Schweitzer Fachinformationen
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Cosettes erste Erinnerung an ihren Vater war eindringlich: Sie saß hinten im Auto in einem Kindersitz, er saß am Lenkrad und teilte ihr mit, dass ihre Mutter gestorben war. Sie verließen gerade Terra Alta, und ihr Vater sah sie nicht einmal im Rückspiegel an, blickte nur in sich hinein oder nach vorne auf dieses Asphaltband, das sie immer weiter weg führte, Richtung Barcelona. Dann versuchte ihr Vater zu erklären, was das eben Gesagte bedeutete, bis sie schließlich begriff, dass sie ihre Mutter nie mehr sehen würde und sie beide von nun an allein waren, auf sich gestellt. Mit dieser ersten Erinnerung verband sie zwei weitere, nicht weniger eindringliche, beide mit dem Schimmer des Unheimlichen überzogen. In der einen tauchte neben ihrem Vater der Winkeladvokat Vivales auf, der für ihn das gewesen war, was einem eigenen Vater am nächsten kam. Diese Erinnerung spielte sich unmittelbar nach der ersten ab, in einer trostlosen Cafeteria mit großer Fensterfront, die sie viele Jahre später als die Raststätte El Mèdol auf der Mittelmeerautobahn identifizieren würde. Ihr Vater und Vivales unterhielten sich, während sie im Spielbereich eine Rutsche hinaufkletterte und hinunterglitt (intuitiv wusste sie, dass die beiden Männer von ihr sprachen, von ihr und ihrer toten Mutter). Dann war ihr Vater zurück nach Terra Alta gefahren und sie mit Vivales nach Barcelona. Die dritte Erinnerung stammte aus Barcelona, und auch in ihr tauchte Vivales auf, jedoch nicht ihr Vater, das heißt, er kam erst am Ende hinzu, nachdem sie mehrere Tage beim Anwalt verbracht hatte, zusammen mit dessen engsten Freunden Manuel Puig und Chicho Campà, die nicht von ihrer Seite wichen, als schwebte eine dunkle Gefahr über ihr und als wäre es die Mission dieses skurrilen Trios alter Wehrdienstkumpane, sie zu beschützen. Bis eines frühen Morgens wie ein Ritter in glänzender Rüstung ihr Vater auftauchte, die Gefahr verscheuchte und sie zurück nach Terra Alta brachte.
Cosettes Erinnerungen an ihre Mutter dagegen waren verschwommen oder geliehen. Eher verschwommen als geliehen, denn so sehr sie als kleines Mädchen in ihren Vater gedrungen war, er hatte ihr kaum etwas über die Mutter erzählt, als gäbe es da nichts zu erzählen oder so viel, dass er nicht wusste, wo anfangen. Die Verschlossenheit des Vaters trug dazu bei, dass Cosette ihre Mutter idealisierte. Obwohl sie aus anderen Gründen auch ihren Vater idealisierte, was sich als schwieriger erwies, denn letztlich war er ein Wesen aus Fleisch und Blut, ihre Mutter dagegen ein Gespenst oder Trugbild, das sie sich nach Belieben verschönern konnte. Als kleines Mädchen hatte Cosette in ihrem Vater, vor allem als er noch Polizist gewesen war, eine Art Held gesehen, eben den Ritter in glänzender Rüstung, der zu Vivales gekommen war, um sie zu retten. Oft hatte sie ihn sagen hören, die schlimmsten Bösewichte seien die vermeintlich Guten, und sie war überzeugt, dass er die Gabe hatte, sie ausfindig zu machen und zu bekämpfen, und aus dem gleichen Stoff gemacht war wie die Protagonisten der Abenteuerromane, die er ihr, seit sie denken konnte, abends vorlas, aus dem gleichen Stoff wie die Sheriffs und Helden aus den alten Western, die Vivales so gern gesehen hatte.
Vor allem in ihrer Kindheit war die Beziehung zum Vater eng gewesen. Zwar ging er eher kühl mit ihr um - zumindest auf Außenstehende wirkte es so - und zeigte sich ihr gegenüber zerstreut, gedankenverloren, fast abwesend. Das machte Cosette nichts aus, denn sie kannte es nicht anders und dachte, dass die Helden im wirklichen Leben nun einmal so waren: kühl, zerstreut, schweigsam, gedankenversunken, fast abwesend. Außerdem konnte Cosette darauf zählen, dass ihr Vater jeden Tag wenigstens eine oder eineinhalb Stunden lang seine Versunkenheit aufgab und sich nur ihr widmete. Das war der Augenblick, in dem er ihr Romane vorlas, bevor der Schlaf sie mit sich riss. Dann kam in ihm Wärme auf, Intimität und Begeisterung, die tiefer waren als jedes äußere Zeichen der Zuneigung, und sie empfand eine Verbundenheit mit ihm, die sie mit niemandem mehr empfinden sollte, als hüteten sie beide allein ein wichtiges Geheimnis. Während Cosette zum Teenager heranwuchs, wuchs jedoch auch ihre Überzeugung, dass die finstere Verschlossenheit des Vaters keine Charaktereigenschaft war, sondern die vergiftete Frucht der abwesenden Mutter. Und zudem überfiel sie der Verdacht, dass der Vater bisweilen die tote Mutter in ihr suchte und nur eine plumpe, minderwertige Version fand. So verwandelte sich das Gespenst (oder Trugbild), gegen das sie unbewusst ankämpfte oder auf dessen Höhe sie zumindest sein wollte. Der Kampf war von vornherein verloren und ihr nicht einmal wirklich bewusst; er hätte sie sogar zerstören oder zu einem eingeschüchterten, unsicheren Wesen ohne Rückgrat machen können.
