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Es war wie in einem Märchen. Wie sonst sollte sie hier in das Schloss gekommen sein? Und nicht nur ins Schloss, nein. Just in diesem Moment stieg Adelheid in die Räumlichkeiten der Fürstenfamilie hoch. Natürlich über die Hintertreppe. Dabei war selbst die Treppe der Dienerschaft noch zu gut für sie. Die abgewetzten Granitstufen waren blitzblank gescheuert. Hoffentlich brachte sie keinen Schmutz mit ins Schloss. Sie schämte sich, die Stufen mit ihren dreckigen Schuhen zu betreten. Aber mit Scham kannte sie sich aus. Scham war wie ein räudiger Hund, der ihr überallhin folgte, sobald sie ihre ärmliche Hütte verließ.
»Nicht trödeln!«, ermahnte sie Frau Reineke, die Mamsell des Schlosses.
Adelheid wagte einen Blick hoch. Die Furcht einflößende Frau lief ein ganzes Stück vor ihr. Tatsächlich hatte sie wohl einen Blick zu viel auf die herrschaftliche Umgebung riskiert. Sie beeilte sich aufzuholen. »Nein, natürlich nicht.«
»Wenn wir oben bei der Fürstin sind, sagst du nur etwas, wenn du gefragt wirst, verstanden?« Das schmale Gesicht der Mamsell wirkte verbittert, ihre Worte klangen harsch.
»Ja, selbstverständlich. Nur, wenn ich gefragt werde«, wiederholte sie laut.
Nun wäre sie fast gegen die Mamsell gelaufen. Die war auf der Treppe stehen geblieben. Ihr Schlüsselbund klirrte leise, so schnell hatte sie sich zu ihr umgedreht.
»Nein. Ich habe doch gesagt, nur antworten, wenn du etwas gefragt wirst. Du musst niemandem sagen, dass du eine Anweisung verstanden hast. Hier im Haus wird davon ausgegangen, dass du weißt, was du zu tun hast. Ist das klar?« Sie schaute sie prüfend an. Die schwarzen Haare zu einem strengen Dutt gebunden, ließen das schmale Gesicht noch härter wirken.
Adelheid schluckte. Sie hatte überhaupt keine Ahnung, wieso ausgerechnet sie gerufen worden war. Und sie hatte nur eine vage Vorstellung davon, was sie hier erwartete. Putzen, aufräumen, schleppen - so viel war ihr bewusst. Aber was genau man von ihr verlangen würde, das war ein Mysterium.
Ein Mysterium, das am letzten Sonntag angefangen hatte, nach der Frühmesse. Von einem Moment auf den anderen war ihr Leben umgekrempelt worden. Und das ihrer Familie gleich dazu. Seitdem gab es kein anderes Thema mehr: Adelheid, die Tochter eines schäbigen Tagelöhners, sollte im fürstlichen Schloss anfangen. Sie! In einem Schloss! In dem der Kaiser ein und aus ging!
In ihrem ganzen Leben hatte sie das Gebäude erst ein einziges Mal betreten. Mit ihrer Mutter zusammen, die damals über diesen Umstand genauso verschreckt gewesen war wie sie. Die Krämersfrau hatte der Mutter ein Päckchen Zucker gegeben, das eilig zum Schloss sollte. Draußen goss es wie aus Kübeln. Am Schloss angekommen, waren sie beide durchnässt. Aber was sollten sie machen? So verlängerte die Krämersfrau die Stundung ihrer Schulden noch mal. Also lohnte es sich. Und als die Hintertür aufging und ein Mädchen erschien, da bat man Adelheid und die Mutter kurz in den Flur. Damals konnte sie einen Blick ins Innere werfen. Was für eine Pracht schon unten in den Wirtschaftsräumen. Blitzblanke Steinfliesen, mit Farbe gestrichene Wände, schöne Stickereien als Bilder aufgehängt. Der Geruch nach deftigem Essen war ihnen entgegengeschlagen und hatte ihnen den Speichel im Mund zusammenlaufen lassen. In diesem Moment war das Schloss für Adelheid der Inbegriff für reichlich Essen, geheizte Räume und ordentlich bezahlte Arbeit geworden. Der Inbegriff eines Lebens, das rein gar nichts mit ihrem Leben zu tun hatte - weder damals noch heute. Und nun sollte ausgerechnet sie hier anfangen.
In der Sonntagsmesse - da war es passiert. Der Platz ihrer Familie war in der letzten Reihe. Schon während sie auf der harten Bank neben ihrer Mutter und ihren Geschwistern gesessen hatte, hatte Adelheid gespürt, wie jemand sie beobachtete. Und tatsächlich, als sie hochschaute, lag der durchdringende Blick der Fürstin auf ihr. Die fürstliche Familie saß erhöht in ihrer Patronatsloge und hatte so einen guten Blick auf alle Dorfbewohner. Adelheid schaute entgeistert weg. Es ziemte sich nicht, den Herrschaften offen ins Gesicht zu schauen. Doch kaum nach der Messe draußen, tauchte Mamsell Reineke bei ihrer Mutter auf und befahl ihr, dass Adelheid heute vorstellig werden solle - wegen einer Anstellung. Als was, wusste niemand. Aber das war egal. Hauptsache, sie würde hier anfangen können. Ein Maul weniger zu stopfen. Eine, die regelmäßig Geld nach Hause brachte. Beides kam den Eltern wie ein Wunder vor. Alle waren ganz aufgeregt, den ganzen Sonntag über und die nächsten zwei Tage. Über nichts anderes sprachen sie als über das Geld und welches Essen sie sich damit kaufen würden. Mit jedem Wunsch wuchs die Last, die auf Adelheids Schultern lag.
