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Die Weisheit des Orakels der Cumäischen Sibylle erwuchs aus der Liebe und der Hast, den Wünschen und der Unfähigkeit, über sie hinauszuschauen.
Als die Sibylle noch eine Frau war, verliebte sich Apollon unsterblich in sie, und sie ließ sich seine Liebe gefallen im Austausch für ein Leben, das so lang sein sollte wie die Zahl der Sandkörner, die sie in Händen hielt. Doch aus Hast vergaß sie, zusammen mit der Unsterblichkeit auch um ewige Jugend zu bitten, und so wurde sie uralt, runzlig und winzig klein. Ihr Körper verschrumpelte wie der einer Zikade, bis er in ein Gefäß passte, aus dem man nur ihre Stimme flüstern hörte, Prophezeiungen, die stets mit den Worten schlossen: »Ich will sterben«.
Ich weiß nicht, ob die Cumäische Sibylle Kassandra beneidete - auch sie eine Sibylle, auch sie berührt von Apollons Liebe und, da sie diese Liebe nicht erwiderte, dazu verdammt, mit ihren Worten, die der Wahrheit zu nah waren, auf Unglauben zu stoßen.
Ich weiß nicht, wann Apollons Augen auf meine Großmutter Teresa fielen.
Dies ist eine Geschichte über unsichtbare Dinge, über Prophezeiungen und häusliche Orakel, über Freiheit und Zufall, über die Schwierigkeit, sich zu entscheiden, auszuwählen, zu lieben, zu wachsen und zu sterben. Es ist eine Familiengeschichte, eine Geschichte des Schweigens, der Zeichen und der Kunst, sie zu deuten.
Vor dem Lesen sind einige kleinere Maßnahmen erforderlich, eine Art Tribut an das Unergründliche und eine Geste des Respekts gegenüber der Intimität der Dinge, die noch nicht sichtbar sind, es aber in Kürze sein werden, der Dinge, die hier ihre Geschichte und ihre Geheimnisse offenbaren. Eine Übung in Besonnenheit, um nicht ein ähnliches Schicksal zu erleiden wie die Cumäische Sibylle.
Zuallererst ist es geboten, sich vor ein Fenster zu setzen und die Schuhe auszuziehen. Den Boden unter den Füßen zu spüren und die Augen zu schließen. Und dann zu versuchen, eine Frage zu beantworten: Wie entscheidest du dich für das, wofür du dich entscheidest?
Ich weiß nicht, ob ich euch all dies erzähle, um Zeit zu gewinnen oder wegen des Unfalls, zu dem es gerade in der Küche kam. Ich war dabei, ein Stück Käse abzuschneiden, die Rinde war hart, und die Klinge stieß mitten in meine Handfläche. Ich dachte an Teresa, das glaube ich zumindest. Jetzt muss ich sehr viel langsamer schreiben, und es tut weh, wenn ich mit der Linken die Tasten des H,a,l,t,i,n,n,e,u,n,d,h,ö,r,z,u drücke. Die unsichtbaren Dinge und die Geheimnisse verzeihen weder Zerstreutheit noch Hast.
Man kann ihnen nicht zuhören, während man mit etwas anderem beschäftigt ist.
Teresa hatte nie an die geglaubt, die so tun, als könnten sie in den Rillen des Fleisches ein festgeschriebenes Schicksal lesen. Wie jemand, der sein ganzes Leben lang durch unbekannte Länder reist, sich dort verirrt und um Orientierungshilfen bittet, nur um schließlich festzustellen, dass die Landkarte in seiner Hand verzeichnet ist. Sie hatte ihre Hände immer zum Arbeiten benutzt, zum Waschen, zum Essen, zum Liebkosen, und glaubte nicht, dort je von anderem lesen zu können. Wenn aber das Schicksal nicht existierte, verlangte es meine Großmutter nach einer Erklärung, was denn dann Freiheit war.
Wir können unser Leben frei bestimmen, sagen manche, aber Teresa war früh bewusst geworden, dass sie ein Gesicht und einen Körper besaß, die waren, wie sie waren, und die sie sich nicht ausgesucht hatte. So wie sie sich nicht die Familie ausgesucht hatte, in der sie zur Welt gekommen war - der Vater Bauer, hart wie die Wand, die er in sich errichtet hatte, und eine Mutter, die zu früh gestorben war, als dass sie sich an sie erinnern konnte.
Sie war auf dem Benvenuta-Hof großgeworden, unter sechs kräftigen Geschwistern, umgeben von einem Nebel, der zwischen September und März die Konturen der Dinge verbarg. Sie hatte Antonio geheiratet und den Kopf gesenkt, und ihre beiden Töchter, meine Mutter Irene und meine Tante Flora, waren zur Welt gekommen, ohne dass sie sie erwartet hätte.
Für einige ist die Palette der Möglichkeiten schwindelerregend groß, für andere nicht größer als ein Steinchen, man kann es unter das Kopfkissen legen und darauf schlafen, denn morgen wird es genauso sein wie heute.
Nein, in Teresas Leben schien nicht einmal die Freiheit zu existieren. Jedoch wussten weder sie noch irgendein anderer unserer Familie, ob es Freiheit oder nicht doch Schicksal war, das sie mit dieser Art von Glück erfüllte: Unvermittelt wie ein Lichtschwall stob es in ihrem Blick auf, ein Brodeln, das ihr Lachen durchflutete.
