Schweitzer Fachinformationen
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»Ich habe euch hier zusammengerufen, um mich von euch zu verabschieden. Für mich ist es an der Zeit, Bilanz zu ziehen. Und ich möchte mich bei euch bedanken, dass ihr in all den Jahren so viele Opfer gebracht und immer treu eure Arbeit geleistet habt.« Signor Zaini steht vor dem Fabrikeingang, das Gesicht ausgemergelt von der Krankheit, der Körper abgemagert, die Stimme schwach: »Ihr werdet weiterhin gewissenhaft eure Pflicht erfüllen, so als wäre ich noch hier. Ihr solltet nun sogar noch stärker das Bedürfnis verspüren, stets treu eure Arbeit zu verrichten. Denkt dabei an mich, der ich mit gutem Beispiel vorangegangen bin.«
Vor ihm hat sich die Belegschaft der Zaini versammelt. Viele von ihnen arbeiten schon jahrelang dort, seit der Eröffnung, als die Fabrik noch in der Via De Cristoforis zu Hause war. Luigi Zaini sieht Pietro Tosco, den Vorarbeiter, Giovanni Brioschi, den Buchhalter Franco, die vielen Arbeiterinnen. Die sind heute schöner denn je: Unter ihren frisch gebügelten weißen Schürzen sind elegante Pumps mit einigen Zentimetern Absatz zu sehen; ein Hauch Rouge rötet ihre Wangen; sie tragen Ohrringe, und manch eine hat sich eine Perlenkette um den Hals gelegt. In der ersten Reihe stehen die treue Seele Clelia und die junge Ines, die den Vertrieb leitet. »Ines, was ist? Zieh nicht so ein Gesicht. Schluck die Tränen runter. Ein bisschen Anstand«, tadelt Clelia sie im Mailänder Dialekt. »Schau dir die Signora Olga an: Die heult auch nicht rum.« Signora Zaini ist wie üblich tadellos gekleidet: Unter einem dunklen Mantel mit engem Gürtel blitzen eine Seidenbluse und ein Rock hervor, der bis kurz unter die Knie geht; an den Füßen trägt sie ihre hohen Absätze auch heute mit einer solchen Haltung und Natürlichkeit, dass den Angestellten der Mund offen stehen bleibt. Lippenstift, Lidschatten und Puder reichen allerdings nicht, um ihre Sorgen zu kaschieren. Olga weiß, dass das für Luigi ein Abschied ist. Vergeblich hatte sie ihn zu überzeugen versucht, er möge im Bett bleiben und die Abschiedsrede auf einen besseren Tag verschieben. Schließlich hatte sie jedoch zugestimmt, ihn zu begleiten, damit er seinen Angestellten Lebewohl sagen kann. Wenige Meter trennten den Hof von ihrer Wohnung, aber heute Morgen schienen es Kilometer.
>Du warst schon immer ein Sturkopf<, denkt Olga, während sie ihren Ehemann stützt, der jeden Tag leichter und gebrechlicher wird.
Luigi beobachtet seine Arbeiterinnen und Arbeiter. Sein Blick wandert von einem zum nächsten, und zu jedem scheint er zu sagen: »Danke. Danke. Danke, dass du dich auf mein Abenteuer eingelassen hast, als wäre es deins. Danke, dass du jedes Ziel, jede Herausforderung mit Freude, Leidenschaft und Können angegangen bist.«
Die Stille ist surreal und wird schließlich von einem herzlichen und rauschenden Applaus gebrochen. »Signor Zaini lebe hoch!« »Viva!« »Lang lebe die Zaini!«
Olga weiß, wie anstrengend das alles für ihren Mann ist: »Lass uns gehen, mein Lieber, gehen wir wieder hoch.« Sichtlich gerührt macht sich Luigi auf den Weg. Kurz darauf kehren auch die Angestellten zu ihren Aufgaben zurück. Die Fabrik setzt sich wieder in Bewegung. Um diese Jahreszeit herrscht hektisches Treiben: Ostern steht vor der Tür, die Unmengen bestellter Ostereier müssen bis Ende des Monats fertig sein.
