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Wie war ich auf die Idee gekommen, einen fiktionalen Text über den 23. Februar zu verfassen? Wie war ich auf die Idee gekommen, einen Roman über eine Kollektiv-Neurose beziehungsweise eine Kollektiv-Paranoia beziehungsweise über einen Kollektiv-Roman zu schreiben?
Jeder Schriftsteller ist irgendwann einmal so anmaßend, das Gefühl zu haben, die Wirklichkeit fordere einen Roman von ihm, nicht er sei derjenige, der auf der Suche nach einem Romanstoff ist, sondern ein Stoff, ein Roman, suche nach ihm. Mir ging es am 23. Februar 2006 so. Kurz davor hatte eine italienische Tageszeitung mich aufgefordert, einen Artikel über meine Erinnerungen an den Putsch von 1981 zu schreiben.[2] Ich nahm den Auftrag an und erzählte drei Dinge. Erstens: Ich war damals ein Held; zweitens: Ich war damals kein Held; drittens: Niemand war damals ein Held. Ich war ein Held, weil ich an jenem Nachmittag, kaum dass ich von meiner Mutter gehört hatte, dass eine Gruppe Guardia-Civil-Beamter mit gezogenen Waffen die Amtseinführung des neuen Ministerpräsidenten unterbrochen hatte, wie ein Blitz zur Universität gerast war - vor meinem inneren Auge eines Achtzehnjährigen lösten sich dabei in wilder Reihenfolge Bilder einer Stadt voll bewaffneter Revolutionäre, aufgebrachter Demonstranten, die empört ihre Ablehnung des Putsches zum Ausdruck brachten, und an jeder Straßenecke errichteter Barrikaden ab. Ich war kein Held, weil ich in Wirklichkeit nicht wie ein Blitz zur Universität gerast war, um mich wild entschlossen an der Seite der Verteidiger der Demokratie den putschenden Militärs entgegenzustellen, sondern im Gegenteil in der lüsternen Absicht, eine Kommilitonin aufzustöbern, in die ich rettungslos verknallt war; meine Hoffnung war es, den romantischen Augenblick - mir erschien er zumindest romantisch - ausnutzen zu können, um sie endlich zu verführen. Niemand war ein Held, denn als ich an diesem Nachmittag zur Universität kam, war dort niemand außer meiner Kommilitonin und noch zwei Studenten, die ebenso brav wie orientierungslos waren: An der Universität, wo ich studierte - und genau so war es an allen anderen spanischen Universitäten -, rührte niemand auch nur einen Finger, um seine Ablehnung des Putsches zum Ausdruck zu bringen; und in der Stadt, in der ich damals lebte - genauso war es in allen anderen spanischen Städten -, ging niemand auf die Straße, um sich den aufständischen Militärs in den Weg zu stellen. Bis auf eine Handvoll entschlossener Menschen, die ihre Bereitschaft zu erkennen gaben, für die Verteidigung der Demokratie ihre Haut zu riskieren, zog sich das gesamte Land zwischen die eigenen vier Wände zurück, um abzuwarten, ob der Putsch scheiterte. Oder Erfolg hatte.
So weit kurz zusammengefasst, was ich in dem Artikel schrieb; zweifellos weil das Schreiben vergessene Erinnerungen wachgerufen hatte, verfolgte ich die Artikel, Reportagen und Interviews, die zum 25. Jahrestag des Putsches erschienen, ungewohnt aufmerksam. Seltsam, sagte ich mir irgendwann: Ich hatte den Putsch vom 23. Februar als Totalversagen der Demokratie dargestellt, die meisten Artikel, Reportagen und Interviews schilderten ihn jedoch als grandiosen Triumph der Demokratie. Und damit waren sie nicht allein. Am selben Tag verabschiedete das spanische Parlament eine Erklärung,[3] in der das Folgende zu lesen war: »Das Fehlen jeglichen gesellschaftlichen Rückhaltes, die vorbildliche Haltung der Bevölkerung, das verantwortungsbewusste Vorgehen der politischen Parteien und der Gewerkschaften wie auch der Medien und insbesondere der demokratischen Institutionen (.) verurteilten den Staatsstreich zum Scheitern.« Noch mehr falsche Aussagen lassen sich wohl kaum mit so wenigen Worten machen - dachte ich wenigstens, als ich das las. Mein Eindruck war nämlich, dass es dem Putsch keineswegs an gesellschaftlichem Rückhalt gemangelt hatte, wie auch die Haltung der Bevölkerung kein bisschen vorbildlich war, wie auch das Vorgehen der politischen Parteien und der Gewerkschaften sich nicht durch Verantwortungsbewusstsein auszeichnete, wie auch, bis auf ganz wenige Ausnahmen, die Medien und die demokratischen Institutionen nichts unternahmen, um zum Scheitern des Putsches beizutragen. Aber was mich am meisten erstaunte und in mir das schmeichelhafte Gefühl hervorrief, die Wirklichkeit fordere einen Roman von mir, war nicht der skandalöse Mangel an Übereinstimmung zwischen meiner persönlichen Erinnerung an den 23. Februar und der Art, wie dieser Tag sich offensichtlich in der kollektiven Erinnerung darstellte, sondern etwas längst nicht so Auffälliges beziehungsweise viel Elementareres - auch wenn es mit dem erwähnten Mangel an Übereinstimmung wahrscheinlich zu tun