Schweitzer Fachinformationen
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In dem Moment, als Flug 937 ins Visier genommen wurde – der Moment, als die mehr als dreihundert Seelen an Bord in eine Gefahr gerieten, deren Ausmaße sie nicht mal ansatzweise ahnen konnten –, dachte der Mann auf Sitz 2B über ein Nickerchen nach.
Sitz 2B war ein Stück nach hinten geneigt und der Mann atmete tief und ruhig. Er sah verwegen aus, groß, dunkelhaarig, mit breiter Brust. Sein dichtes Haar trug er modisch zur Seite gekämmt. Zusätzlich zu seinem guten Aussehen hatte er eine unbeschreibliche Ausstrahlung – sei es nun Charme, Charisma oder auch natürliche Anziehungskraft –, was dazu führte, dass die Flugbegleiterinnen ihm etwas mehr Aufmerksamkeit schenkten, als eigentlich nötig gewesen wäre.
Sein Gesicht war sonnengebräunt und wettergegerbt. Er war in den letzten Wochen zum Klettern in den Schweizer Alpen gewesen und hatte seine Tour mit der Einzelbesteigung der Eiger-Nordwand in etwas unter vier Stunden abgeschlossen. Nicht gerade rekordverdächtig, aber auch nicht schlecht für einen Mann, der seinen Lebensunterhalt nicht mit Klettern verdiente.
Er trug noch immer seine Wanderstiefel. Ein Teil seiner Ausrüstung war über ihm in einem abgetragenen Rucksack verstaut. Der Rest lag unten im Bauch der Boeing 767-300, die sich seit dem Abflug in Zürich pflichtbewusst ihren Weg durch den Himmel pflügte.
Sie befanden sich in einem langen, langsamen Sinkflug in Richtung Dulles International Airport, und der Mann auf Sitz 2B freute sich auf den Abend, denn er plante, mit seinem Vater zu einem Spiel der Orioles zu gehen. Sie hatten sich seit zwei Monaten nicht mehr gesehen, eine viel zu lange Zeit. Sie hatten einiges nachzuholen.
Die 767 schwenkte leicht nach rechts, dann flog sie wieder geradeaus. Sie war ein robustes Flugzeug, daher war die Reise bisher ruhig verlaufen. Nur vor ein paar Minuten hatte es ein paar kaum spürbare Turbulenzen gegeben, als das Flugzeug unter einer hohen Wolkenbank hindurchgeflogen war. Der Mann auf Sitz 2B hatte die Augen zwar geschlossen, schlief jedoch nicht. Er befand sich in der Übergangsphase zwischen Wachen und Schlafen, in der der bewusste Teil seines Denkens nach und nach die Kontrolle an sein Unterbewusstsein abgab.
Dann ertönte das laute Klonk.
Seine Augen öffneten sich. Das war definitiv kein Geräusch, dass man in einem Flugzeug hören wollte oder zu hören erwartete. Es folgten klagende und panische Stimmen, die von einer Position links hinten im Flugzeug zu ihm vordrangen. Über ihm ertönte das Signal zum Anlegen der Sicherheitsgurte. Das Flugzeug flog nicht länger ruhig oder geradeaus. Es war nach links ausgebrochen und ruckelte mit etwa zehn Prozent Neigung dem Erdboden entgegen.
Physiologen hatten als die beiden möglichen Reaktionen auf eine Bedrohung Kampf oder Flucht identifiziert. Doch tatsächlich handelte es sich bei diesen um rein instinktive Reaktionen, das Erbe der affenartigen Vorfahren des Menschen. Als Mitglied einer weiterentwickelten Spezies bildet sich der H. sapiens jedoch ein, diese grundlegenden animalischen Triebe überwunden zu haben. Er ist höflich und zivilisiert, insbesondere in Anwesenheit anderer H. sapiens. Der Anstand ist ihm wichtig – manchmal sogar wichtiger als das Überleben.
Daher besteht die Reaktion der meisten Menschen bei einem Notfall darin, nichts zu tun.
Doch der Mann auf Sitz 2B war nicht wie die meisten Menschen.
Während die anderen First-Class-Passagiere nervöse Blicke austauschten, öffnete der Mann auf Sitz 2B seinen Sicherheitsgurt und ging in den mittleren Teil des Flugzeugs. In ihm brodelte sein Kampf-oder-Flucht-Instinkt – beschleunigter Herzschlag, geweitete Pupillen, gut durchblutete Muskeln, bereit zum Handeln –, doch er war schon lange darauf trainiert, das chemische Chaos in seinem Körper produktiv und zu seinem Vorteil zu nutzen.
Er durchquerte die Business Class, dann erreichte er die Economy Class und die Reihen am Notausgang. Ohne ein Wort an die Passagiere zu richten, die alle die Hälse reckten, um nach draußen schauen zu können, beugte er sich vor und warf selbst einen Blick durchs Fenster. Er brauchte vielleicht anderthalb Sekunden, um einzuschätzen, was er vor sich sah, und noch zwei weitere Sekunden, um zu entscheiden, was er dagegen unternehmen sollte. Er ging zurück in die First Class. Dort traf er auf eine Flugbegleiterin, eine hübsche Frau mit aschblondem Haar, deren Namensschild sie als PEGGY identifizierte. Sie hielt sich an einer Seite des Rumpfs fest.
