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Wenige Tage vor dem Interview musste sich Zumret Dawut einer Operation an der Gebärmutter unterziehen, bestand aber trotz ihrer Schmerzen auf den vereinbarten Termin. »Egal, wie schlecht es mir geht, ich muss meinen Landsleuten eine Stimme geben, denn es gibt so viele Uiguren in den Lagern, die keine Möglichkeit haben zu sprechen .«
Seit ihrer Flucht aus Ostturkestan lebt die 39-Jährige mit ihrer Familie in Virginia. In ihrer Heimat hatte die chinesische Regierung die ehemalige Geschäftsfrau zunächst interniert und danach einer Zwangssterilisation unterzogen. In den USA habe die Gynäkologin nach ihrer Untersuchung wütend auf den Tisch gehauen und geschimpft: »Jetzt weiß ich, was die chinesische Regierung mit den uigurischen Frauen macht. Das sieht schlimm aus!«
Zumret blättert sogleich in einer dicken Mappe mit Unterlagen, um deren Attest herauszusuchen. »Die Ärztin meinte, dass die zahlreichen Wucherungen und Zysten in meiner Gebärmutter auch auf die Zwangseinnahme von Medikamenten zurückzuführen sind. Und dass ich in letzter Minute zu ihr gekommen sei.«
Immer wieder wird Zumret während unserer Gespräche ihre Aussagen mit Fotos, Videoaufnahmen, Artikeln oder Dokumenten aus Ostturkestan stützen. Keiner Zeugin ist es wie ihr bislang gelungen, so viele Beweismittel in den Westen zu schmuggeln. »All diese Belege habe ich gesammelt, als ob ich gespürt hätte, dass ich sie eines Tages brauchen könnte .«
Zumret Dawut ist Mutter dreier Kinder und eine der wichtigsten Zeuginnen für Zwangssterilisation. Gleichzeitig berichtet sie über das Leben im größten Überwachungsstaat der Welt, Zwangsabtreibungen, die sogenannte Verwandtschaftlichungs-Kampagne, Folter und Medikamentenzwang in den Lagern.
Zumret Dawut
Zwar lebe ich heute in den USA in Freiheit, aber trotzdem ist die Angst mein ständiger Begleiter geblieben. Wenn ich nach draußen gehe, glaube ich, verfolgt zu werden. Ich habe sogar Angst, aus dem Fenster zu schauen, weil ich fürchte, dass mich ein Spitzel Chinas von Weitem erschießen könnte.
Fühle ich mich heute aufgrund meiner Erlebnisse schlecht und werde mit einem Mal aggressiv, wünsche ich mir, wieder dieses Pulver wie im Lager zu schlucken, nichts mehr zu spüren und in einen Dämmerzustand zu versinken. Bis heute fühle ich mich davon wie eine Drogenabhängige, süchtig und benebelt.
Momentan bin ich arbeitsunfähig und statt zu arbeiten, spreche ich zur Öffentlichkeit. Kurz bevor ich am 23. September 2020 für eine Zeugenaussage nach New York reiste, versuchten meine Brüder aus Xinjiang, mich mit einer Sprachnachricht von meinem Auftritt abzuhalten: »Die Polizei hat gerade unseren Vater abgeholt. Fahre nicht dahin!«
Das war ein entsetzliches Dilemma für mich. Tausend Fragen drängten sich zugleich in meinen Kopf. Was wird aus meinem Vater? Was aus meinen Kindern? Zuletzt atmete ich tief ein und reckte das Kinn. »Ich darf mich nicht durch diese Drohungen einschüchtern lassen.«
Am 12. Oktober schickte mir ein früherer chinesischer Mitbewohner, bei dem ich unten in unserem Wohnblock immer Gemüse und Obst gekauft hatte, eine Sprachnachricht. »Dein Vater starb deinetwegen, weil du diese Zeugenaussage gemacht hast. Du hättest ihn retten können.«
Als wäre dieser Schock nicht gewaltig genug, zitierte tags darauf das chinesische Parteiorgan Global Times einen meiner Brüder. Ich sei nie im »Berufs- und Ausbildungszentrum« gewesen und nie sterilisiert worden. Auch die Rede des US-Außenministers Mike Pompeo im Vatikan bezeichnete er als eine »glatte Lüge«, weil er meinen Fall als Beispiel für religiöse Verfolgung in China erwähnt hatte. Woher hatte mein Bruder in Xinjiang bloß von der Rede Pompeos erfahren? In China wird jede Kritik aus dem Ausland sofort im Netz gelöscht.
Diese Form des Terrors gehört zu den üblichen Methoden, wie Peking versucht, die Wahrheit zu unterdrücken - indem sie unsere Väter ermorden oder Brüder zu Verleumdungen über ihre eigene Schwester zwingen.
Durch mein Schweigen könnte ich zwar meine Familie in den USA schützen, aber gleichzeitig litten darunter Millionen unschuldiger Menschen in meiner Heimat.
