Schweitzer Fachinformationen
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Melchor ist noch im Büro und sehnt sich mit gärender Ungeduld nach dem Ende der Nachtschicht, da klingelt das Telefon. Es ist der Kollege an der Pforte des Polizeireviers: Zwei Tote im Landhaus der Adells, meldet er.
»Die von Gráficas Adell?«, fragt Melchor.
»Ebendie«, antwortet der Polizist. »Weißt du, wo sie wohnen?«
»An der Landstraße nach Vilalba dels Arcs, oder?«
»Genau.«
»Ist jemand von uns vor Ort?«
»Ruiz und Mayol. Sie haben eben angerufen.«
»Ich fahre hin.«
Bisher war die Nacht so ruhig wie immer verlaufen. In diesen frühen Morgenstunden ist fast niemand auf dem Revier, und als Melchor das Licht ausschaltet, das Büro abschließt, die verlassene Treppe hinuntergeht und dabei in sein Sakko schlüpft, kann man die Ruhe fast mit Händen fassen, und ihm kommt seine erste Zeit in Terra Alta in den Sinn, als er noch nach dem Lärm der Stadt süchtig gewesen war, das ländliche Schweigen ihn um den Schlaf gebracht und er mit Romanen und Tabletten gegen die hellwachen Nächte angekämpft hatte. Sein Gedächtnis holt ein vergessenes Bild zurück: das des Mannes, der er vor vier Jahren gewesen ist, bei seiner Ankunft in Terra Alta. Ebenso bringt es ihm eine Erkenntnis: dass dieser Mann und er zwei verschiedene Menschen sind, einander so entgegengesetzt wie ein Gesetzesbrecher und ein Gesetzeshüter, wie Jean Valjean und Monsieur Madeleine, der aufgespaltene, widersprüchliche Protagonist aus Die Elenden, sein Lieblingsroman.
Im Erdgeschoss nimmt sich Melchor aus der Waffenkammer seine Walther P99, 9 mm, und eine Schachtel Munition und denkt, dass er allzu lange schon nicht mehr Die Elenden gelesen hat und dass er an diesem Morgen wohl oder übel auf das gemeinsame Frühstück mit Frau und Tochter wird verzichten müssen.
In der Garage steigt er in einen Opel Corsa, verlässt das Revier in Richtung des benachbarten Spielplatzes und ruft Sargento Blai an.
»Bete, dass es wichtig ist, Sauspanier«, knurrt der Polizist, die Stimme triefend von Schlaf. »Sonst häng ich dich an den Eiern auf.«
»Zwei Leichen im Landhaus der Adells«, sagt Melchor.
»Der Adells? Welcher Adells?«
»Die von Gráficas Adell.«
»Erzähl keinen Scheiß.«
»Kein Scheiß«, sagt Melchor. »Eben hat eine Streife angerufen. Ruiz und Mayol sind schon da. Ich bin unterwegs.«
Sargento Blai, plötzlich hellwach, legt mit Anweisungen los.
»Erzähl mir nicht, was ich zu tun habe«, unterbricht ihn Melchor. »Nur eins: Soll ich Salom und die Kriminaltechniker anrufen?«
»Nein, das übernehme ich«, sagt Sargento Blai. »Gott und die Welt muss benachrichtigt werden. Du sichere den Tatort, sperr alles rund ums Haus ab .«
»Keine Sorge, Sargento«, unterbricht Melchor wieder. »In fünf Minuten bin ich da.«
»Gib mir eine halbe Stunde«, sagt Sargento Blai und murmelt wie zu sich selbst: »Die Adells, verdammte Scheiße. Das gibt einen Mordsskandal.«
Ohne die Sirene einzuschalten oder das Blaulicht auf das Dach des Opel Corsa zu setzen, rast Melchor durch Gandesas Straßen, zu dieser Zeit fast so verlassen wie die Treppen und Gänge des Reviers. Doch nur fast. Ab und an begegnet ihm ein Fahrradfahrer in Fahrradkluft, ein Jogger im Jogginganzug, ein Wagen, von dem man nicht weiß, ob er von einer langen Samstagnacht zurückkehrt oder einen langen Sonntag beginnt. Es wird Tag in Terra Alta. Ein aschgrauer Himmel läutet einen Morgen ohne Sonne ein, beim Hotel Piqué biegt Melchor links ab und verlässt Gandesa über die Landstraße Richtung Vilalba dels Arcs. Dort dreht er auf und nimmt wenige Minuten später einen unbefestigten Weg, der nach hundert Metern auf ein Landhaus trifft. Es ist von einer hohen Steinmauer umgeben, die oben mit Scherben gespickt und fast ganz von Efeu überwachsen ist. Das breite, braune Metalltor ist nur angelehnt, und davor steht ein Streifenwagen, dessen Blaulicht in der Morgendämmerung blinkt. Neben dem Wagen versucht Ruiz gerade eine ältere Frau mit Indio-Zügen zu trösten, die auf einer Steinbank sitzt und weint.
Melchor steigt aus und fragt, was passiert ist.
»Ich weiß es nicht«, antwortet der Streifenpolizist und deutet auf die Frau. »Das ist die Köchin des Hauses. Sie hat uns angerufen. Sie sagt, drinnen sind zwei Tote.«
Die Frau zittert am ganzen Leib, ist in Tränen aufgelöst und presst im Schoß die Hände zusammen. Melchor versucht sie zu beruhigen und stellt ihr die gleiche Frage, die er Ruiz gestellt hat, doch die Antwort ist nur ein entsetzter Blick und unverständliches Gestammel.
»Und Mayol?«, fragt Melchor.
»Drinnen«, antwortet Ruiz.
