Schweitzer Fachinformationen
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Dies ist kein Tagebuch. Ich empfinde Abscheu allein bei dem Gedanken, meine Gedanken und Taten in einem Buch zu horten und wegzuschließen, als seien sie kostbare Juwelen.
Ich weiß: Meine Gedanken sind keine kostbaren Juwelen.
Seit einiger Zeit befürchte ich, dass meine Gedanken eher Früchte des Wahnsinns sind.
Aus diesem Grund drängt es mich, sie niederzuschreiben. Mag sein, dass mir irgendwann in der Zukunft beim nochmaligen Durchlesen klarwerden wird, warum mir jene grauenhaften Dinge zugestoßen sind.
Oder mir wird klarwerden, dass ich in der Tat verrückt geworden bin.
Sollte das der Fall sein, so mag dies Büchlein bezeugen, wie mein paranoider Wahn begann, damit auf dieser Grundlage nach einem Heilmittel gesucht werden kann.
Nur - will ich geheilt werden?
Vielleicht sollte diese Frage vorerst zurückgestellt werden.
Ich will mit dem Tag beginnen, an dem alles anders wurde. Es war nicht der heutige, an dem ich diese Niederschrift beginne. Er liegt zweieinhalb Monate zurück - am ersten November des Jahres 1892. Dem Morgen, als meine Mutter starb.
Selbst hier, auf den stummen Seiten dieses Büchleins, zögere ich, mir jenen schrecklichen Morgen ins Gedächtnis zu rufen. Meine Mutter starb in einem Schwall von Blut, der sich aus ihr ergoss, nachdem sie den winzigen, leblosen Körper meines Bruders zur Welt gebracht hatte - Barrett, benannt nach Vater. Schon damals, nicht anders als heute, hatte ich das Gefühl, dass Mutter einfach aufgab, als sie erkannte, dass Barrett nicht leben würde. Es war, als könnte nicht einmal die Lebenskraft, die ihr innewohnte, den Verlust ihres heißersehnten einzigen Sohnes ertragen.
Oder konnte sie es in Wahrheit nicht ertragen, nach dem Verlust des heißersehnten einzigen Sohnes Vater in die Augen zu sehen?
Vor jenem Morgen wäre mir diese Frage niemals gekommen. Bis zu dem Tag, an dem meine Mutter starb, war mein Kopf von Fragen wie jener erfüllt, wie es mir wohl gelingen würde, Mutter zu überreden, mir ein zweites Radfahrkostüm zu kaufen, wie sie derzeit der letzte Schrei sind, oder wie ich es wohl anstellen könnte, dass mein Haar genauso aussah wie das eines Gibson Girls.
Hatte ich vor dem Tag, an dem Mutter starb, an Vater gedacht, so auf eine Weise, wie die meisten meiner Freundinnen an ihre Väter denken - als unnahbaren, etwas einschüchternden Patriarchen. In meinem Fall war es sogar so, dass ich Lob von ihm nur aus Mutters Kommentaren erahnen konnte. Im Grunde schien er mich vor Mutters Tod kaum wahrzunehmen.
Als Mutter starb, war Vater nicht dabei. Der Arzt hatte beschieden, dass der primitive Geburtsvorgang nichts sei, was einem Mann zu sehen anstünde, schon gar nicht einem Mann von solcher Bedeutung wie Barrett H. Wheiler, Präsident der First National Bank von Chicago.
Und ich? Die Tochter von Barrett und Alice Wheiler? Mir gegenüber sagte der Arzt nichts von der Primitivität einer Geburt. Tatsächlich nahm er erst überhaupt Notiz von mir, als Mutter tot war und Vater mich bei ihm in Erinnerung rief.
»Emily, verlasse mich nicht. Warte mit mir, bis der Doktor kommt, und bleib dann hier in der Fensternische sitzen. Du sollst wissen, was es bedeutet, Ehefrau und Mutter zu sein. Du sollst dich nicht blind darauf einlassen, wie ich es tat.« So hatte Mutter mich mit ihrer leisen Stimme gebeten, die bei allen, die sie nicht näher kannten, den Eindruck erweckte, sie sei etwas schlicht im Geiste und lediglich ein hübsches, gefügiges Anhängsel an Vaters Arm.
Ich hatte genickt, »Ja, Mutter« gesagt und getan wie befohlen. Ich erinnere mich, wie ich still wie ein Schatten in der unbeleuchteten Fensternische gegenüber von Mutters Bett in ihrem prächtigen Schlafzimmer gesessen hatte. Ich sah alles mit an. Sie brauchte nicht lange, um zu sterben.
Es war so unvorstellbar viel Blut. Schon Barrett kam in Blut gebadet zur Welt - ein winziges, schlaffes, blutverschmiertes Geschöpf, das aussah wie eine grotesk verkrümmte Puppe. Aber nachdem er in jenem letzten Wehenkrampf aus der Öffnung zwischen den Beinen meiner Mutter ausgestoßen worden war, hörte das Blut nicht auf zu fließen. In immer neuen Wellen trat es aus, während meine Mutter so lautlos weinte, wie ihr Sohn da lag. Dass sie weinte, weiß ich, weil sie das Gesicht abwandte, als der Arzt ihr totes Kind in weiße Tücher wickelte. Und dann sah sie mich an. Da war es mir unmöglich, sitzen zu bleiben. Ich stürzte an ihr Bett, während der Arzt und die Schwester sich vergeblich mühten, den roten Strom aus ihrem Innern zum Versiegen zu bringen. Ich nahm ihre Hand und strich ihr das feuchte Haar aus der Stirn. Angsterfüllt und unter Tränen versuchte ich ihr Trost zuzusprechen, ihr zu versichern, alles werde gut, wenn sie sich nur etwas ausgeruht habe.
