Kapitel 2
ARMAND LEGEURN
Niemand sah die ausgemergelte, grau gekleidete Gestalt, die in dieser Nacht blindlings aus dem Wald wankte und lautlos hinab zur Landstraße taumelte. Niemand sah die unheilige Lust an der Freiheit in den Augen oder auf den dünnen, weißhäutigen Lippen.
Er hatte schreckliche Angst. Immer wieder blickte er hinter sich, aber seine Hände waren entschlossen zu Fäusten geballt. Sollte diese schreckliche Sirene jetzt noch aufheulen, jetzt, wo er der Freiheit so nahe war, dann würden sie ihn nicht lebend wieder dorthin zurückbringen! Niemals! Einmal in den vergangenen sieben höllischen Monaten des Eingesperrtseins war die Sirene kreischend losgegangen. Damals, als Jenson - dieser dumme, idiotische Jenson, der so vollkommen verrückt war wie ein Märzhase! - versucht hatte auszubrechen. Die Bluthunde hatten sein Versteck mitten in den Wäldern aufgespürt und man hatte ihn gebrochen und winselnd zurückgebracht.
Aber das würde diesmal nicht passieren! Und diesmal war der entkommene Flüchtling auch nicht verrückt. Schrecken, nicht Wahnsinn, hatte ihn in diese Hölle von keckernden Idioten und kreischenden Narren gebracht. Schieres Grauen, das aus einer Erfahrung stammte, die der menschliche Verstand kaum zu fassen vermochte. Der Schrecken einer anderen Welt, einer Welt des Todes und der untoten Dämonen. Und heute Nacht, um vier, würde Martin LeGeurn an der Kreuzung auf ihn warten. Mit einem Auto. Martin würde sich nicht verspäten.
Paul Hill begann zu laufen. Weiter und immer weiter. Einmal drehte er sich abrupt um und tauchte hinter dem nahen Waldrand unter, als ein Bus mit dröhnendem Motor hinter ihm heranrauschte. Dann, als der Bus vorbeigedonnert war, huschte er wieder an den Straßenrand und lief wie von Furien gehetzt weiter.
Ein Schluchzen der Erleichterung entrang sich seiner Kehle, als er um eine letzte Kurve lief und in der Ferne einen parkenden Wagen erblickte, dessen abgeblendete Scheinwerfer ihm den Weg wiesen. Er strauchelte, fing sich aber wieder. Seine Beine waren taub und schwer und schmerzten dumpf, aber er taumelte weiter. Dann griff er mit gefühllosen, blutleeren Fingern an die Seitentür des Wagens, dann zerrte Martin LeGeurn ihn ins Wageninnere.
Sie durften jetzt nicht zögern. Alles war arrangiert! Der Motor heulte laut auf. Der Sportwagen fuhr ruckartig an, gewann dann aber rasch an Geschwindigkeit. Die Uhr auf dem Armaturenbrett verriet ihm, dass es fünf Minuten nach vier war. Um fünf wären sie in der Stadt. Der Stadt. Bei Ruth und . dann hätte er die Freiheit. Die Freiheit, all diesen Schrecken auf seine Weise ein Ende zu bereiten. Die Freiheit, zu kämpfen!
Er tastete nach der Ledertasche unter dem Sitz.
»Warum ist Ruth nicht mitgekommen? Wollte sie mich nicht sehen?«
»Hör doch!«, zischte Martin LeGeurn.
Paul wurde starr vor Schreck. Er hörte es jetzt auch. Es war ein stöhnendes Jammern, das die bisher so stille Luft zum Erzittern brachte. Es übertönte das stetige Dröhnen des Motors, wurde schriller, klarer und vibrierte und pulsierte wie eine menschliche Stimme. Pauls Finger gruben sich panisch in den gepolsterten Ledersitz, auf dem er saß. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht.
Er kannte dieses Geräusch. Es war jetzt zu einem durchdringenden Heulen angeschwollen und erfüllte die Nacht mit schrillem Alarm. Die Nachtpatrouille hatte seine Abwesenheit bemerkt. Irgendetwas musste er übersehen haben. Eine offen gelassene Tür, ein Streich, den ihm das Schicksal spielte und den er nicht hatte vorhersehen können . und schon stand dort oben im Wachtturm ein schwarzgesichtiger Dämon, der den Antrieb der Sirene schneller und schneller drehte und die Schadenfreude des höllischen Klangs in immer durchdringendere Höhen trieb. Es war das gleiche, grauenvolle Klagen, das über die Landschaft schallte, als Jenson vor vier Monaten in die Wälder geflohen war.
Ein grausames Schaudern erschütterte Pauls Körper. Er klammerte sich an seinen Gefährten, aller Mut verließ ihn. Er murmelte Zusammenhangloses in sich hinein.
»Sie wissen es«, meinte Martin kurz angebunden. »In zehn Minuten sind die Straßen gesperrt und jedes Auto wird angehalten und kontrolliert. Schnell, zieh dich um!«
Paul erstarrte. Dann setzte er sich auf und ballte die Hände fest zu Fäusten.
»Die werden mich nie erwischen! Ich werde sie töten! Hörst du, ich werde sie alle umbringen!«
Dann riss er die Tasche auf, die er zwischen den Knien hielt.
Schließlich hatte er sie geöffnet und zerrte den leichten, braunen Anzug hervor, das beigefarbene Hemd, die Krawatte und die Schuhe. Fieberhaft, während Martin LeGeurn übers Lenkrad gebeugt den Wagen mit rücksichtsloser Geschwindigkeit dahinjagte, riss er sich die Anstaltskleidung vom Leib und fuhr in den Anzug. Hastig stopfte er die abgelegten grauen Lumpen in die Ledertasche und verschloss sie.
