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Unter ihnen zogen die Trümmer des Tausendjährigen Reiches vorbei. Anns Herz klopfte so heftig, dass sie es am Hals spürte. Sie lauerte auf das Sirren hinter den Motorgeräuschen. Aber auch schon das Dröhnen der Motoren reichte, damit ihr der Atem stockte. Über viele Monate hinweg hatte sie Maschinen wie diese aus der Luft geholt. Und jetzt saß sie freiwillig in einem Flugzeug. Ihr Ziel: das Herz des Feindeslandes.
Das Motorengeräusch wurde tiefer. Der Co-Pilot forderte die jungen Frauen, die wie Reben an einem Traubenstock vor den kleinen Fenstern hingen, auf, sich zu setzen und anzuschnallen. Alle begaben sich auf ihre Plätze. Ann drängte sich an die Außenwand. Die Militärmaschine war nur behelfsmäßig mit Sitzplätzen ausgestattet.
Wie die anderen gehörte Ann zum ATS - dem Auxiliary Territorial Service, der Frauenabteilung des britischen Heeres. An ihren monströsen Flakbatterien hatten sie die deutschen Flugzeuge mit ihren Scheinwerfern verfolgt und ihre Position bestimmt. Die Männer hatten die Granaten geladen, sie hatten gezielt und abgefeuert. Zumindest hatte Ann das bis zu jener Nacht im vorletzten Winter gemacht.
Holprig landeten sie auf dem Flugfeld und rollten aus. Endlich blieb die Maschine mit einem Ruck stehen. Ann packte ihre Habseligkeiten. Ein aufgeregtes Tuscheln hob an. Für die meisten der jungen Frauen war diese Reise ein spannender Ausflug. Nur zwei von ihnen hatten jemals ausländischen Boden betreten. Und jetzt reisten sie in das Land, das sie in den vergangenen sechs Jahren zu hassen gelernt hatten.
Ann stieg als eine der Letzten die kurze Metallleiter hinab, die von einem britischen Soldaten festgehalten wurde. Unten sammelten sie sich vor einer etwa zehn Jahre älteren Frau in Uniform. Eilig ordnete Ann sich neben Karen in die Reihe ein. Als alle in Formation standen, setzte die Uniformierte eine wohlwollende Miene auf.
»Willkommen in Berlin. Ich sollte lieber sagen, in den Ruinen von Berlin. Denn viel haben unsere Jungs nicht mehr übrig gelassen von der Weltstadt. Vielleicht werden Sie Gelegenheit bekommen, die Innenstadt zu besuchen. Dann werden Sie sehen, dass auch wir Engländer sehr gründlich sein können.« Sie schenkte der Gruppe ein strahlendes Lächeln.
»Mein Name ist Miss Bright, Joan Bright. Ich bin vom Kriegsministerium und für die Vorbereitung der Konferenz zuständig, und damit für Sie alle. . Wir sind hier in Berlin-Gatow, einem der Flugplätze, von dem aus auch die Maschinen gestartet sind, die unsere Heimat zerstört haben.« Sie machte eine ausladende Geste.
Anns Blick lief über die Umgebung. Sie war nicht die Einzige. Alle schauten sich neugierig um. Ein kaputter Wachturm, große Einschlagtrichter in der Erde. Dunkle Teerflecken auf der Landebahn, wo vermutlich ihre britischen Kameraden schon etliche Bombenkrater ausgebessert hatten.
»Der Flugplatz Gatow war in den letzten Tagen des Krieges sehr umkämpft. Was Sie hier erahnen können, ist schon mal ein kleiner Vorgeschmack auf den Rest des Landes. Die Reichshauptstadt liegt wahrlich in Trümmern.« Sie betonte Reichshauptstadt voller Abscheu.
»Ich kann Ihnen gar nicht genug ans Herz legen, jederzeit vorsichtig zu sein. Trauen Sie niemandem. Nach wie vor gilt das Fraternisierungsverbot: Sie dürfen nicht privat mit Deutschen sprechen. Viel gefährlicher aber sind die Deutschen, die gar nicht mit einem sprechen wollen. Überall kann jemand lauern, der Hitlers letztem Befehl - Sieg oder Untergang - folgt. Ich denke, ich muss Ihnen nicht sagen, dass Sie keinesfalls alleine unterwegs sein dürfen.«
Einige der Frauen nickten. Miss Bright quittierte das wohlwollend. Ann begann zu ahnen, dass ihre Kontaktaufnahme schwieriger werden könnte als gedacht.
Zwei Mannschaftswagen kamen näher und fuhren eine große Kurve, bis sie ein paar Meter entfernt von der Gruppe stehen blieben. Die jungen Frauen griffen nach ihrem Gepäck und stellten sich bei den Wagen an. Ann und Karen standen in der Schlange am hinteren Wagen, als die Propeller des Flugzeuges wieder schneller wurden. Die schwere Maschine rollte vorwärts und drehte sich dabei in Startposition. Vermutlich würde sie zurück nach England fliegen und weitere ATS-Frauen, Ausrüstung, Verpflegung und sonstige Dinge holen, die man hier vor Ort brauchte.
Eine heftige Luftströmung erwischte Anns Barett. Es flog davon. Sie ließ ihr Gepäck stehen und rannte hinterher. Aber als wollte der Wind sie necken, blies er den leichten Stoff immer wieder fort von ihr. Sie rannte, stoppte, rannte weiter. Ein ums andere Mal wehte die Böe ihre Kopfbedeckung weiter, sobald sie sich danach bückte. Ann kam ins Schwitzen. Es musste urkomisch aussehen, was sie hier trieb.