hatte. Es handelte sich um ein Bild, das unweigerlich in allen Fernsehbeiträgen zum Thema erschien: Der Anblick von Adolfo Suárez, wie er, wenige Sekunden nach dem Eindringen von Oberstleutnant Tejero in den Plenarsaal des Parlaments, versteinert auf seinem Abgeordnetensessel sitzt, umschwirrt von den Kugeln der Guardia-Civil-Beamten, während alle übrigen Abgeordneten - alle bis auf zwei: General Gutiérrez Mellado und Santiago Carrillo - sich auf den Boden geworfen haben, um sich vor den Schüssen in Sicherheit zu bringen. Ich hatte das Bild natürlich schon Dutzende Male gesehen, aber aus irgendeinem Grund war mir an diesem Tag, als sähe ich es zum ersten Mal: Die Schreie, Schüsse, das schreckensstarre Schweigen im Halbrund des Saales - und mittendrin dieser Mann, der den Rücken an die Lehne seines blauen Ministerpräsidentensessels presst, einsam, gespenstisch, einer Statue gleich, umgeben von lauter leeren Sesseln. Auf einmal ging eine geradezu hypnotisierende Wirkung von dem Bild aus, es leuchtete, war unendlich komplex und überreich mit Bedeutung aufgeladen. Vielleicht ist nicht das rätselhaft, was noch nie jemand zu Gesicht bekommen hat, sondern das, was wir schon oft gesehen haben, ohne dass es jedoch jemals seine Bedeutung preisgegeben hätte, jedenfalls erschien mir das Bild jetzt als ein einziges Rätsel. Woraufhin bei mir die Alarmglocken läuteten. Bei Borges heißt es einmal: »Jedes Schicksal, wie weitläufig und verschlungen es auch sein mag, besteht in Wirklichkeit in einem einzigen Augenblick; dem Augenblick, in dem der Mensch für immer weiß, wer er ist.«[4] Als ich an diesem 23. Februar Adolfo Suárez in seinem Sessel sitzen sah, während um ihn herum die Kugeln durch den scheinbar menschenleeren Saal schwirrten, fragte ich mich, ob Suárez in diesem Augenblick wohl für immer gewusst hatte, wer er war, und welche Bedeutung dieses ferne Bild enthielt, so es denn eine Bedeutung enthielt. Diese zweifache Frage ließ mir in den folgenden Tagen keine Ruhe, und um sie zu beantworten - oder besser gesagt: um zu versuchen, sie genau zu formulieren - beschloss ich, einen Roman zu schreiben.
Ich machte mich umgehend an die Arbeit. Ich brauche wohl nicht extra darauf hinzuweisen, dass mein Roman weder beabsichtigte, ein Heldenporträt von Suárez anzufertigen, noch ihn in ein schlechtes Bild zu rücken, ja, es ging mir nicht einmal um eine genaue Untersuchung seiner Person - mein einziges Ziel war es, dem tieferen Sinn seines Verhaltens in einem genau bestimmten Moment nachzugehen. Ich würde allerdings lügen, wenn ich behaupten wollte, Suárez habe mir damals übermäßige Sympathie eingeflößt: Solange er an der Macht war, war ich ein Jugendlicher, für den Suárez nie etwas anderes darstellte als einen Karrieristen des Franquismus, der aufgestiegen war, indem er sich durch ständiges Buckeln den Rücken ruinierte, ein opportunistischer, reaktionärer, scheinheiliger, oberflächlicher, schmeichlerischer Politiker, der verkörperte, was ich an meinem Geburtsland am meisten hasste, und in dem ich, wie ich befürchte, zudem meinen Vater wiedererkannte, seinerseits ein hartnäckiger Suárez-Anhänger. Meine Meinung über meinen Vater hatte sich mit der Zeit ein wenig gebessert, nicht so jedoch die über Suárez, jedenfalls nicht allzu sehr: Jetzt, ein Vierteljahrhundert später, im Jahr 2006, sah ich in ihm nicht mehr als einen leicht beschränkten Politiker, dessen größtes Verdienst darin bestand, zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen zu sein, was ihn zufällig zum Helden des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie hatte werden lassen, eines Übergangs, den das Land ohnehin vollzogen hätte - mit ihm oder ohne ihn. Aufgrund dieses Vorbehaltes verfolgte ich eher spöttisch denn erstaunt die Feierlichkeiten, die das Ziel hatten, ihm noch zu Lebzeiten den Ehrenplatz eines großen Staatsmannes der Demokratisierung zu sichern - Feierlichkeiten, denen für mich zudem der Geruch noch größerer Verlogenheit als in solchen Fällen üblich anhing, so als glaubten die, die ihn feierten, kein Wort von dem, was sie sagten, oder als feierten sie statt Suárez in Wirklichkeit sich selbst. Meine Geringschätzung von Suárez' Person verringerte die Komplexität seiner Persönlichkeit und seines Verhaltens in meinen Augen jedoch keineswegs, im Gegenteil, je länger ich mich mit seiner Biographie beschäftigte und zu dem Putsch recherchierte, desto mehr nahm diese Komplexität zu. Als Erstes versuchte ich mir bei Televisión Española eine Kopie der vollständigen Aufzeichnung von Oberstleutnant Tejeros Eindringen ins Parlament zu verschaffen. Das erwies sich als unerwartet schwierig, letztlich aber durchaus der Mühe wert: Es ist eine...
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