Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Mit dem Regen kommt die Flut. In meiner Kindheit war das einer der Lieblingssprüche meiner Mamm. Damals verstand ich den tieferen Sinn ihrer Worte nicht, denn wann immer etwas »Mehr« wurde, bedeutete das für ein amisches Mädchen wie mich meistens etwas Gutes. Die Welt um mich herum glich einem dahinrauschenden Fluss mit Stromschnellen und Untiefen voller Geheimnisse, die ich mir kaum ausmalen konnte. Ich war begierig, den Fluss zu befahren, wollte in alle dunklen Felsspalten tauchen und ihre streng gehüteten Geheimnisse lüften. Erst in meinen Zwanzigern wurde mir bewusst, dass der Fluss auch über seine Ufer treten und zu einer tödlichen Gefahr werden konnte.
Meine Mamm ist inzwischen tot, und ich bin seit fünfzehn Jahren keine Amische mehr, doch den alten Spruch zitiere ich immer noch gern, besonders wenn es um meine Arbeit bei der Polizei und um mein eigenes Leben geht.
Seit drei Uhr heute Nachmittag fahre ich nun schon Streife, und für einen Freitag ist der Polizeifunk gespenstisch still, nicht nur in Painters Mill selbst, sondern in ganz Holmes County. Bis jetzt habe ich bloß einen Strafzettel wegen Überschreitens der Höchstgeschwindigkeit ausgestellt, und das hauptsächlich deshalb, weil der achtzehnjährige Fahrer ein Wiederholungstäter ist und irgendwann jemanden totfährt, wenn er so weitermacht. Seit etwa einer Stunde patrouilliere ich in den Seitenstraßen und gebe mir alle Mühe, nicht über ernstere Dinge nachzudenken, wie zum Beispiel über meine Beziehung mit State Law Agent John Tomasetti, die wesentlich komplizierter geworden ist, als wir beide das gedacht hätten.
Wir haben uns vor fast zwei Jahren während der Untersuchungen zu den Schlächter-Morden kennengelernt. Ein grauenhafter Fall, bei dem ein brutaler Serienmörder in Painters Mill wütete. Tomasetti, damals Agent beim Ohio Bureau of Identification and Investigation, war zur Unterstützung geschickt worden, und meine persönliche Verwicklung in den Fall hatte die ganze Situation ziemlich haarig gemacht. Also denkbar schlechte Umstände, besonders für den Beginn einer Beziehung, beruflich wie privat. Doch irgendwie war aus dem, was eine Katastrophe biblischen Ausmaßes hätte werden können, etwas Neues und vollkommen Unerwartetes geworden. Wir versuchen immer noch herauszufinden, was diese Bindung für uns bedeutet, und ich denke, er ist besser darin als ich.
Denn wie bei allen zwischenmenschlichen Beziehungen kann man sich noch so sehr bemühen, die Dinge einfach zu halten, irgendwann wird es dann doch wieder kompliziert. Tomasetti und ich sind an einem Scheideweg angelangt, Veränderung liegt in der Luft. Das muss nicht zwangsläufig negativ sein, doch leicht sind Veränderungen fast nie. Unentschlossenheit kann zermürbend sein, besonders wenn man an einer Gabelung steht und sich nicht entscheiden kann, in welche Richtung man gehen soll. Wobei jeder Weg auch noch in eine komplett andere Welt führt.
Momentan gelingt es mir nicht besonders gut, meine Probleme beiseitezuschieben, weshalb ich mir - wie zu meiner Zeit als Streifenpolizistin - ein bisschen Chaos wünsche. Zum Beispiel eine Kneipenschlägerei. Oder eine häusliche Auseinandersetzung, natürlich ohne dass jemand ernsthaft verletzt wird. Was das wohl über mich aussagt, dass ich mich lieber mit ein paar stinkenden Trinkern beschäftige als mit den Entscheidungen, die in meinem Leben anstehen?
Als ich auf den Parkplatz von LaDonna's Diner einbiege, um mir ein Schinkensandwich mit Tomate und Salat und einen Kaffee zum Mitnehmen zu holen, erwacht mein Funkgerät knisternd zum Leben. »Sechs zwei drei.« Es ist Jodie Metzger, die abends in der Telefonzentrale arbeitet.
Ich nehme das Mikro. »Was gibt es, Jodie?«
»Chief, gerade kam ein Notruf von Andy Welbaum rein. Schwerer Unfall auf der Delisle Road, Kreuzung County Road 14.«
»Jemand verletzt?« Ich blicke in den Rückspiegel und mache auf dem Parkplatz eine Kehrtwende. Das Abendessen kann warten.
»Ein Buggy ist beteiligt. Welbaum sagt, es sieht schlimm aus.«
»Schicken Sie einen Krankenwagen hin, und benachrichtigen Sie Holmes County.« Fluchend biege ich nach links auf die Main Street, mache Blaulicht und Sirene an und jage den Motor auf achtzig Stundenkilometer hoch. »Bin auf dem Weg.«
Sobald das Industriegebiet von Painters Mill hinter mir liegt, trete ich richtig aufs Gas, und der Tacho zeigt einhundert an. Nur Sekunden später knistert erneut das Funkgerät mit der Meldung ans Sheriffbüro in Holmes County. Ich biege nach links auf die Delisle Road ab, eine kurvige Asphaltstraße durch dichte Wälder, tagsüber landschaftlich reizvoll, doch nachts hochgefährlich, vor allem wegen des vielen Wilds in dieser Gegend.
Noch etwa eine Meile bis zur Kreuzung Delisle und County Road 14. Mit heulendem Motor beschleunige ich auf einhundertzwanzig, Briefkästen und schwarze Baumstämme fliegen seitlich an meinem Explorer vorüber. Vom nächsten Hügel aus sehe ich die Scheinwerfer eines einzigen Fahrzeugs. Kranken- und Streifenwagen sind noch nicht eingetroffen, ich bin die Erste am Unfallort.
