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Es war in diesem verrückten Jahr, als der Orkan Kyrill über Europa hinwegfegte. Das war im Jänner. Ich erinnere mich, dass ich abends das Fenster öffnete und diese Luft hereinströmte, die sich nicht anfühlte wie Luft, sondern wie etwas Dickeres, Dichteres, etwas, das sich im Übergang befand zwischen Gas und Flüssigkeit, zu warm, zu feucht, zu schwer zum Atmen. Draußen war es still wie in einer Kirche. Im Fernsehen hatten sie gesagt, man solle die Fenster schließen und im Haus bleiben. Ich blieb am Fenster stehen und rauchte eine Zigarette. Eine Frau kam mit ihrem Hund die Straße entlang, ihre Schritte hallten, als durchquerte sie einen leeren Betonbau. Da ich in der Nacht zuvor gearbeitet hatte, war ich müde und ging früh ins Bett. Ich schlief wie ein Stein, vom Orkan bekam ich nichts mit. Am nächsten Morgen war die Straße übersät mit allem möglichen Müll und Ästen, entlang des Parks lagen ganze Baumstämme quer und blockierten Fahrbahn und Gehsteig. Ich flankte über sie hinweg, als ich mir mein Frühstück holte.
Der Jänner blieb warm und stürmisch, und als es März wurde, hatten wir eigentlich keinen richtigen Winter gehabt, dafür weitere Stürme und eine Menge Regen. In den Nachrichten hörte ich, dass die Stürme in Mitteleuropa drastisch zugenommen hätten und man sich in Hinkunft an sie gewöhnen müsse.
Im April geriet meine Beziehung zu Hannah ins Trudeln. Wir stritten uns, was bis dahin kaum vorgekommen war. Es begann mit einer Essenseinladung bei ihrer Familie, zu der ich nicht mitkommen wollte. Obwohl wir schon zwei Jahre zusammen waren, hatte ich noch niemanden von ihrer Verwandtschaft kennengelernt. Ich fand, das konnte so bleiben. Es lag nicht daran, dass ich besonders schüchtern war oder mich ihre Leute nicht interessierten. Es lag an den Fragen. Und die Fragen würden kommen, da war ich mir sicher.
Und, was machen deine Eltern so?
Schon wäre ich geliefert.
Nein, ich bin keine Waise. Ich bin nicht im Kinderheim aufgewachsen und auch nicht adoptiert. Ich weiß, wer mich gezeugt und wer mich geboren hat, und ich kenne sie beide. Trotzdem würde ich diese zwei Menschen niemals in einem Wort und Atemzug als meine Eltern bezeichnen. Genau genommen hat es im Laufe meines Lebens keine einzige Gelegenheit gegeben, die die Anwendung dieses vergemeinschaftenden Begriffs notwendig gemacht hätte. Ich könnte es mir einfach machen und sie meine leiblichen Eltern nennen. Aber das würde die beiden auf ihre biologische Funktion beschränken und die Vermutung nahelegen, dass es irgendwo ein anderes Elternpaar gibt, das mich aufgezogen, erzogen, verzogen hat - Zieheltern also -, und so war es nicht. Das ginge an der Wahrheit vorbei und diese Wahrheit war nichts, was ich beim Essen mit der Familie meiner Freundin erklären wollte.
Auch die Frage nach Geschwistern hätte mich in Verlegenheit gebracht. Ich habe zwei Stiefbrüder, einen Halbbruder, und dann sind da noch die Töchter der ersten Frau meines Stiefvaters aus zweiter Ehe . vor meinem geistigen Auge sah ich die Mischung aus peinlichem Berührtsein und angestrengter Konzentration im Blick von Hannahs Eltern, während sie versuchten, meine Familienverhältnisse zu verstehen.
Dazu kam, dass Hannah fast zehn Jahre älter war als ich, und unser Altersunterschied würde noch andere Fragen nach sich ziehen, Fragen wie: Was willst du denn später einmal machen? Kann man vom Platten-Auflegen eigentlich leben?
Ich erklärte Hannah, ich fühlte mich noch nicht bereit.
Nur keine Eile, sagte Hannah, du kannst meine Eltern ja auch noch auf dem Friedhof kennenlernen. Das wird bestimmt nett.
In der Folge gab es weitere Streits, die Lage spitzte sich zu und gegen Ende April herrschte Funkstille zwischen uns. Ich war verwirrt und unglücklich und ließ mich ein wenig gehen. Ich machte meine fixen Jobs und die Sachen, die schon seit längerem ausgemacht waren, aber ich bemühte mich kaum um neue, und an den Tagen, an denen nichts zu tun war, saß ich zuhause herum, hörte Musik und starrte ins Leere.
An einem dieser Tage war ich bei Toni babysitten. Toni ist eine Zeitlang die Freundin meines Stiefvaters gewesen, bis sie den Exfreund meiner Tante Bea kennengelernt und mit ihm Max gezeugt hat. Max war inzwischen fünf und ich passte manchmal auf ihn auf, wenn Toni ausging oder er krank war und nicht in den Kindergarten gehen konnte. Diesmal hatte er die Windpocken und Toni musste dringend zur Arbeit, also rief sie mich an.
Hattest du als Kind die Windpocken?, fragte sie mich.
Das mit den Bläschen, die so höllisch jucken und wo man dieses weiße Zeug draufschmiert?, fragte ich zurück
Ich hatte ein Bild im Kopf. Mein jüngerer Halbbruder Julius, der nackt durch die Wohnung rennt, verfolgt von Jenny, ein Fläschchen mit einer milchigen Flüssigkeit in der einen und einem Wattestäbchen in der anderen Hand. Jul, gefleckt wie eine Kuh, weinend, der seinen kleinen Penis mit beiden Händen bedeckt, während Jenny beruhigend auf ihn einredet und ihm ein paar letzte Kuhflecken verpasst.