Ein amerikanischer Jeep kam in ihre Richtung herangebraust und blieb abrupt zehn Meter vor Ann stehen. Der Soldat sprang heraus, lief ein paar Schritte und schnappte sich ihr Barett.
Mit einem verschmitzten Lächeln kam der Mann auf sie zu. »Ich nehme an, das gehört Ihnen.« Er reichte ihr das olivfarbene Stück. Jetzt grinste er strahlend.
»Danke sehr.« Himmel, war das peinlich. Bestimmt hatte er ihre lächerliche Verfolgungsjagd mit angesehen. Seine Miene wirkte aber kein bisschen abschätzig. Es sah eher so aus, als wäre er überrascht oder erfreut.
»Gerade erst angekommen?«
Ann schaute kurz zu den anderen Frauen, die alle in ihre Richtung starrten. »Ja, wir werden die Unterkünfte für die britischen Delegierten der Konferenz vorbereiten.«
Er nickte, als wüsste er genau, was sie meinte. »Unterkünfte klingt sehr schlicht. Ich habe sie schon gesehen. Es sind alles prächtige Villen. Schauen Sie sich gut um. In einigen der Häuser haben deutsche Filmstars gewohnt.«
»Ach, das wusste ich gar nicht.« Für einen Moment geriet Ann aus dem Konzept. Der Soldat hatte ein einnehmendes Wesen. Er war spontan und offen, wie so viele Amerikaner. Aber da war noch mehr. Sein Blick ruhte weiterhin erwartungsvoll auf ihr. Vielleicht hoffte er auf eine geistreiche Bemerkung. Aber Ann wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie schwitzte aus allen Poren, nicht nur, weil es so heiß war. Ach was, wischte sie einen plötzlich aufkommenden Gedanken weg. Für so was hatte sie nun wirklich keine Zeit. »Also . Danke noch mal.«
»Na dann. . Nachdem ich meine gute Tat für heute getan habe, muss ich zurück. Ich bin Fahrer beim amerikanischen Hauptquartier, aber auch für unsere Delegierten auf der Konferenz. . Corporal Jackson Powers.«
»Ann Miller. . Also herzlichen Dank, Corporal Powers.« Ann lächelte verlegen. Was für ein sympathischer Kerl.
»Dann laufen wir uns ja vielleicht noch mal über den Weg, während der Konferenz.«
»Ganz bestimmt sogar.« Powers tippte an seine Stirn und lief rückwärts mit einem Grinsen zu seinem Auto zurück.
Nur einmal erlaubte Ann sich zurückzuschauen. Der Amerikaner sprang in seinen offenen Jeep und fuhr wieder in Richtung des zerbombten Wachturmes.
Die jungen Frauen bedachten ihre Rückkehr in die Gruppe mit Getuschel und leisen Pfiffen. Eine von ihnen fragte scherzhaft in Richtung Miss Bright: »Gilt das Fraternisierungsverbot auch für die alliierten Streitkräfte?«
»Nur für die allzu gut aussehenden Soldaten«, sagte ihre Vorgesetzte mit schelmischer Miene. Doch mit einem warnenden Unterton setzte sie nach: »Machen Sie mir bloß keine Schande. Sie wissen doch alle, was wir über die GIs sagen.«
Eine Frau neben Ann ergriff das Wort. »Overpaid, oversexed, and over here!«
Die ganze Gruppe brach in schallendes Gelächter aus.
»Dann gehe ich davon aus, dass Sie sich hier genauso gesittet benehmen wie in Ihrer Heimat.« Es klang nicht vorwurfsvoll. Miss Bright schien sehr umgänglich zu sein. Trotzdem fixierte sie Ann mit einem kritischen Blick. Etwas, was sie nicht beabsichtigt hatte. Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, war das Letzte, das sie wollte.
Das Lachen verging ihnen auf der Fahrt. Es herrschte eine gespenstische Atmosphäre. Der Landstrich, den sie durchquerten, war fast menschenleer. Die wenigen Deutschen, die sie sahen, verschwanden eilig in Nebenstraßen oder ihren Häusern, sobald sie die Militärfahrzeuge erblickten.
Kurz darauf führte ihr Weg in einen lichten Wald hinein. Vögel zwitscherten friedlich. Durch die Bäume schimmerte die Havel. Man hätte meinen können, sie wären auf einem idyllischen Sommerausflug.
Bis auf ein paar Einschusslöcher in den Wänden der Häuser und eine angsterfüllte Atmosphäre deutete nichts auf den Krieg hin. Ann platzte fast vor Aufregung. Einerseits gab es da die schrecklichsten Befürchtungen, auf der anderen Seite eine fast greifbare Neugierde. Wie sah das Land jetzt nach den heftigen Gefechten und Bombardements aus? Wie all die anderen Frauen ließ sie ihren Blick begierig über die Landschaft schweifen.
Auf einer zerschossenen und halb ins Wasser gesunkenen Stahlbrücke stand ein einsamer deutscher Panzer. Ein ungewohnter Anblick für alle. Die deutschen Panzer hatten es nicht auf englischen Boden geschafft. Allerdings hatten die Bomber und die verhassten V1- und V2-Raketen mit ihren zerstörerischen Ladungen die britische Bevölkerung terrorisiert.
So viele Menschen hatten für diesen Wahnsinn mit ihrem Leben bezahlen müssen, dachte Ann. So viele Menschen, getötet von Deutschen. Sie wagte nicht, nach dem Zettel zu tasten, den sie sich unter den Büstenhalter geschoben hatte. Niemand durfte ihren so sorgfältig aufgezeichneten Straßenplan entdecken. Man würde sie sofort als...
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