Schweitzer Fachinformationen
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Durch das Rauschen des Wassers hindurch hörte Jule das schrille Kreischen ihres Kindes. Fast kam es ihr so vor, als habe sich ihr Körper bereits schmerzhaft angespannt, noch bevor der kleine Johan zu schreien begann. So wie jede Nacht, wenn sie die ersten leichten Bewegungen des drei Monate alten Säuglings in seinem Bettchen neben ihrem wahrnahm, gefolgt von dem leisen Quäken, das jedem Gebrüll vorausging.
Jules Herz hämmerte schneller, während sie aus der Duschkabine sprang und sich fluchend den Bademantel über den klatschnassen Körper streifte. Keine Zeit, sich abzutrocknen. Sie zog die Kapuze über das triefende Haar und wischte sich rasch mit einem Ärmel über das Gesicht. Im Flur glitt sie auf dem Laminat aus, konnte sich aber gerade noch auf den Beinen halten. Als sie die Schlafzimmertür aufriss, erblickte sie schon von der Tür aus Johans rudernde Ärmchen.
Das Baby hatte das Mulltuch zur Seite gestrampelt, mit dem Jule es ganz leicht gepuckt hatte, damit er sich nicht selbst wach zappelte. Vergebens. Sein Mund war viereckig, und er schrie so laut und schrill, dass es die Nachbarn ganz sicher hörten. Sie beugte sich über sein Bettchen, die Anspannung raubte ihr für einen Moment den Atem. Jede Bewegung tat ihr inzwischen weh, fast so, als ob ihr das Schreien ihres Kindes körperliche Schmerzen verursachte. Niemand hatte ihr gesagt, wie laut so ein kleines Kind schreien konnte. Der Lärm eines Düsenjets war nichts dagegen.
War dieses Geschrei überhaupt normal? Jule wollte, dass es aufhörte. Sie hielt das nicht mehr aus.
Drei Monate Johan.
Drei Monate Liebe.
Drei Monate . Sie konnte nicht sagen, was. Drei Monate, in denen sich ihr Leben von Grund auf geändert hatte: Ivan und sie waren jetzt Eltern.
»Johan«, rief sie, »Johan.«
Als könnte ich ihn damit beruhigen.
Im Gegenteil. Er ruderte. Er schrie. Sein Körper vibrierte, jeder Muskel schien angespannt. Wahrscheinlich hörte er sie gar nicht.
Jule beugte sich tiefer über ihr Kind. Zu rasch, denn der Schmerz schoss jetzt über ihren verspannten Nacken hinauf in den Kopf und ließ die Kopfhaut unangenehm kribbeln.
Kopfschmerzen, bloß nicht.
Jule zwang sich, ihren Sohn anzulächeln - er sollte doch sehen, dass alles in Ordnung war -, schob eine Hand unter seinen schmalen Babyrücken, hob ihn hoch und drückte ihn an sich. Johans Körper war angespannt, aber er wandte sich ihr nun zu. Sein Kopf wackelte auf ihr Dekolleté zu. Jules Gedanken begannen zu kreisen: Hätte ich das Duschen nicht besser auf morgen verschoben? Wenn ich schneller oder zumindest früher geduscht hätte, wäre das nicht passiert.
Aber sie hatte ja erst die Nachricht einer Freundin beantworten müssen.
Behutsam lagerte sie Johan gegen ihre Schulter, der, wenn auch leiser, immer noch schrie.
War es eigentlich schlecht, wenn er aufwachte und ein paar Minuten für sich allein weinte? Jule hatte dazu unterschiedliche Meinungen gehört. Manche waren überzeugt, dass es einem Baby zutiefst schade, andere betonten, eine Mutter müsse auch an sich denken, und nur eine glückliche Mutter könne eine gute Mutter sein. Jule seufzte. Wie sie es auch drehte und wendete - es gab unendlich viel Raum für Fehler, und Elternforen waren in diesem Fall einfach die Hölle.
Johan ließ sich immer noch nicht beruhigen. Jule wanderte mit dem weinenden Bündel aus dem Schlafzimmer in den Flur, in die Küche und wieder zurück, von dort ins Wohnzimmer. Die feuchten Fasern des Bademantels klebten mit jedem Schritt an ihrem Körper, während sie unbeirrt für ihr Kind summte und ihm dabei sanft über das Köpfchen strich.
Wirkungslos.
Ihre Kopfhaut kribbelte stärker. In der Wohnung über ihr rumpelte es, und mit diesem Geräusch begannen von einem Moment auf den anderen die Tränen über Jules Wangen zu laufen. Morgen würden sich die Nachbarn wieder beschweren. Ruhig und vernünftig würden sie ihr sagen, dass das so nicht weiterging, dass das nicht normal war, dass sie früh zur Arbeit mussten und ihren Schlaf brauchten.
Jule schloss die Augen. Glauben die, ich will, dass mein Kind schreit? Sie küsste Johans weichen Haarflaum.
Die Ausdauer und Entschlossenheit, mit der er heute schrie, überraschte sie. Was wollte er? Was störte ihn so sehr? Jule hörte kein Gefühl aus dem Schreien ihres kleinen Sohnes heraus. Er hatte keinen Hunger, er zeigte keine Empörung. Sie hörte nur, dass er schrie, und dieses Schreien schnürte ihr den Magen immer fester zusammen.
»Hast du schon wieder Hunger, mein kleiner Vielfraß?«, versuchte sie es trotzdem, versuchte sich vorzugaukeln, dass sie Einfluss nehmen konnte.