Melchor weist ihn an, den Eingang abzusperren und zu bewachen, sich um die Frau zu kümmern und auf die anderen zu warten. Dann betritt er das Anwesen, dessen Tor von zwei Kameras überwacht wird, und nimmt mit raschem Schritt den Weg durch einen gepflegten Garten - auf der Wiese wachsen Weiden, Maulbeer- und Kirschbäume, Rosen, Fingerhut, Margeriten, Pfingstrosen, Lilien, Geranien, Veilchen und Jasmin -, nach einer Biegung präsentiert sich ihm die Fassade des dreistöckigen alten Hauses, die große Holztür, das Gitterwerk der Balkone und das ausgebaute Dachgeschoss mit Fenstern, die ein Stuckgesims verbindet. Am Türpfosten lehnt Mayol, die Knie leicht gebeugt, die Pistole mit beiden Händen gepackt - das Dunkelblau seiner Uniform hebt sich vom dunklen Ocker der Fassade ab -, er hat ihn schon gesehen und winkt ihn heran.
Melchor zieht die Pistole, ihm fällt das Schnörkelmuster eines Autoreifens auf dem Weg auf, der sich vor der angelehnten Haustür nun zu einem Platz weitet.
»Bist du schon reingegangen?«, fragt er Mayol und lehnt sich gegen den anderen Türpfosten.
»Nein«, entgegnet Mayol.
»Ist jemand drinnen?«
»Ich weiß nicht.«
Melchor sieht sich das Türschloss an, es ist nicht aufgebrochen. Dann sieht er sich Mayol an: Er schwitzt, Angst in den Augen.
»Halt dich hinter mir«, sagt er.
Mit einem Tritt öffnet Melchor die Tür und geht ins Haus. Mit höchster Vorsicht inspiziert er, hinter ihm Mayol, das düstere Erdgeschoss: eine Diele mit Garderobe, eine große Truhe, Glasschränke mit Büchern, Sesseln, ein Aufzug, ein Bad, zwei Schlafzimmer mit Kleiderschränken, unberührten Betten und Waschgeschirr aus Keramik, eine gut gefüllte Vorratskammer. Dann geht er über eine Steintreppe in den ersten Stock und steht in einem großen Wohnzimmer, das einzig von einer Deckenlampe erleuchtet wird. Was er dort sieht, überflutet ihn ein paar ewige Sekunden lang mit dem übermächtigen Gefühl des Unwirklichen, aus dem ihn schließlich das röchelnde Stöhnen Mayols reißt, der sich übergibt.
»Mein Gott!«, stammelt der Streifenpolizist und gibt immer noch einen widerlichen Brei von sich, Galle und Reste von Essen. »Was ist hier passiert?«
Zum ersten Mal, seit er in Terra Alta ist, befindet Melchor sich am Tatort eines Mordes. Früher war er oft an solchen Tatorten gewesen, kann sich aber nicht erinnern, dergleichen je gesehen zu haben.
Zwei blutige, rotviolette Fleischbündel sitzen einander gegenüber auf einem Sofa und einem Sessel, vollgesogen mit einer klumpigen Flüssigkeit - einer Mischung aus Blut, Eingeweiden, Knorpeln, Haut -, die auch die Wände, den Boden, sogar den Kaminabzug bespritzt hat. In der Luft schwebt der mächtige Geruch nach Blut, gemartertem Fleisch und Qual, dazu eine merkwürdige Stimmung, als bewahrten die Wände noch die Leidensschreie, die sie miterlebt haben. Doch zugleich spürt Melchor in der Atmosphäre des Zimmers - und das verstört ihn vielleicht am meisten - eine Art Jubel oder Euphorie, mit Worten nicht zu fassen, doch müsste er sie beschreiben, dann vielleicht als fröhlichen Nachklang eines makabren Karnevals, eines wahnsinnigen Rituals, eines freudigen Menschenopfers.
Überwältigt geht Melchor auf diese zweifache Schreckensmasse zu, versucht dabei, nicht auf Beweise zu treten (auf dem Boden liegen zwei blutgetränkte Stofffetzen, die zweifellos als Knebel gedient haben), und als er das Sofa erreicht, erkennt er auf den ersten Blick, dass die beiden blutigen Bündel die gründlich gefolterten und verstümmelten Körper eines Mannes und einer Frau sind. Ihnen wurden Augen, Fingernägel, Zähne und Ohren ausgerissen, die Brustwarzen abgeschnitten, sie wurden aufgeschlitzt und ausgeweidet. Ansonsten sieht man am hellgrauen Haar und den schlaffen, knochigen Gliedern (oder was davon übrig ist), dass es sich um zwei alte Menschen handelt.
Melchor hat das Gefühl, als könnte er sich von diesem Anblick im diffusen Licht der Deckenlampe ganze Stunden lang nicht mehr losreißen.
»Sind es die Adells?«, fragt er.
Mayol, der ein paar Meter entfernt stehen geblieben ist, kommt heran und lässt sich die Frage wiederholen.
»Ich glaube schon«, antwortet er.
Melchor hat die Adells auf Fotos in der Lokalpresse und in Prospekten gesehen, aber niemals persönlich, und erkennt bei diesem Gemetzel nicht das Geringste wieder.
»Bleib hier, niemand soll etwas anfassen«, sagt er zu Mayol. »Sargento Blai muss jeden Augenblick kommen. Ich sehe mich um.«
Das Landhaus ist riesig, hat unzählige Zimmer und wirkt auf eine Art umgebaut, die Melchor nach Architekturzeitschrift aussieht: Die Grundstruktur ist beibehalten, der Rest modernisiert. Zwischen dem ersten und dem zweiten Stock entdeckt Melchor in einem Zimmerchen, früher vielleicht eine Speisekammer, ein Schaltpult mit mehreren toten Bildschirmen. Es ist...
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