Die Stimme des Mannes blieb ruhig, als er sagte: „Ich muss mit dem Piloten sprechen.“
„Sir, bitte gehen Sie zurück zu Ihrem Platz und legen Sie den Sicherheitsgurt an.“
„Ich muss sofort mit dem Piloten sprechen.“
„Es tut mir leid, Sir, das ist nicht …“
Sein Tonfall war immer noch ruhig, als er sie abermals unterbrach: „Bei allem Respekt, Peggy, ich habe keine Zeit, mich mit Ihnen zu streiten. Ob Sie es nun wahrhaben wollen oder nicht, wir befinden uns in einer, wie die Piloten es nennen, Todesspirale. Noch ist die Sogwirkung minimal, doch es gibt rein gar nichts, was Ihr Pilot dagegen tun kann. Sie wird unaufhörlich zunehmen. Wenn Sie mich ihm nicht helfen lassen, wird die Spirale enger und enger werden, bis wir in einem steilen Winkel und mit ziemlich hoher Geschwindigkeit auf dem Boden aufschlagen. Vertrauen Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass das für uns alle nicht gut ausgehen wird, ob wir nun die Sicherheitsgurte angelegt haben oder nicht.“
Endlich hatte er sich Peggys Aufmerksamkeit gesichert – und auch ihre Kooperation. Sie ging mit wackligen Schritten auf ein Telefon zu, hob ab und sprach in den Hörer.
„Gehen Sie rein“, sagte sie und nickte in Richtung der Cockpit-Tür. „Sie ist nicht verschlossen.“
Der Pilot hatte graues Haar und Krähenfüße, was ihn als erfahrenen Flieger auswies. Doch in seinen vielen Tausend Flugstunden hatte er sich niemals einer Situation wie dieser stellen müssen. Er setzte sein ganzes Gewicht bei der Bedienung des Steuerknüppels ein, die Muskeln an seinen Armen spannten sich. Das Flugzeug reagierte zwar darauf, jedoch nicht genug.
Der Mann von Sitz 2B hielt sich nicht mit Höflichkeiten auf.
„Eins von Ihren linken Querrudern ist weg und das andere hängt nur noch am seidenen Faden“, sagte er.
„Ich habe den Energiezufluss der Backbordmotoren erhöht und das Seitenruder angepasst, aber ich kann uns nicht gerade halten“, informierte ihn der Pilot.
„Und das wird Ihnen auch nicht gelingen“, erklärte der Mann von Sitz 2B. „Ich glaube nicht, dass ich die Funktion Ihres Querruders wiederherstellen kann. Allerdings denke ich, dass ich es wenigstens wieder in Position bringen kann.“
„Und wie wollen Sie das anstellen?“, fragte der Pilot.
Der Mann von Sitz 2B ignorierte die Frage und erkundigte sich: „Haben Sie Speed Tape in Ihrer Flugkiste?“
„Ja, es liegt im Fach hinter mir.“
„Gut“, sagte der Mann und war bereits auf dem Weg in die angegebene Richtung.
„Wir sind nicht die Einzigen“, berichtete der Pilot.
„Was meinen Sie damit?“
„Drei Flugzeuge sind bereits abgestürzt. Keiner weiß, was zum Teufel los ist. Die Flugsicherung spricht bereits von einem weiteren 11. September. Die Flugzeuge fallen einfach vom Himmel.“
Der Mann von Sitz 2B dachte kurz über diese Information nach und verbannte sie dann aus seinen Gedanken. Sie war unter den gegebenen Umständen momentan nicht von Belang und er würde seine gesamte Konzentration für sein Vorhaben benötigen. „Wie hoch sind wir?“, fragte er.
„Fünftausendsechsundsiebzig Meter und fallend.“
„Okay. Sie müssen die Fluggeschwindigkeit auf zweihundertsechzig Kilometer pro Stunde drosseln, auf viertausend Meter sinken und den Kabinendruck ausschalten. Können Sie das für mich tun?“
„Ich denke schon.“
„Wie ist Ihr Name, Captain?“
„Estes. Ben Estes.“
„Captain Estes, ich werde Ihnen teilweise Kontrolle über diesen Vogel verschaffen. Hoffentlich genug, um uns sicher runterzubringen. Halten Sie die Maschine in den nächsten fünf Minuten für mich so ruhig Sie können. Keine plötzlichen Bewegungen.“
„Roger. Wie lautet Ihr Name, mein Sohn?“
Doch der Mann von Sitz 2B hatte das Cockpit bereits verlassen. Er hielt kurz an seinem Sitz an, öffnete die Gepäckklappe über sich und holte seinen Rucksack heraus. Aus dem Rucksack zog er einen Klettergurt von Petzl Modell Hirundos, einige Karabiner und ein siebzig Meter langes Kletterseil der Marke...
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