»Du musst von dieser Straße runter. Bieg dahinten gleich rechts ab.«
Martin warf ihm einen zornigen Seitenblick zu. »Das ist doch verrückt. Wenn wir die Geschwindigkeit nur beibehalten, dann kriegen sie uns vielleicht nicht .«
»Das schaffen wir nicht. Die Polizei wird .«
»Aber wenn wir abbiegen .«
»Ich sage dir, ich kenne den Weg! Lass einfach mich ans Steuer.«
Martin trat auf die Bremse. Noch bevor der Wagen endgültig stehen geblieben war, riss Paul die Tür auf seiner Seite auf und sprang heraus. Und als er durch das Licht der Scheinwerfer huschte, war er nicht länger eine furchterregende Gestalt in krankem Grau. Er war ein schlanker, kraftvoller junger Mann, der anständig gekleidet, entschlossen und ehrgeizig war und der seinen Ängsten mutig ins Auge sah. Er schlüpfte auf der Fahrerseite wortlos hinter das Steuer, dann schoss der Wagen wieder vorwärts, diesmal offenbar unter kundigeren Händen. Er knatterte über den Scheitelpunkt des Hügels hinweg, bog scharf nach rechts ab und holperte über eine ungepflasterte Nebenstraße davon.
Die Sirene hinter ihnen kreischte immer noch, immer noch pulsierte ihr infernalisches Jammern und Klagen auf und ab. Den ganzen Rest der Nacht würde sie ihre Botschaft in unglaubliche Fernen tragen und nie, nie damit aufhören!
Aber Paul achtete nicht mehr darauf. »Hol die Tasche unter dem Sitz hervor«, befahl er. »Wirf sie hinaus. Hier wird man sie nie finden.«
Martin gehorchte.
Kaum war die Tasche verschwunden, fragte Paul plötzlich mit finsterer Miene: »Warum ist Ruth nicht mitgekommen?«
»Sie . Sie konnte wirklich nicht, Paul.«
»Warum?«
»Das würdest du nicht verstehen.«
»Sie wartet doch jetzt auf mich, oder?«
»Ich .« Martin starrte geradeaus aus dem Fenster und kaute auf seiner Lippe herum. »Ich weiß es nicht, Paul.«
»Sie hat mich nie unterstützt«, meinte Paul bitter. »Um Himmels willen, sie wusste doch, warum ich dadrin war! Sie hätte doch zu Kermeff und Allenby gehen und es ihnen sagen können.«
»Sie hatten die Stadt verlassen«, murmelte Martin.
»Das ist eine Lüge.«
»Sie .«
»Ich weiß schon«, unterbrach ihn Paul mit schwerer Stimme. »Sie ist zu ihnen gegangen und sie haben ihr nicht zugehört. Das war auch zu erwarten. Doktor Anton Kermeff und Doktor Franklin Allenby .«, diese Namen schmeckten bitter wie Galle auf der Zunge, ». die sind, was sie sind. Sie nehmen sich viel zu wichtig, als dass sie die Wahrheit glauben würden. Es war ihr Job, mich wegzusperren und die Bescheinigung zu unterzeichnen, dass ich verrückt sei. Alles andere interessierte sie nicht.«
»Ich glaube nicht, dass Ruth sich mit ihnen getroffen hat, Paul.«
Pauls Hände umklammerten das Lenkrad noch fester. Er versteifte sich zusehends. Der Wagen scherte zur Seite aus, doch er riss das Steuer wieder herum, sodass er schließlich wieder geradeaus fuhr.
»Du . Du verstehst das nicht, Paul«, fühlte Martin sich gezwungen zu sagen. »Bitte! Warte, bis du mit Vater gesprochen hast.«
»Vater?« In Pauls Stimme schwang plötzliches Misstrauen. »Warum denn nicht Ruth?«
»Du wirst bald alles erfahren, Paul. Bitte.«
Paul schwieg. Er sah seinen Gefährten nicht mehr an. Vage begann nun ein Verdacht, eine Furcht an ihm zu nagen. Da stimmte irgendetwas nicht. Er wusste es, er konnte es fühlen, wie einen lauernden Schatten, der schadenfroh neben ihm vor sich hin grinste. Wie diese anderen lauernden Schatten, damals, vor sieben Monaten. Aber Martin LeGeurn konnte ihm nichts sagen. Martin war sein Freund. Jemand anderes würde mit der Wahrheit herausrücken müssen.
Der große Sportwagen rauschte durch die Nacht.
Der Tag war bereits angebrochen, als sie die Stadt erreichten.
Es war ein düsteres, unheilgeschwängertes Tageslicht, das von Nieselregen beinahe erstickt wurde. Noch glommen die Straßenlaternen über den tropfnassen Bürgersteigen. Der stahlfarbene Himmel spannte sich über ihnen, düster und Feuchtigkeit ausschwitzend und beinahe bedrohlich. Die Stille, die sie in der letzten Stunde auf den finsteren Landstraßen begleitet hatte, wich dem dumpfen Rauschen der Stadt.
»Lass mich jetzt lieber wieder ans Lenkrad«, meinte Martin LeGeurn ausdruckslos. Und als Paul den Wagen an den Straßenrand gesteuert hatte, fügte er hinzu: »Wir sind jetzt in Sicherheit. Hier suchen sie nicht nach dir. Noch nicht.«
Noch nicht! Pauls Lachen war reiner Spott. Bevor der Tag zu Ende gegangen wäre, würde seine Flucht Schlagzeilen gemacht haben, überall hier in...