Die Mutter hatte ihr besonders lange die Haare gebürstet und dann geflochten und hochgesteckt. Adelheid hatte die Finger mit der Wurzelbürste geschrubbt, bis sie ganz rot gewesen waren. Gestern schon hatte sie ihre Schuhe mit Lampenruß poliert, damit sie wenigstens ein bisschen glänzten. Aber nun klebte wieder Schlamm daran. In der Nacht hatte es furchtbar gestürmt. Bäume waren umgeknickt, Zäune verweht worden. Der Weg ins Dorf und weiter zum Schloss war matschig. Noch immer nieselte es. Sie war extra vorsichtig gewesen, damit ihre Schuhe nicht dreckig wurden, aber es half nichts. Die dicksten Erdklumpen hatte sie abgestreift, aber auf dem billigen Pressleder stand ein brauner Rand. Und jetzt sollte sie auch noch der Fürstin vorgestellt werden.
»Wenn du überhaupt etwas sagen sollst, dann nur >Sehr wohl, Euer Durchlaucht<. Oder >Euer Gnaden<. Oder >Eure fürstliche Hoheit<. Aber besser ist es, wenn du gar nicht sprichst. Niemand hier will eine Unterhaltung mit dir führen. Haben wir uns verstanden?«, herrschte die Mamsell sie wieder an.
Adelheid nickte betroffen. Sie würde wohl noch viel lernen müssen. »Verstehe, Frau . ähm, Mamsell. Ähm .« Verdammt. Sie sollte doch nicht antworten.
Die Mamsell seufzte. »Keine Ahnung, warum ihre Wahl ausgerechnet auf dich gefallen ist.« Die Frau schüttelte ungläubig den Kopf, drehte sich um und ging die letzten paar Stufen hoch.
Adelheid folgte ihr. Als sie um die Ecke in die Eingangshalle trat, blendete sie goldenes Licht. Es war fast, als würde sie direkt in die Sonne schauen. Kurz war sie versucht, sich die Hand über die Augen zu halten. Das Sonnenlicht fiel durch das facettierte Fensterglas über dem Eingangsportal. Sie folgte der Mamsell weiter durch einen Flur, bis diese stehen blieb und mit gesenkter Stimme sprach.
»Also schön, hör gut zu. Ich will mich mit dir da drinnen nicht blamieren.«
Adelheid nickte aufmerksam.
»Ich gehe zuerst rein, kündige dich an. Und erst, wenn ich dich reinhole, kommst du.«
Adelheid zog den Kopf tiefer. Vor diesem Augenblick fürchtete sie sich seit Tagen. Es konnte nur ein Missverständnis sein, dass sie hier anfangen sollte. Sie konnte nichts. Sie hatte keinerlei Manieren. Sie war so arm, dass sie sich nicht einmal Arbeitskleidung leisten konnte. Natürlich würde sie sofort wieder weggeschickt. Aber das durfte nicht sein. Sie durfte ihre Eltern nicht enttäuschen. Sie durfte ihre Geschwister nicht enttäuschen. So sehr hofften alle auf ein anständiges Sonntagsmahl, mit Kartoffeln und Gemüse. Milch für die Kleinen. Und in ein paar Monaten vielleicht sogar Schuhe für die Geschwister, gebrauchte Schuhe, verstand sich. Adelheid würde tun, was immer sie tun musste, um zu bestehen. Wenn sie nur wüsste, für was sie eigentlich hier war. Ihr war mulmig zumute. Der Mund war trocken. Ihre Hände flatterten nervös. Sie musste einen guten Eindruck machen. Musste, musste, musste. Vater würde fürchterlich wütend werden, wenn das Glück, das schon zum Greifen nah erschien, ihnen wieder entfleuchte.
Die Mamsell warf ihr einen letzten scharfen Blick zu, dann öffnete sie vorsichtig die Tür und trat ein. Durch die einen Spalt offen stehende Tür hörte Adelheid, wie zwei Frauen miteinander sprachen. Sogleich erschien die Mamsell wieder und winkte ihr.
Beinahe versagten ihre Knie. Der Gedanke an die verdreckten nackten Füße ihrer Geschwister hielt sie aufrecht. Sie trat in einen großen Raum. Abgesehen von der Dorfkirche war sie noch nie in einem so großen und hohen Raum gewesen. Es war so hell. Strahlend hell. Nicht nur, dass das gleißende Sonnenlicht durch die großen, sauberen Fenster fiel. Es gab auch elektrisches Licht. Glasbirnen, die die Ecken des Raumes ausleuchteten. Und jedes Möbelstück war auf Hochglanz poliert und warf das Licht zurück. Sie kniff die Augen zusammen, musste sich erst einmal an die Lichterflut gewöhnen, und knickste höflich.
Adelheid spürte, wie die Mamsell von hinten drückte, und trat zwei Schritte vor. Ihre Hände verschränkt, blieb sie stehen und knickste wieder. Mit gesenktem Kopf blickte sie vorsichtig zur Seite. Regale an den Wänden, Tische und Stühle, Sessel und Sofas. Überall standen Dinge herum. Eine ältere Frau saß mit dem Rücken zu ihnen auf einem Polstersofa und winkte nun leicht.
Wieder spürte Adelheid die Hand auf ihrem Rücken, die sie leicht nach vorne drückte. Sie setzte sich in...
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