Teresa hütete ein Geheimnis, das sie immer mit sich trug.
Es gibt Familienschätze, die von Hand zu Hand wandern, die Lichtschimmer und Hoffnungen bewahren; es gibt Familienleichen, die versteckt im Keller liegen; es gibt Familiengerüche, die ersten, an die man sich erinnert, und die letzten, die man vergisst; und dann gibt es die Familiengeheimnisse.
Manchmal wissen alle von ihnen. Manchmal ist es nur einer, der sie in seinem Mund bewahrt. Teresa hatte ihr Geheimnis viele Jahre lang fest zwischen den Zähnen gehütet, selbst, als die herausgefallen und durch ein Gebiss aus Gold und Emaille ersetzt worden waren. Sie wollte nicht riskieren, es entwischen zu lassen. Als sie dann spürte, wie ihr das Alter die Zunge löste, hatte sie beschlossen, zu verstummen.
Das Gedächtnis meiner Großmutter wurde löchrig wie ein Sieb. Etwas in ihrem Kopf machte sich einen Spaß daraus, die Gesichter auf den Familienfotos verschwinden zu lassen. Anfangs suchte sie nach ihnen. Sie tauchten auf, dann waren sie wieder fort. Der erste, der verschwand, war Großvater Antonio, und dann wir, eine nach der anderen. Teresa grub irgendwo Namen aus: Nina, Flora, Irene, Rusì, Pilar. Aber die Namen hatten kein Gesicht.
Auch die Gegenstände im Haus verloren nach und nach ihre Geschichte und erhielten neue Plätze: das Telefonbuch unter dem Kissen, die Wollknäuel zwischen dem Besteck, eine kaputte Bürste in der Backröhre, die Schuhe im Kühlschrank.
Wir füllten Krumen der Realität in die Taschen ihrer Kleider oder steckten sie in ihre Geldbörse: Adresse und Telefonnummer, ihren Ausweis. Einmal erhielten wir einen Anruf von der Kassiererin im Supermarkt, Teresa habe drei Honiggläser in der Hand und wisse weder, wie sie sie bezahlen, noch wohin sie sie bringen sollte.
Während Großmutters Erinnerung zerbröselte, brachen sich die wütenden Worte Bahn, Beleidigungen, die nicht zu einer Großmutter mit blauen Augen passten. Schimpfworte, die urplötzlich aus ihr herausbrachen - »Hure«, »Hornochse« - und beim Mittagessen rund um den Tisch der Casa del Fico schauten wir uns an, unterdrückten mitunter ein Lachen oder richteten den Blick starr auf den Teller. Dachte sie das wirklich? In wen verwandelte sich Teresa? Sie schien von einer fuchsteufelswilden, zornigen Gottheit besessen.
Dann folgten die Wörter ohne Sinn - Singsang und Kinderreime, die sie aus irgendeiner Abstellkammer ihres Gedächtnisses hervorgeholt hatte. Wörter, die kindliche Erinnerungen wieder aufleben ließen, in denen die Gegenwart die Gestalt der Vergangenheit annahm, die Alten wieder jung wurden, die eigenen Kinder zu Fischen. Die Welt war wieder von Kindheitsfreunden bevölkert und von den bizarren Bewohnern des Benvenuta-Hofs. Die Toten wurden wieder lebendig.
Schließlich trocknete auch der Fluss der Kinderreime aus. Großmutters Sprache verkümmerte zur Hieroglyphe, und ihre Erscheinung passte sich der Metrik des neuen Schweigens an. Sie glich einer antiken Statue, in Stein gehauen. Perfekte Wangenknochen, ein dreieckiges Kinn, die blauen Augen aus Eis.
Mit einem Schlag war sie vollends verstummt, eines Nachmittags, als wir in der Küche saßen und Bohnen pulten. »Wer bist du?«, hatte sie mich gefragt.
»Oma, Nonna, ich bin Nina, deine Enkelin.«
Sie hatte die Augen geschlossen, um tief in sich nach der Bedeutung des Wortes Enkelin zu suchen. Aber sie konnte sie nicht finden.
»Ein Käffchen fürs Äffchen nach dem Schläfchen.« An ihre Kehrreime erinnerte sie sich eher als an mein Gesicht.
Dann wurden ihre Augen feucht, genau wie meine. Sie schaute aus dem Fenster und tat so, als wäre nichts.
Am Abend legte sie sich ins Bett, ein für alle Mal, und ihr Körper hörte auf, sich zu bewegen. Sie stand nicht mehr auf, sie sprach nicht mehr: Reglos und stumm fixierte sie das, was die anderen Leere nennen, sie dagegen zu deuten gelernt hatte.
Wir brachten ihr Bett mitten in den Wohnraum, unseren Salotto, wo immer eine von uns da war, um einen Blick nach ihr zu werfen, den Bettbezug glattzustreichen, ihr das Haar zu kämmen und den Dutt festzustecken. Der Raum war hell und hoch, mit einem Fenster zum Garten. Wir hatten es geschafft, das...
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