Darum erzähle ich meine Geschichte.
Meine Eltern haben mir viel über unsere jahrhundertealte Kultur und die gewaltsame Besetzung unseres Landes durch China erzählt. Ich bin in einer gebildeten und wohlhabenden Familie in der Uigurischen Autonomen Region Xinjiang (XUAR) in Urumqi aufgewachsen. Mein Vater war Imam, ich selbst eine begeisterte Tanzstudentin.
Durch meine Hochzeit mit dem Geschäftsmann Imran Muhammad, der aus Pakistan kommt, habe ich mein Wissen über den Islam noch vertieft. Erst nach unserer Hochzeit im Jahr 2005 fing ich an, fünfmal am Tag zu beten. Für mich ist Religion eine Anleitung, ein guter Mensch zu sein.
Zu Chinesen pflegten wir keine engen Kontakte, weil sie uns Uiguren wie minderwertige Menschen betrachten. Gemeinsam mit meinem Mann baute ich unser kleines, aber erfolgreiches Import-Export-Unternehmen in unserer Landeshauptstadt aus. Wir lieferten unter anderem Lebensmittel aus Pakistan wie Pinienkerne ins östliche China.
Unser Glück vergrößerte sich mit der Geburt unseres Sohnes Danish im Mai 2006, dem im April 2008 unsere Tochter Nuzut folgte. Uns Uiguren waren laut Gesetz zwei Kinder in der Stadt und drei auf dem Land erlaubt.
Am 5. Juli 2009 kam es in Urumqi zu einem Aufstand von Uiguren gegen die permanente Unterdrückung der Regierung. Peking ließ Panzer und schwere Geschütze auffahren. Unter den Toten waren weit mehr Uiguren als Chinesen.
Ab da schürte die Regierung im chinesischen Volk die Rachegefühle und schlug die Propaganda-Trommel: »Der Terrorismus muss bekämpft werden.« Unter diesem Vorwand sollten in der Folge alle Uiguren bestraft werden. Jeder Muslim, der internationale Geschäfte tätigte, galt der Regierung seither als besonders verdächtig.
In unserer Kultur betrachten wir große Familien als einen Segen. Die chinesische Regierung aber hatte muslimische Mütter ab dem zweiten Kind seit vielen Jahren dazu verpflichtet, sich eine Spirale einsetzen zu lassen.
Da ich wie viele andere Frauen nach Einsetzen der Spirale unter starken Bauch- und Rückenschmerzen sowie ständiger Übelkeit gelitten habe, ließ ich sie heimlich von einer uigurischen Ärztin entfernen. So war ich 2013 bald mit meinem dritten Kind schwanger. Das löste große Freude in mir aus, aber auch Panik vor einer drohenden Zwangsabtreibung.
Vielleicht waren es Stress und Angst, die bei meiner dritten Schwangerschaft zu Komplikationen geführt haben. Als mir die Ärzte bescheinigten, dass ich keine Abtreibung vornehmen lassen dürfe: »Sonst wird die Mutter wahrscheinlich daran sterben«, fielen mir mehrere Steine vom Herzen. Trotzdem kamen die Leiterinnen von der Familienplanung zu mir nach Hause und verlangten eine Zwangsabtreibung.
Mein Mann stellte sich schützend vor mich und machte diesen Beamtinnen unmissverständlich klar, dass er als Ausländer über mehr Rechte als andere muslimische Einheimische verfügte: »Meine Frau wird das Kind in meiner Heimat als pakistanischen Bürger zur Welt bringen.« Damit sind wir der chinesischen Geburtenstatistik entkommen.
Die nachfolgende Geldstrafe schreckte uns nicht. Zu der Zeit kostete ein drittes Kind die Eltern eine einmalige Strafe von etwa 2000 Yuan. Für das vierte zahlte man das Doppelte, für das fünfte das Dreifache usw.
Um unsere jüngste Tochter Iffat nach der Geburt auch bei unseren Behörden in Urumqi anzumelden, mussten wir in einem Militärkrankenhaus des Bingtuan (Xinjiang Produktionsund Aufbau-Korps) einen DNA-Test von ihr machen lassen, der zusätzlich 6000 Yuan gekostet hat. Danach sollten wir zehn Nachbarn nachweisen, die belegten, dass dieses Baby wirklich zu uns gehörte. Erst danach erhielten wir die amtliche Anerkennung für Iffat. Was sollten wir uns weiter ärgern? Wir waren wohlhabend und hatten drei gesunde Kinder.
Zwangsabtreibungen kamen in Xinjiang schon vor meiner Geburt vor. In jedem Ort gibt es ein Familienkomitee, das für die Familienplanung zuständig ist; in der Regel besteht es aus zwei Frauen. Früher war eine davon meine Mutter.
Ihre Kollegin war sehr herzlos und grausam, aber meine Mutter war sehr freundlich und hat versucht, den...
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