im Wohnzimmer stand. Die übrigen Möbel hatten sie verheizt, um die Kälte des letzten Winters zu vertreiben. Ein in Packpapier gewickelter Gegenstand von der Größe einer Paellapfanne entlockte dem Kind ein Lächeln.
»Ich weiß, was es ist!«
Als Nil das Geschenk auspacken wollte, bot seine Mutter an, ihm zu helfen, doch der Junge quittierte das Angebot lediglich mit einem missbilligenden Blick. Der Armstumpf, der im Winter unter einem schlackernden Jackenärmel steckte, nun jedoch deutlich zu sehen war, wurde von seinem Besitzer mit stillem Gleichmut getragen. Wieder einmal bewies Nil, wie geschickt er mit seiner rechten Hand war, und wickelte das Geschenk in derselben Zeit aus, die auch seine Mutter dafür gebraucht hätte. Die Filmrolle auf dem Tisch brachte das Gesicht des Jungen zum Strahlen.
»Das hat Bernardo eingefädelt«, sagte Soledad, während sie den Morgenmantel zurechtrückte, den sie zu dieser frühen Stunde immer trug, unabhängig von der Jahreszeit. »Es ist ein verbotener Film, der in Spanien vielleicht nie zu sehen sein wird. Er heißt Der große Diktator.«
»Woher hat er ihn?«
»Das musst du ihn selbst fragen.«
Nil stand vor der Filmrolle, als sein Blick auf den leeren Stuhl fiel, auf dem nur eine Erinnerung saß, eine schmerzliche Abwesenheit. Es war ein Schmerz, der trotz der vergangenen Zeit nicht nachließ. »Wieder ein Geburtstag ohne Papa«, sagte er mit erstickter Stimme. Soledad holte tief Luft. Sie war es leid, ihm nicht sagen zu können, wann sein Vater zurückkam, deshalb beschloss sie zu schweigen. Inzwischen hatte sie sich an ihre eigene Machtlosigkeit gewöhnt, obwohl sie sie immer noch schmerzte.
»Komm jetzt frühstücken.«
Nil gehorchte, nicht ohne vorher mit der rechten Hand über die Filmrolle zu streichen, in der sich Verbotenes verbarg, und sie mit erwartungsvollem Respekt zu betrachten.
»Sollen wir teilen?«, schlug Nil vor, das Toastbrot in der Hand. Sonnenstrahlen fielen durch das Balkonfenster. Die Mutter schüttelte lächelnd den Kopf.
In jenen Jahren litten alle Hunger. Hunger, Angst und Leid waren die Übel, die die ganze Stadt peinigten. Sie stellte ihrem Sohn ein Glas warme, mit Wasser verdünnte Milch hin, dann setzte sie sich ihm gegenüber und betrachtete ihn liebevoll. Sie hatte es ihm nie gesagt, aber Nil wusste, wie gerne sie ihm bei den alltäglichen Dingen zusah, umgeben von dieser Unschuld, die ihr selbst so fremd geworden war.
»Der Señor Romagosa wird von Tag zu Tag älter«, bemerkte Soledad mit müder Stimme. »Und ehrlich gesagt weiß ich nicht, was wir machen sollen, wenn ich ohne Arbeit dastehe, Nil.«
»Ich kann mit der Schule aufhören und als Fahrradkurier für gleich acht Kinos arbeiten«, rief der Junge, während seine Mutter schweigend den Tisch abräumte und niedergeschlagen im Schlafzimmer verschwand, das sie sich teilten.
Es kam für sie nicht infrage, dass ihr Junge für das häusliche Auskommen sorgte. Nil hingegen fand es eine fantastische Idee, nicht nur an den Wochenenden Filmrollen auszuliefern, sondern jeden Tag. Vor allem bräuchte er diese düstere, spießige Klosterschule nicht mehr zu besuchen, wo die Priester nicht grüßten, sondern einem die Hand zum Kuss hinhielten. Nicht wenige Male hätte Nil am liebsten reingebissen. Dieses Ritual, das ihm selbst nur ein Lächeln entlockte, wurde von den Priestern als Geste der Unterwürfigkeit und des Wohlverhaltens aufgefasst, die ihm mehr als einen belehrenden Vortrag über die Herrlichkeit Francos ersparte. Er konnte nicht verstehen, dass Gott seinen Posten verlassen und sie diesem schmächtigen General ausgeliefert hatte, der ihm seinen Vater weggenommen hatte.