Genau das, sagte Toni.
Kann mich nicht erinnern.
Bist du bereit, es zu riskieren und auf Max aufzupassen? Ich muss unbedingt auf zwei, drei Stunden ins Büro, sonst bricht dort alles zusammen.
Ich werd' schon nicht sterben, sagte ich, bin schon unterwegs.
Eine Stunde später saß ich mit Max in seinem Zimmer auf dem Boden. Wir zeichneten. Max zeichnete viel und gerne, hauptsächlich fantastische Landschaften und Tiere, die es nicht gab. Wie bei allen Zeichnungen von Fünfjährigen fehlte die räumliche Perspektive und die Proportionen schienen oft grotesk, doch seine Vorstellung von diesen Welten und Wesen war so detailliert, dass er oft ziemlich lange brauchte, um sie aufs Papier zu bringen, und dabei eine für sein Alter ungewöhnliche Ausdauer entwickelte.
An jenem Vormittag, an dem er den Stift alle paar Minuten dazu benutzte, sich irgendwo zu kratzen, und ich versuchte, ihn davon abzuhalten, zeichnete er ein vielarmiges Wesen, ein grinsendes Monster, halb gutmütig, halb diabolisch, mit Hasenohren und einem Zylinder auf dem Kopf, was mich ein wenig an Alice im Wunderland erinnerte. Ich vermutete, dass er vielleicht den Film gesehen hatte oder dass Toni, die unter anderem Bücher illustrierte, ihm aus dem Buch vorgelesen hatte, doch er erzählte mir, er habe im Fernsehen einen Zauberer gesehen und sich gefragt, warum er ein Kaninchen aus seinem Hut zauberte und nicht ein Meerschweinchen. (Max wünschte sich eines, schon lange. Er sagte Meerweinchen, weil er das schw nicht aussprechen konnte.) Dann sah er plötzlich von seiner Zeichnung auf, heftete seinen Philosophenblick auf mich und fragte:
Bist du verwandt?
Wie? Mit wem?
Max biss sich auf die Unterlippe und sein Blick wanderte ins Leere. Offensichtlich wusste er nicht, wie er seine Frage anders formulieren sollte, doch im selben Moment fiel in meinem schlecht programmierten Erwachsenenhirn der Groschen.
Du meinst wir beide?, fragte ich. Ob wir miteinander verwandt sind?
Max nickte und strahlte. Ja - ob du verwandt bist.
Ich seufzte. Das ist eine schwierige Frage, sagte ich.
Warum, wollte Max wissen.
Na ja. Eigentlich sind wir nicht verwandt.
Nein?
Nein.
Max machte ein enttäuschtes Gesicht.
Aber Toni sagt, du gehörst zur Familie.
Zu welcher Familie?, fragte ich.
Max zuckte mit den Schultern. Er zeichnete jetzt wieder, sein Monster bekam einen weiteren Arm. Ich und Toni, sagte er. Tante Bea. Gisela und Jenny. Und Jul und Lilli. Mila nicht, sie hat einmal mein Legohaus kaputtgemacht.
Ich musste grinsen.
Möchtest du, dass ich dazugehöre?
Max nickte heftig. Mir wurde ziemlich warm. Ich zog meinen Pullover aus.
Also, wenn du es möchtest und Toni es sagt, dann gehöre ich dazu.
Max nickte noch einmal. Dann sah er mich wieder an, mit prüfendem Blick.
Aber für einen Bruder bist du zu alt, stellte er fest.
Na hör mal. Ich bin doch auch Juls Bruder.
Ja, aber der geht schon aufs Gynasium, sagte Max. Es klang, als hätte es etwas mit Nase zu tun. Außerdem - er nahm den Stift in seine kleine Faust und kratzte sich umständlich am Rücken - habt ihr dieselbe Mama.
Das war nicht zu leugnen.
Ja, schon, sagte ich vorsichtig. Aber du weißt doch: Toni und ich haben eine Zeitlang in derselben Wohnung gewohnt. Zusammen mit Janek. Es ist zwar schon eine Weile her - du warst noch nicht auf der Welt -, aber damals hat sie für mich Mittagessen gekocht, mir bei den Hausaufgaben geholfen, mir Tee gemacht und Medizin gegeben, wenn ich krank war. Sachen, die sie auch für dich macht.
Ich habe noch keine Hausaufgaben, sagte Max ein wenig trotzig, und ich begriff, dass ich seine Exklusivität verletzt hatte, eine Exklusivität, die ich so nie erlebt hatte und für die mir das Gefühl fehlte.
Aber du wirst bald welche haben, insistierte ich, und Toni wird dir dabei helfen, so wie sie mir geholfen hat.
Ich wusste, dass ich meinen Finger nochmals in dasselbe Loch bohrte, aber ich konnte nicht anders - ich wollte ihm etwas erklären. Mein Blick fiel auf seine Zeichnung.
Schau, das ist ein bisschen wie dieses Ding auf deiner Zeichnung -
Der Mikantu?
Richtig, wie dein Mikantu.
Wer, Toni? Max schaute verwirrt drein. Aber sie hat nur zwei Arme.
Richtig. Und manchmal sind zwei Arme zu wenig. Toni kann mit ihren zwei Armen nicht gleichzeitig im Büro am Computer Sachen...
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