Die eigene Stimme klang fremd, angespannt, seltsam monoton. Jule hörte die furchtbare Erschöpfung darin. Verdammt, wo blieb Ivan, Johans Vater, ihr Partner? Er hätte schon längst von seiner Dienstreise zurück sein müssen, zu der er vor drei Tagen aufgebrochen war.
Ich brauche ihn. Jetzt. Ich schaffe das alles nicht.
Die Tränen rannen lautlos über ihre Wangen.
Jule ging ins Wohnzimmer, setzte sich auf das Sofa, bettete den schreienden Johan in ihren Arm und zog den Bademantel zur Seite. Auch an der Brust schrie Johan dieses Mal noch kurz weiter, bevor er schmatzend zu trinken begann.
Hatte er doch Hunger gehabt? Dieses Kind war wirklich unersättlich, ein Milchvampir. Manchmal fühlte es sich an, als würde er sie aussaugen. Wie lange hatte er jetzt eigentlich geschlafen? Sicher nicht mehr als eine halbe, höchstens eine Dreiviertelstunde. Beim Gedanken daran, dass der Säugling jetzt wieder stundenlang wach sein würde, sackte Jule mutlos in sich zusammen. Sie hatte immer gedacht, dass Babys viel mehr schliefen, als sie wach waren. Und Letzteres keinesfalls mehr als zwei Stunden am Stück. Aber da hatte sie sich geirrt, bei Johan war das definitiv anders. Er blieb lange wach und hasste es, dabei abgelegt zu werden. Stundenlang war er auf ihrem Arm und guckte. Spätestens abends schrie er. Erfahrene Mütter sagten, dass das Baby auf diese Art und Weise die Eindrücke des Tages verarbeitete. Außerdem sei es nur eine Phase. Nur eine Phase, das war das Elternmantra. Offensichtlich hatte Johan viel zu verarbeiten, auch an Tagen, an denen eigentlich wenig passierte.
Und ich werde das auf Dauer nicht aushalten.
Manchmal wollte sie an solchen Tagen selbst nur noch schreien. Manchmal wollte sie die Tür hinter sich zumachen und vor allem wegrennen. Manchmal machten diese Gedanken ihr Angst.
Will ich mein Kind wirklich verlassen? Nein, natürlich will ich das nicht. Oder?
Jule wischte sich mit dem Ärmel die Tränen vom Gesicht und betrachtete ihren kleinen Sohn. Johan trank zu gierig. Wahrscheinlich würde er sie anschließend wieder vollspucken, oder er bekam Bauchschmerzen oder beides. Er trank immer zu hastig. Sie konnte ihn einfach nicht davon abbringen. Ivan hatte einmal gesagt, es sei ihre Schuld, sie sei einfach zu angespannt. Sie hatte ihn angeschrien, und daraufhin war er gegangen. Hatte sich mit seinen Kumpels getroffen. Bis du dich wieder beruhigt hast, hatte in seiner SMS gestanden.
»Du bist so verdammt kühl«, hatte sie in Richtung Tür gebrüllt, aber da war er schon längst weg gewesen.
Sie hasste es, wie er sich dieses Recht einfach herausnahm. Sie konnte nur hoffen, dass sie sich bald beide daran gewöhnten, Eltern zu sein. Wenn sie heute an die Zeit vor drei Monaten zurückdachte, überraschte es sie immer noch, wie sehr Johans Geburt ihr Leben auf den Kopf gestellt hatte. Alles hatte sich verändert. Niemals zuvor in den bald sechsundzwanzig Jahren ihres Lebens hatte sie solche Müdigkeit, solche Hilflosigkeit, solches Glück und solche Liebe zugleich erfahren. Und sie hätte nie gedacht, dass man sich so sehr nach einer ruhigen, ungestörten, heißen Dusche sehnen konnte, oder danach, alleine durch einen Supermarkt zu schlendern, um alltägliche Dinge wie Milch und Obst zu kaufen, ohne durch die Bedürfnisse eines kleinen Kindes unterbrochen zu werden.
Es war jetzt einundzwanzig Uhr. Johan trank, dämmerte in den Schlaf hinüber, aus dem er sich Sekunden später jedoch selbst emporriss und seine Mutter mit großen Augen anstarrte, bevor er wieder zu saugen begann. Jule hasste plötzlich, wie ihr Bademantel wieder einmal verrutscht war und den Blick auf die letzten Reste ihres Schwangerschaftsbauchs freigab, wie ihre nassen Haare sich in ihrem Nacken wie ein seltsames verklebtes Vogelnest anfühlten und sie zu allem Übel auch noch zu schwitzen begann.
»Du könntest ein bisschen mehr auf dich achten«, hatte Ivan kürzlich gesagt, und sie war in Tränen ausgebrochen.
Mit dem Baby an der Brust stand sie auf und ging in die Küche.
Gut, dass mich so keiner sieht.
Sie goss mit einer Hand Milch in ein leeres Glas auf der Anrichte, setzte sich an den Küchentisch, auf dem noch die Reste vom Frühstück standen - eine halbe Tasse kalter Kaffee, Müsli, das in der Schüssel zu einer beigen Pampe verklebt war, ein paar Obstreste und eine große Packung Schokokekse. Wie eine komplette Anfängerin hatte sie gedacht, sie könne schnell die Küche aufräumen und dann auch noch duschen, bevor Johan wieder aufwachte. Sie hatte sich geirrt.
Ihr Magen knurrte. Jule leerte das Glas, griff nach einer Banane und zermatschte deren Ansatz bei dem Versuch, sie einhändig zu schälen. Sie schaute auf Johan hinunter, der immer noch an ihrer Brust trank, und nahm mit seinem süßen Geruch die Erinnerung an den ersten Moment mit...
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