»Geht es dir gut, mein Schatz?«, fragt Olga ihren Mann, der sich, in den eigenen vier Wänden angekommen, sofort auf einen Sessel hat sinken lassen. Sie stellt ihm ein Glas Wasser hin. »Wenn du lesen magst: Hier auf dem Tischchen liegt der Corriere. Die Kinder sind im Haus, aber Emilia ist bei ihnen; und Noemi kocht dir gerade eine Brühe.« Dann fügt sie hinzu: »Ich muss kurz noch mal runter, um etwas mit Ines zu klären.«
Luigi schaut besorgt zu Olga auf. »Nichts Schlimmes«, kommt ihm seine Frau zuvor, »wir müssen uns nur zu den Verkäufen an die Warenhäuser besprechen.« Lächelnd schließt er die Augen und verschiebt die Bitte um seine Pfeife auf später, sein einzig verbliebenes Laster.
»Verzeihung, Emilia, ich muss noch mal runter in die Firma. Luigi ruht sich aus«, sagt Olga zu dem Kindermädchen, während sie Piero, Rosetta, Luisa und Vittorio ermahnt: »Und ihr versucht bitte, so wenig Krach zu machen wie möglich.« Ihre Kinder haben gerade den Metallbaukasten rausgeholt, und wenn alle vier zusammen sind, können sie sehr laut werden. »Zur Not bringst du sie zum Spielen in den Hof. Ich bin zum Mittagessen zurück.« Das Kindermädchen nickt. Bevor sie antworten kann, ist Olga schon aus der Tür.
Es sind intensive Tage. Seit sie zur Generalprokuristin ernannt wurde, ist sie formell für jede Entscheidung verantwortlich: von Einstellungen und Kündigungen über Kontoführung bis zum Abholen von Paketen bei der Post, vom Einkauf der Zutaten bis zur Organisation des Versands - alles geht über ihren Tisch. So hat es Luigi gewollt. Als seine Krankheit diagnostiziert wurde und er den Ernst der Lage erkannte, war ihm klar, dass er handeln musste. Das gebot seine Verantwortung für die Firma. »Olga Torri, du brauchst die Titel, um die Firma überwachen und leiten zu können. Du siehst ja, was um uns herum geschieht - das ist keine Zeit für Leichtfertigkeiten. Morgen gehen wir zum Notar und unterschreiben die Vollmacht«, hatte er eines Abends verkündet und keine Widerrede geduldet.
Wenn er fit genug war, wies Luigi sie seitdem ein, zeigte ihr Konten, Abrechnungen und Listen. Olga hörte zu, machte Notizen und merkte sich alles. Tief in ihrem Inneren spürte sie Angst, aber sie achtete immer darauf, Sorgen und Schwermut hinter einem Lächeln zu verbergen und zu scherzen: »Luigi, ich hasse Rechnen und den Umgang mit Geld!« Selbstironisch fügte sie hinzu: »Nur Geldausgeben mag ich, zum Beispiel in der Schneiderei Agnelli, für Garavaglias Mode, im Hutladen Mutinelli oder bei der Korsettschneiderin in der Via Manzoni.«
Luigi umarmte sie herzlich und antwortete: »Du weißt, dass ich keine Kosten gescheut habe, damit du elegant und gut gekleidet bist. Das wirst du bestimmt weiterhin so handhaben. Du musst es mir sogar versprechen, mein Schatz: Hör nie auf, Absätze zu tragen, auch wenn du zu Hause und in Pantoffeln bist!« Olga lächelte, doch ihre Augen verrieten die stille Traurigkeit in ihrem Herzen.
Nur wenige Tage später verschlechtert sich die Lage.