»Sie sagen, ich sei einer ihrer besten Kuriere.«
Soledad überhörte die Bemerkung ihres Sohnes und erinnerte ihn noch einmal wie jeden Tag an seine Pflichten, eine Aufzählung, die zu einer Art Ritual geworden war, genau wie die Ermahnungen, die auf das allgemeine Misstrauen zurückzuführen waren, das in der Stadt herrschte: »Sprich nicht mit Fremden und erzähle nicht von deinem Vater. Lass keinen in die Wohnung und bring dich nicht in Schwierigkeiten. Gerede führt immer zu Schwierigkeiten.« Dann trug sie ihm auf, mit dem Bezugsschein zum Lebensmittelladen Breda zu gehen und dann noch zur Schusterei von Jacinto, damit der zum vierten Mal seine Schuhe neu besohlte.
Nur einen Augenblick, nachdem sich Soledad auf den Weg zur Schreinerei gemacht hatte, ließ Bernardo Más, ein guter Nachbar, Freund der Familie und von Beruf Filmvorführer, den Türklopfer mit so viel Schwung fallen, dass dieser noch einmal nachhüpfte, wie sie es als Erkennungszeichen ausgemacht hatten.
»Herzlichen Glückwunsch, mein Junge. Schau mal.« Bernardo trat ein und grinste bis über beide Ohren, während er auf eine rot umkringelte Meldung in der La Vanguardia Española deutete.
Der Krieg in Asien ist vorbei.
»Aber das ist weit weg, Bernardo.«
»Ja. Aber jetzt können sich die Amerikaner wieder um das kümmern, was sie am besten können. Das hier.«
Bernardo zog ein Filmplakat aus der Hosentasche und rollte es auf. Darauf befand sich John Wayne mit Cowboyhut und Revolver in der Hand. Nil betrachtete bewundernd sein Idol und strich über das Plakat.
»Ist er der Beste oder nicht?«, fragte Bernardo.
»Tarzan finde ich noch besser.«
»Also willst du nicht Ringo sehen?«
Der Junge schüttelte den Kopf, als er den Namen des Kinos las, in dem der Film gezeigt wurde.
»Das Coliseum werde ich nie mehr im Leben betreten«, stellte Nil klar, während er sich unter Bernardos mitfühlendem Blick den Armstumpf rieb.
In Bernardos Inneren brodelte eine nur mühsam bezähmte Wut. An so vielen Ecken war Barcelona voller Blut und Leid, und auch wenn die Wunden verheilten, würde er niemals vergessen.
»Das habe ich mir gedacht, Junge. Aber wer hat gesagt, dass wir dort hingehen?« Er zwinkerte ihm mit dem guten Auge zu, dem Auge, das nicht hin und her rollte wie eine wild gewordene Murmel. »Weißt du eigentlich, dass keiner im ganzen Land diesen Film hier hat?«, sagte er schließlich, um der Situation die Spannung zu nehmen, und deutete auf das Geschenk, das auf dem Tisch lag. Nil trat begeistert näher.
Bernardo ging auf die fünfzig zu, war von beeindruckender Statur, hatte breite Schultern und eine tiefe, sonore Stimme, die so gar nicht zu dem gutmütigen Gesichtsausdruck passte, der ihm zusammen mit der wulstigen Unterlippe das Aussehen eines Menschen verlieh, den man gemeinhin eine »gute Seele« nannte. Sommers wie winters trug er stets eine wollene Baskenmütze auf dem kahlen Schädel und rasierte sich nur einmal in der Woche.
Bernardo wohnte ein Stockwerk über Nil und teilte Tisch und Bett mit Paulino Blanch, dem affektierten Platzanweiser aus dem Kino América. Auch Paulino war um die fünfzig, was angesichts der glatten Haut, um die ihn viele Nachbarinnen beneideten, niemand vermutet hätte. Mochte sein, dass sein Gehalt nicht ausreichte, um ein Stück Brot mit Stockfisch zu essen, doch wenn er vorüberging, umwehte ihn stets der unverwechselbare Geruch nach Aftershave der Marke Varon Dandy. Paulino war ein zurückhaltender Mensch, der eine Erziehung genossen hatte, wie sie im Viertel nicht gerade häufig war. Was Bernardo anging, so liebte er Kino und Schnaps gleichermaßen und war von morgens früh bis abends spät in Plauderlaune.
»Was ist mit deinem Versprechen?«, rief ihm Nil nun in Erinnerung.
Bernardo blickte auf, hob fragend die Augenbrauen und forschte in seinem Gedächtnis, doch trotz angestrengten Nachdenkens fand sich dort nichts. Angesichts von Nils enttäuschter Miene war seiner eigenen Miene die Beunruhigung anzusehen.
»Ihr Erwachsenen seid alle gleich«, stellte der Junge verärgert fest.
Bernardo konnte nicht glauben, dass der...
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