Das war nicht der Fall. Während Cosettes Kindheit führten sie ein geordnetes, ruhiges Leben. Ihr Vater brachte sie morgens zur Schule und holte sie, wenn er vormittags Dienst auf dem Revier hatte, nachmittags ab; wenn nicht, übernahm das die Mutter von Elisa Climent, ihrer besten Freundin, die mit den beiden zum Fußballtraining fuhr oder nach Hause zum Schulaufgabenmachen, bis Cosettes Vaters sie nach seinem Arbeitstag dort abholte. Nachdem ihr Vater die Stelle im Revier aufgegeben hatte, gingen die beiden Freundinnen gewöhnlich zur nahe gelegenen Bibliothek, in der er nun arbeitete, machten dort ihre Hausaufgaben, lasen oder bereiteten sich auf Prüfungen vor, und anschließend fuhr ihr Vater sie zum Fußball oder brachte sie nach Hause. Manche Wochenenden übernachtete Cosette bei Elisa, manche Elisa bei Cosette.
Cosette war keine schlechte, aber auch keine ausgezeichnete Schülerin. Sie las gern, hatte aber weder Interesse am Literatur- noch am Geschichtsunterricht, an keiner der Geisteswissenschaften, dagegen eine Begabung für Mathematik. Ihre Tutoren beschrieben sie als brave, unauffällige, aufrichtige, eigenwillige Schülerin ohne Ehrgeiz. Doch sie begeisterte sich für den Sport und trat der Fußballmannschaft der Schule bei, zeigte außerdem Talent für das Schachspiel und nahm an mehreren Turnieren teil - drei davon gewann sie: zwei lokale und eines im Landkreis -, sie zwang ihren Vater sogar, die Spielregeln zu lernen, damit er mit seiner Tochter Partien austragen konnte, die er anfangs demütigend schnell verlor. Ebenso beschrieben die Tutoren sie als ein phantasievolles Mädchen, das sich im Nu in ihre Vorstellungswelt flüchten konnte.
Keine dieser Beschreibungen erstaunte ihren Vater. Cosette lag nur teilweise richtig: Er mochte ein gedankenverlorener, zerstreuter Vater sein, verbrachte jedoch viele Stunden mit ihr und kannte sie gut. Die beiden lebten gern in Terra Alta, gönnten sich jedoch hin und wieder einen Ausflug nach Barcelona und verbrachten im Sommer ein paar Tage in El Llano de Molina, Murcia, bei Pepe und Carmen Lucas, Freunde, die ihr Vater von seiner Mutter geerbt hatte. Das alte Pärchen hielt ständig Kontakt mit ihnen, sie schrieben Mails, riefen an und ermunterten sie, auch zu anderen Jahreszeiten zu Besuch zu kommen, was sie mehrmals auch taten. Cosette liebte sie, und sie liebten Cosette, die im Laufe der Jahre Freunde im Dorf gefunden hatte, von denen manche ganzjährig in El Llano lebten. Cosette wusste, dass ihr Vater diese bukolischen Auszeiten ebenfalls genoss, obwohl er dort kaum etwas anderes tat, als zu lesen, lange Siesta zu halten, in der Umgebung des Gemüsegartens zu joggen und mit Pepe und Carmen zu plaudern, vor allem mit Carmen. Für die Gartenarbeit hatte sich ihr Vater nie erwärmen können, begleitete aber die ehemalige Prostituierte und letzte Freundin seiner Mutter nachmittags zu ihrem Gemüsegarten und saß dort stundenlang auf der Erde und las, an die Wand des Geräteschuppens gelehnt. Was Barcelona anging, so verbrachten Cosette und ihr Vater manche Wochenenden in der Wohnung, die ihnen der Winkeladvokat im Stadtzentrum vererbt hatte. Ihr Vater wollte sie so bewahren, wie Vivales sie hinterlassen hatte, nicht etwa aus dem sentimentalen Aberglauben, die gespenstische Gegenwart des Anwalts an dem Ort heraufzubeschwören, an dem er gelebt hatte, seit er ihn kannte, sondern weil er nicht wusste, was er sonst damit anstellen sollte. Bei diesen Ausflügen in die katalanische Hauptstadt gingen sie in den Zoo, ins Naturwissenschaftliche Museum oder ins Kino, oft aßen sie auch mit Puig und Campà zu Abend, fast immer bei Letzterem, der zu Ehren von Vivales wahre Bankette mit ihnen feierte, bei denen sie wie die Schlemmer schaufelten. Samstags gingen sie vor- oder nachmittags meist ins Internet Begum, den Callshop, den der »Franzose« im Raval-Viertel besaß, unterhielten sich mit ihm, lasen, spielten Schach oder halfen dem alten Freund ihres Vaters sogar, das Geschäft zu führen. Der belohnte sie für ihren Besuch mit einer Einladung in ein Restaurant auf der Rambla oder im Raval. Nachdem sie einmal zu dritt im Amaya zu Mittag gegessen hatten, fragte Cosette, fasziniert vom sprudelnden Wortfluss und der tiefen Menschlichkeit des ehemaligen Gefängnisbibliothekars von Quatre Camins, ihren Vater, wo sie sich kennengelernt hätten.
»Hier in der Gegend«, sagte er.
»In der Gegend ist kein Ort«, gab Cosette zurück.
Sie waren gerade in einem Laden im Eixample-Viertel und kauften etwas fürs Frühstück ein, ihr Vater drehte sich mit einem Paket Kellogg's in der Hand zu ihr um, und sein Gesicht verriet deutlich, dass Cosette, mochte sie auch erst zehn sein, keine Lüge verdient hatte.
»Später erzähle ich es dir«, sagte er.
Damals wusste...
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