Luigi geht mit dem ihm eigenen Feingefühl vor. »Olga«, ruft er mit schwacher, müder Stimme. Sie hebt den Kopf von seiner Schulter und antwortet: »Brauchst du etwas? Ich bin hier.«
»Reichst du mir die Pfeife? Ich will sie in der Hand halten. Ich rauche nicht, aber ich will sie spüren.« Olga gibt sie ihm, und Luigi redet weiter: »Noch etwas, dann störe ich nicht mehr. Ich habe einen letzten Wunsch: Fährst du mit den Kindern auch ohne mich nach Florenz?«
Olga hält das jetzt eigentlich nicht für den Moment für solch oberflächliche Gedanken, antwortet aber: »Ja, ich fahre mit unseren Kindern hin, und wir werden uns köstlich amüsieren.«
Luigi lächelt, und kurz darauf hält sein Atem an.
Es ist Samstag, der 26. März 1938, als der Gründer der Zaini stirbt. »Mit 52 Jahren ist heute Luigi Zaini von uns gegangen und hat bei allen, die ihn in seiner unermüdlichen Geschäftigkeit kannten, tiefe Trauer und große Zuneigung hinterlassen«, gibt Olga auf den Seiten des Corriere della Sera bekannt.
Die Beerdigung findet am Montag darauf statt. Ein langer Trauerzug bricht vom Wohnhaus in der Via Abba zur Kirche des Stadtteils Dergano auf. Langsam schreitet Olga hinter der Bahre her, neben ihr Piero und Rosetta, auf der anderen Seite Luisa und Vittorio. Beim Anblick des Sargs ihres Vaters können sie die Tränen nicht zurückhalten. Hinter ihnen folgen Familienangehörige, Angestellte, Freunde und die jungen Mädchen aus dem Waisenhaus Stelline, die aus Tradition Trauerzüge bis zur Beerdigung begleiten. Nach der Messe wird der Sarg zum Zentralfriedhof Cimitero Monumentale gebracht.
Es ist ein langer Tag. Am Abend vertraut Olga ihre Kinder der treuen Emilia an und zieht sich vor dem Essen noch mal zurück. Sie schließt die Zimmertür, setzt sich aufs Bett und weint, gibt sich ihrer Trauer endlich hin. Sie ist stark und gefasst geblieben, wie es ihre Rolle verlangt hat, aber jetzt überkommt sie ein tiefes, unbändiges Schluchzen. »Luigi, wo bist du? Du fehlst mir schon jetzt.« Mit einem Taschentuch trocknet sie ihre Tränen. »Was mach ich nur ohne dich? Ich habe Angst. Ich will in meinem ganzen Leben keine Schokolade mehr sehen.«
Vom Nachttisch nimmt sie das Buch, das Luigi noch vor wenigen Tagen gelesen hat, und ein Brief fällt heraus: »Sehr geehrter Herr Zaini«. Olga erkennt ihre eigene Handschrift. Es ist der erste Brief, den sie damals an ihren zukünftigen Ehemann schrieb - der Brief, in dem sie seinen Heiratsantrag annahm. »Vor Gott erhalten Sie hier nun meine aufrichtige Antwort.« Und etwas weiter unten: »Dieser Moment ist für mich lebensverändernd, und ich spüre seine ganze Feierlichkeit. Doch ich fasse Mut, denn ich habe vollstes Vertrauen in Ihre Unterstützung und Ihre Zuneigung. Sie werden mich leiten und mir Halt geben.« Olga lächelt, als sie an die damalige Förmlichkeit denkt. »Möge ich Ihnen Freude bereiten.« Und ein paar Zeilen darunter: »In der Liebe gibt es keine Opfer!«
Ihr Blick fällt auf das Datum: 28. März 1924. Das ist ein Zeichen - vor genau vierzehn Jahren! »In der Liebe gibt es keine Opfer!«, liest sie noch...
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