1. KAPITEL
Melissa Thornsby brachte eigentlich so leicht nichts aus der Ruhe.
Sie war in der sehr eigenwilligen High Society von New Orleans groß geworden, wo es ihrer Erfahrung nach nicht unüblich war, sein Gegenüber freundlich anzulächeln und ihm dabei hinterrücks - wenn auch nur sprichwörtlich - ein Messer in den Rücken zu rammen.
Nach dem Hurrikan hatte Melissa vor einigen Jahren eine Stiftung ins Leben gerufen, die den Wiederaufbau der Stadt tatkräftig unterstützte. Beinah täglich hatte sie in ihrer Funktion als Stiftungsgründerin mit unzähligen Staatsoberhäuptern, Schauspielern, Musikern und anderen Berühmtheiten zu tun gehabt. Alle waren auf einmal von Wohltätigkeit regelrecht besessen, und bald war es für Melissa nichts Besonderes mehr, jeden Tag Prominenten zu begegnen. Als sie vor Kurzem vollkommen überraschend erfahren hatte, dass sie die uneheliche Tochter des früheren Königs von Morgan Isle war, hatte auch das Melissa kaum aus der Ruhe gebracht. Ganz im Gegenteil, sie hatte sich sogar dafür entschieden, nach Morgan Isle zu ziehen, obwohl die Königsfamilie ihr offensichtlich misstraute. Doch Melissa folgte stets dem Rat ihrer verstorbenen Mutter und betrachtete alles Neue im Leben als ein großes Abenteuer.
Deswegen war es für sie eigentlich auch nichts Besonderes gewesen, der Nachbarinsel Thomas Isle und der dort ansässigen Herrscherfamilie einen Besuch abzustatten. Die Beziehungen zwischen den beiden Reichen waren lange Zeit sehr angespannt gewesen, weswegen Melissas Besuch große diplomatische Bedeutung beigemessen wurde - was die Prinzessin mit der ihr üblichen Gelassenheit anging.
Bis sie ihn sah, wie er auf dem kleinen Privatflughafen auf sie wartete. Ein schwarzer, auf Hochglanz polierter Bentley stand in der hellen Nachmittagssonne zur Abfahrt bereit, zwei finster dreinblickende Bodyguards wachten an der Seite des Mannes. Ihn schön zu nennen wäre schlichtweg eine Untertreibung gewesen. Er war groß und trug einen maßgeschneiderten dunkelgrauen Nadelstreifenanzug. Nicht zu übersehen, dass der Mann sich in bester körperlicher Verfassung befand.
Prinz Christian James Ernst Alexander, Thronerbe von Thomas Isle. Seines Zeichens eingefleischter Junggeselle und schamloser Playboy. In Wirklichkeit sah er noch viel besser aus als auf den Fotos, die Melissa bisher von ihm gesehen hatte.
Sie stieg die Stufen herunter, und er kam ihr so atemberaubend lächelnd entgegen, dass ihr beinah das Herz stehen blieb. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als ob Schmetterlinge in ihrem Bauch wild zu flattern begannen, und sie wagte kaum zu hoffen, dass dieser Mann in den nächsten zwei Wochen ihr Begleiter sein würde. Ihrer Erfahrung nach war das eigentlich die Aufgabe der Prinzessinnen, während sich der Prinz darauf vorzubereiten hatte, eines Tages das Land zu regieren.
Melissa traf ihren Gastgeber auf halbem Wege. Sie wurde begleitet von ihrem eigenen Sicherheitstrupp, den ihr ihr Halbbruder König Phillip förmlich aufgedrängt hatte. Als sie sich gegenüberstanden, nickte Prinz Christian ihr höflich zu und sagte mit voller, wohlklingender Stimme, sodass Melissa plötzlich an den zarten Schmelz ihrer Lieblingsschokolade denken musste: "Willkommen auf Thomas Isle, Eure Hoheit."
"Eure Hoheit." Mit dem geübten Charme einer Südstaatenschönheit machte sie einen vollendeten Knicks. "Mir ist es eine Ehre, hier zu sein."
"Die Ehre ist ganz auf unserer Seite", erwiderte er mit diesem Lächeln, das sie wie ein gewaltiger Energiefluss von Kopf bis Fuß zu durchströmen schien.
Während er sie aufmerksam musterte, blickte sie in seine grünen Augen, in denen sich Übermut spiegelte und die Melissa unwillkürlich an das geheimnisvolle Wesen einer Katze erinnerten.
Er nahm ihren Sicherheitstrupp mit leicht gehobener Augenbraue zur Kenntnis. "Erwarten Sie eine Revolution, Eure Hoheit?"
Sie nickte in Richtung seiner Leibwächter. "Komisch. Das Gleiche wollte ich Sie auch gerade fragen."
Falls seine Frage als eine Art Test gemeint war, dann hatte sie ihn offensichtlich bestanden. Er lächelte so verschmitzt und überaus sexy, was die Schmetterlinge in ihrem Bauch erneut aufgeregt flattern ließ. Was war bloß los mit ihr? Das war nun wirklich nicht ihre Art, sie war schließlich daran gewöhnt, dass Männer mit ihr flirteten. Junge und alte, reiche und arme, und sie alle waren hinter dem aberwitzig großen Vermögen her, das ihre Großtante und ihr Großonkel ihr hinterlassen hatten. Aber irgendwie konnte sie sich nicht vorstellen, dass der Prinz an Geld dachte. Nach dem, was sie gehört hatte, übertraf sein Reichtum den ihren bei Weitem.