Etwa zwanzig Meter vor der Kreuzung erkenne ich Andy Welbaums Pick-up. Welbaum wohnt nicht weit von hier und ist wahrscheinlich auf dem Heimweg von der Fabrik in Millersburg. Der Wagen steht halb auf dem Seitenstreifen, wie hastig abgestellt, die Scheinwerfer sind auf die Überreste eines zerstörten vierrädrigen Buggys gerichtet. Ein Pferd sehe ich nicht, es ist entweder nach Hause gelaufen oder tot. Nach dem Zustand des Buggys zu urteilen vermutlich Letzteres.
»Verdammt.« Ich steige voll auf die Bremse, komme schlitternd auf dem Schotterbankett zum Stehen, mache Warnblinklichter und Fernlicht an und schiebe den Schalthebel auf Parken. Mit ein paar Warnfackeln vom Rücksitz und der MagLite springe ich aus dem Wagen, reiße die Schutzkappen von den Fackeln und verteile die Leuchten auf der Straße. Dann mache ich mich auf zum Buggy.
Alle meine Sinne sind in Alarmbereitschaft, und mehrere Dinge fallen mir gleichzeitig auf: In der südwestlichen Ecke der Kreuzung liegt reglos ein Rotfuchs mit Geschirr. Etwa zehn Meter davon entfernt ist der seitlich umgekippte amische Buggy in zwei Teile gerissen. Gesplittertes Holz, zwei fehlende Räder, und Trümmer im Umkreis von zehn Metern - Holzstücke und Fiberglasbrocken. Doch ich registriere noch mehr: den Schuh eines Kindes, einen flachkrempigen Hut inmitten von braunem Gras und trockenem Laub.
Und mir wird klar, dass es schlimm ist. Schlimmer als schlimm. Es wäre ein Wunder, wenn das jemand überlebt hat.
Auf halbem Weg zum Buggy sehe ich das erste Opfer. Ein Kind. Wie in Zeitlupe kommt alles um mich herum zum Stillstand, als hätte jemand in meinem Kopf einen Schalter umgelegt.
»Scheiße. Scheiße.« Ich renne hin, falle auf die Knie. Es ist ein kleines Mädchen mit blauem Kleid, sechs oder sieben Jahre alt. Ihre schiefhängende Kapp ist blutgetränkt von einer Kopfverletzung.
»Schätzchen«, flüstere ich mit erstickter Stimme.
Das Kind liegt auf dem Rücken, die Arme seitlich ausgestreckt, die pummeligen Hände offen. Ihr Gesichtsausdruck ist so entspannt, dass sie auch schlafen könnte. Aber ihre Haut ist grau und der Mund geöffnet, zwischen den blauen Lippen schimmern kleine weiße Milchzähne. Die Augen sind schon glasig, blicklos, und die Füße nackt. Der Zusammenstoß muss so gewaltig gewesen sein, dass ihre Schuhe weggeflogen sind.
Wie ferngesteuert drücke ich aufs Ansteckmikro am Revers und melde einen Verkehrsunfall. Mit Toten. Als ich aufstehe, zittern mir die Beine, mir ist schlecht, und ich schlucke etwas, das wie Galle schmeckt. Die Nacht um mich herum ist so still, dass ich den abkühlenden Motor des Pick-ups in einiger Entfernung ticken höre. Selbst die Grillen und Nachtvögel sind verstummt, wie aus Andacht angesichts des Unglücks, das sich vor wenigen Minuten hier ereignet hat.
Im Licht der Autoscheinwerfer schwirren Insekten. Ich nehme ganz schwach ein Weinen wahr, leuchte mit der Taschenlampe in die Richtung und sehe Andy Welbaum schluchzend neben seinem Wagen am Boden sitzen, das Gesicht in den Händen vergraben.
»Sind Sie verletzt?«, rufe ich ihm zu.
Er sieht mich an, als wundere er sich über diese Frage. »Nein.«
»Wie viele waren im Buggy? Haben Sie nachgesehen?« Ich laufe umher und blicke mich um, entdecke ein weiteres Opfer.
Welbaums Antwort höre ich nicht mehr, bin schon unterwegs zu dem amischen Mann auf dem grasbewachsenen Seitenstreifen. Er liegt auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht, im schwarzen Mantel und dunklen Hosen. Die große Blutlache, die um ihn herum das Gras tränkt, und das verdrehte linke Bein mit dem Fuß, der in die falsche Richtung zeigt, versuche ich auszublenden. Er ist bei Bewusstsein und sieht mit einem Auge in meine Richtung.
Ich knie mich neben ihn.
»Es wird alles gut«, sage ich, »Sie hatten einen Unfall, ich bin hier, um zu helfen.«
Er öffnet den Mund. An seinem Vollbart erkenne ich, dass er verheiratet ist, und frage mich, ob auch seine Frau hier irgendwo liegt.
Ich lege die Hand auf seine, die ganz kalt ist. »Wie viele weitere Personen waren im Buggy?«
»Drei . Kinder.«
Mein Herz setzt für eine Sekunde aus. Ich will nicht noch mehr tote Kinder finden. Ich streichele seine Hand.
»Gleich ist Hilfe da.«
Unsere Blicke treffen sich. »Katie .«
Meinen Namen aus dem blutigen Mund zu hören erschüttert mich. Die Stimme kenne ich, auch das Gesicht, und dann trifft mich die Erkenntnis wie ein Schlag. Es ist Jahre her, aber manche Menschen vergisst man nie. Paul Borntrager ist einer...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.