Sie hatte meine Hand gedrückt. »Wie schön, dass du am Ende bei mir bist.«
»Nein! Du wirst wieder gesund, Mutter!«, hatte ich protestiert.
»Pssst«, hatte sie sanft gemurmelt. »Halte nur meine Hand.« Und ihre Stimme versagte, doch ihre smaragdfarbenen Augen, von denen jeder sagte, meine sähen ganz genauso aus, blieben auf mich geheftet, während ihr gerötetes Gesicht entsetzlich weiß wurde und ihr Atem abflachte, spärlicher wurde und dann, mit einem Seufzer, ganz erstarb.
Da küsste ich ihre Hand, taumelte zurück in meine Fensternische und weinte bitterlich, unbemerkt von der Schwester, der die grausame Aufgabe zufiel, die blutgetränkten Leintücher fortzuschaffen und Mutter so herzurichten, dass ihr Anblick Vater zuzumuten war. Doch Vater wartete nicht, bis Mutter für ihn bereit war. Ohne dem Protest des Arztes Beachtung zu schenken, stürzte er ins Zimmer.
»Ein Sohn, sagten Sie?« Vater warf nicht einmal einen Blick auf das Bett. Stattdessen eilte er zu der Kinderwiege, in die man Barretts verhüllten Körper gelegt hatte.
»Es war in der Tat ein Knabe«, sagte der Arzt betrübt. »Zu früh geboren, wie ich Ihnen bereits sagte, Sir. Niemand hätte etwas tun können. Seine Lungen waren noch zu schwach, um Atem zu holen. Er gab nicht einen einzigen Schrei von sich.«
»Tot . totgeboren.« Müde rieb Vater sich das Gesicht. »Ich weiß noch, als Emily geboren wurde, schrie sie so herzhaft, dass ich sie unten im Salon hörte und glaubte, es sei ein Sohn.«
»Mr. Wheiler, ich weiß, nach dem Verlust der Gattin und des Sohnes ist es nur ein geringer Trost, aber Sie haben noch eine Tochter, deren Nachkommen die Ihren sein werden.«
»Es war sie, die mir Nachkommen versprach!«, donnerte Vater und sah endlich zu Mutter hinüber.
Da muss ich einen kleinen, wehen Laut von mir gegeben haben, denn sofort richteten sich Vaters Augen auf meine Fensternische. Sie verengten sich, und einen Moment lang schien es, als erkenne er mich nicht. Dann schüttelte er sich, wie um etwas Unangenehmes von sich abzustreifen.
»Emily, was machst du denn hier?« Es klang so zornig, dass es mir schien, als wolle er etwas ganz anderes fragen als nur, warum ich zu jener Stunde in jenem Zimmer sei.
»M-mutter wollte, d-dass ich bleibe«, stotterte ich.
»Deine Mutter ist tot.« Aus dem Zorn wurde der knappe, harte Ton der Wahrheit.
»Und dies ist kein Ort für eine junge Dame.« Errötend wandte sich der Arzt an meinen Vater. »Ich bitte um Verzeihung, Mr. Wheiler. Die Geburt verlangte all meine Aufmerksamkeit. Ich habe das Mädchen schlicht und einfach nicht bemerkt.«
»Sie trifft keine Schuld, Dr. Fisher. Meine Gemahlin tat und sagte oft wunderliche Dinge. Dies war nun wohl das letzte Mal.« Mit einer Geste scheuchte er den Arzt, die Dienstmägde und mich selbst davon. »Lassen Sie mich mit Mrs. Wheiler allein. Alle.«
Ich wollte aus dem Zimmer rennen - alldem so schnell wie möglich entfliehen -, doch von dem langen unbeweglichen Sitzen waren meine Füße kalt und taub geworden. Als ich an Vater vorbeiging, stolperte ich. Seine Hand ergriff mich stützend am Ellbogen. Erschrocken sah ich auf.
Der Blick, mit dem er auf mich herabsah, schien plötzlich viel sanfter. »Du hast die Augen deiner Mutter.«
Alles, was ich schwindelig und außer Atem hervorbrachte, war: »Ja.«
»Warum auch nicht. Schließlich bist nun du die Dame des Hauses Wheiler.«
Damit ließ Vater mich los und trat langsam, schweren Schrittes, an das blutgetränkte Bett.
Während ich die Tür hinter mir schloss, hörte ich, wie er zu weinen begann.
Auch für mich begann nun eine seltsame, einsame Zeit der Trauer. Wie betäubt brachte ich das Begräbnis hinter mich und brach danach zusammen. Es war, als habe der Schlaf die Herrschaft über mich übernommen und ich könne mich nicht befreien. Zwei volle Monate lang verließ ich kaum das Bett. Mich kümmerte nicht, dass ich dünn und blass wurde oder dass die Freundinnen meiner Mutter und ihre Töchter, die sich zu Kondolenzbesuchen anmelden wollten, keine Antwort erhielten. Ich nahm keine Notiz davon, dass ein Weihnachtsfest und ein Neujahrstag heranrückten und vorübergingen. Mary, die Kammerfrau meiner Mutter, die ich geerbt hatte, flehte mich an, sprach mir gut zu oder schalt mich. Es kümmerte mich nicht.
Vater war es, der mich am fünften Januar den Klauen des Schlafs entriss. In meinem Zimmer war es kalt geworden, so kalt, dass ich von meinem eigenen Zittern erwachte. Das Feuer in meinem Kamin war ausgegangen, und so zog ich an dem Band, das mit Marys Glocke in den Dienstbotenquartieren, in den tiefsten Gründen des Hauses, verbunden war. Doch sie kam nicht. Ich weiß noch, wie ich meinen Hausmantel anlegte und dabei...
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