"Die Bodyguards sind eine Idee von König Phillip", erklärte sie.
"Natürlich steht es Ihnen frei, sie überallhin mitzunehmen", entgegnete er, "aber das ist sicher nicht nötig."
Phillip hatte zwar darauf bestanden, dass Melissa die Leibwachen mitnahm, er hatte aber nicht ausdrücklich gesagt, dass sie sich die ganze Zeit über von ihnen begleiten lassen musste. Darüber hinaus wäre es eine nette Geste, ihr Wohlergehen vertrauensvoll in die Hände des Mitarbeiterstabes von Prinz Christian zu legen. Angesichts der langen Auseinandersetzung, die ihre beiden Länder miteinander geführt hatten, steckte der Frieden zwischen ihnen sozusagen noch in den Kinderschuhen. Melissa empfand es als ihre Pflicht, alles zu tun, um ihn weiter zu stärken.
"Könnten Sie dafür sorgen, dass meine Sicherheitsleute zurückgeflogen werden?", fragte sie.
Er nickte. "Selbstverständlich, Eure Hoheit."
Sie zuckte unwillkürlich zusammen, denn sie hatte sich immer noch nicht an den königlichen Titel gewöhnt. "Bitte, nennen Sie mich einfach Melissa."
"Melissa", wiederholte er mit seinem sexy englischen Akzent. "Das gefällt mir."
Und ihr gefiel die Art, wie er es sagte.
"Sie können Chris zu mir sagen. Ich denke, es ist das Beste, wenn wir die Förmlichkeiten vergessen, zumal wir in den nächsten zwei Wochen sehr viel Zeit miteinander verbringen werden."
Ach ja? Erneut machte sich das nervöse Flattern in ihrem Magen bemerkbar. "Sie werden also mein Begleiter sein?", erkundigte sie sich.
"Wenn Sie nichts dagegen haben", entgegnete er.
Als ob sie etwas dagegen haben könnte, zwei Wochen mit einem überaus attraktiven und charmanten Prinzen zu verbringen!
Er deutete auf die wartende Limousine. "Wollen wir?"
Mit wenigen Worten entband Melissa ihre Bodyguards von ihren Pflichten. "Danke, meine Herren."
Die Männer schwiegen zwar, warfen sich jedoch zweifelnde Blicke zu. Ihnen war klar, Phillip würde nicht erfreut darüber sein, wenn er erfuhr, dass die Prinzessin sie wieder nach Hause geschickt hatte. Aber ihre neue Familie war bereits daran gewöhnt, dass Melissa ihren Kopf durchsetzte. Sie war zwar überaus dankbar dafür, nach dem Tod ihrer Eltern wieder nahe Verwandte zu haben und wollte auch unbedingt von ihnen akzeptiert werden. Das bedeutete aber nicht, dass sie bereit war, etwas von ihrer Freiheit aufzugeben. Mit dreiunddreißig Jahren war es vermutlich auch schon zu spät, das noch zu ändern.
Der Prinz fasste sie sacht am Ellbogen, um sie zum Wagen zu führen, und obwohl ihre Kostümjacke aus leichter Seide und feinem Leinen war, wurde ihr siedend heiß bei seiner Berührung. Wann hatte sie zum letzten Mal eine derartig knisternde Verbindung zu einem Mann gespürt? Oder vielleicht sollte sie besser fragen, wann sie sich zum letzten Mal gestattet hatte, so zu empfinden? Da die nächsten vierzehn Tage nicht nur eine Geschäftsreise sein würden, sprach eigentlich nichts dagegen, auch ein bisschen Spaß an der Sache zu haben.
Chris half ihr in den Bentley, und sie ließ sich in den gemütlichen Ledersitz sinken. Er ging um den Wagen herum, um auf der anderen Seite Platz zu nehmen, und Melissa stieg sein warmer und verlockender Duft, der das Innere der Limousine erfüllte, in den Kopf. Zu Hause in den Südstaaten hätte sie die große Hitze für ihr Schwindelgefühl verantwortlich machen können. Auf Thomas Isle herrschten jedoch noch nicht einmal dreißig Grad, und auch die Luftfeuchtigkeit war kaum der Rede wert.
Nachdem die Türen geschlossen waren, fuhren sie zum Schloss, das nicht weit entfernt sein konnte, weil sie es kurz vor ihrer Landung aus dem Flugzeug gesehen hatte. Aus der Luft hatte es gewaltig ausgesehen, sie schätzte, dass es wesentlich größer war als der modernere Palast auf Morgan Isle. Um das Schloss herum erstreckten sich Quadratkilometer grüner Rasenflächen, hübscher Grünanlagen, und sogar einen Irrgarten hatte sie entdeckt.
Sie konnte kaum erwarten, das alles zu erkunden, denn sie liebte die Natur über alles, was sie ihrer Mutter verdankte, die eine begeisterte Gärtnerin gewesen war. Das Anwesen auf Morgan Isle, wo Melissa in ihrer Kindheit gewohnt hatte, war weithin berühmt für seine preisgekrönten Gärten gewesen, und sie hatte diese Leidenschaft mit nach New Orleans genommen. Ihr war es zwar schwergefallen, ihr Zuhause zu verlassen und wieder in ihr Geburtsland zurückzukehren, aber eigentlich waren die USA nie richtig ihre Heimat gewesen. Und um ehrlich zu sein, hatte sie sich seit dem Tod ihrer Eltern nirgendwo heimisch gefühlt.
"Meine Eltern, der König und die Königin, freuen sich darauf, Sie zu treffen", sagte Chris.
"Das beruht auf...