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Noch nie zuvor in ihren mittlerweile über zwanzig Jahren als Lehrerin hatten sich die Sommerferien so bedrohlich vor Sandra ausgedehnt. In den letzten Arbeitstagen war es ihr in der Schule gelungen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen - es gab viel zu tun, Abschiede zu feiern, Mut zuzusprechen, Urlaubspläne auszutauschen -, aber dass Fred ihr vor ein paar Tagen die Scheidungspapiere hatte zukommen lassen, traf sie doch schwer.
Nun, was hatte sie sich eigentlich gedacht? Dass er seine Meinung nach einem Jahr Trennung noch ändern würde? Sie hatten sich in den letzten Wochen oder sogar Monaten nicht oft gesehen. Anfangs war das noch anders gewesen, wenn Sandra ihre Tochter Alex zu ihrem Vater gefahren hatte, aber die Fünfzehnjährige legte neuerdings keinen Wert mehr darauf, von Mama zu Papa oder umgekehrt gefahren zu werden. Sie könne das sehr gut alleine, schließlich sei sie keine drei mehr, hatte sie mehrfach betont. Sandra hatte jedenfalls keine Ahnung, wie oft Alex ihren Vater in den letzten Wochen überhaupt gesehen hatte. Außerdem hing sie ohnehin am liebsten mit ihren Leuten ab, manchmal wusste Sandra nicht einmal wo. Die Zeiten, in denen Alex sich an sie gekuschelt hatte oder nachts zu ihr ins Bett gekommen war, weil im eigenen Zimmer ein Monster sei, waren lange vorbei. Und auch wenn sich Sandra zu dieser Zeit mehr Ruhe gewünscht hatte, vermisste sie die Alex von damals sehr. Es war definitiv nicht leicht, mit diesem Teenager zusammenzuleben.
Und ab heute lagen sechs Wochen Ferien vor ihr. Sandra betrat ihre Wohnung, schloss die Tür hinter sich und schob mit dem Fuß die schwer beladene Schultasche beiseite. Mindestens eine Woche lang wollte sie nicht hineinschauen. Wenn sie überhaupt so lange durchhielt, denn was sollte sie ansonsten tun, wenn sie alleine war? Auch ihre Lieblingskollegin würde gleich zu Beginn in Urlaub fahren, mit den anderen hatte sie kaum privaten Kontakt. An ein oder zwei Tagen würde sie ihre Eltern besuchen, aber die hatten auch etwas vor: Ihre Mutter hatte von einer Reise in die Dominikanische Republik erzählt. Seit die beiden in Rente waren, reisten sie quasi ständig durch die Welt. »Was soll ich mit deinem Vater sonst auch anfangen?«, hatte ihre Mutter einmal spitz bemerkt. »Er ist ein ziemlicher Langweiler.«
Sandras Blick fiel auf das Bild der kleinen Alex im Flur. Und da war Fred. Damals waren sie glücklich gewesen, was war nur geschehen?
Sie betrachtete sich einen Moment in dem kleinen Flurspiegel. Ihre Haut sah in diesem Licht etwas käsig aus, war aber ansonsten ganz in Ordnung. Klar, sie war älter geworden, hatte Augenringe, feine horizontale Falten auf der Stirn, die Kerbe zwischen den Augenbrauen war tiefer, und in ihrem immer noch langweilig dunkelblonden Haar fanden sich inzwischen mehr silbrige Strähnen. Sollte sie es färben lassen? Sie war vierundvierzig, gottverdammt, und jetzt auch noch alleine - Single. Ja, manchmal hatte sie im letzten Jahr durchaus der Gedanke überfallen, dass es das jetzt wohl gewesen war: Das Leben war vorbei. Neues würde es nicht mehr geben, nein, es würde immer so weitergehen, tagein, tagaus, immer so weiter . Wie in einem Hamsterrad.
40 ist das neue 30, nee, so fühlte sich das wirklich nicht an. Eine neue Beziehung? Unwahrscheinlich in ihrem Alter. Und wollte sie das überhaupt? Sie war eine erwachsene Frau. Sie brauchte niemanden, der sich hier breitmachte und mit dem sie neue Rahmenbedingungen aushandelte.
Mit einem Seufzer schlüpfte Sandra aus ihrem Blazer und den Schuhen. Kurz darauf saß sie in der Küche, einen Kaffee und die Brigitte Woman vor sich, die Alex als >Zeitschrift für alte Schachteln< oder schlimmer noch >Magazin für Gammelfleisch< bezeichnete. Der Kühlschrank war leider ziemlich leer. Auch Fünfzehnjährige, die Bella Hadid nacheiferten, wuchsen und hatten manchmal viel mehr Hunger, als sie sich zugestehen wollten. In dieser Phase konnte der Blick in den Kühlschrank oder die Vorratsschränke sehr ernüchternd sein. Immerhin hatte Sandra noch ein paar Grissini im Schrank gefunden, dazu den Gorgonzola, den Alex >voll eklig< fand und nicht gegessen hatte. Sandra kaute langsam und spülte mit etwas Kaffee nach.
Ihr Handy klingelte. »Fred« leuchtete auf dem Display auf. Ihr Mann.
Ex-Mann. Einmal hatten sie sich ewige Liebe geschworen, und es hatte sich richtig angefühlt. Sie waren auf derselben Uni gewesen, sogar im selben Fachbereich, hatten sich aber irgendwie erst während des Referendariats kennengelernt.
Sie nahm das Gespräch an. »Ja?«
»Hast du Post bekommen?«
»Hallo, Fred, schön, mal wieder von dir zu hören.«
Er sagte nichts. Sandra hörte ihn nur atmen, während ihr viele Dinge durch den Kopf gingen, aber dann konnte sie nichts davon sagen, sie hatte schon viel zu lange gewartet.
»Und?«, bohrte er nach.
»Hm.«
»Ich hoffe, du siehst ein, dass es besser so ist. Für alle.«
Sie sah ihn jetzt förmlich vor sich, im Flur seiner neuen Wohnung, immer noch jugendlich schlank, das Gewicht auf einem Bein, mit einer Schulter gegen die Wand gelehnt, einen Kaschmirpullover - na ja, dafür war es wahrscheinlich zu warm, aber der gehörte einfach zu ihrem Bild - locker über der Schulter, die Flasche Bollinger in der kleinen schicken Appartement-Küche auf dem Tisch, um ihre Einwilligung zu feiern.
»Hm«, machte Sandra noch einmal. Sie dachte an seine Neue, eine Dreißigjährige, gegenüber der sie sich wie eine Mutti vorkam. Es hatte Zeiten gegeben, da hätten sie und Fred gemeinsam über so etwas gelacht, über Männer, die sich jüngere Frauen suchten. Aber sie hatten verlernt, miteinander zu lachen, und Fred fand es ganz normal, dass er sich in die fünfzehn Jahre jüngere Mimi verliebt hatte, die bevorzugt enge Lederhosen und Designer-Oberteile trug (und darin gut aussah), und sich mit ihr ein wahres Liebesnest aufgebaut hatte.
Es ist so lächerlich.
Sandra schluckte die vielen falschen Worte hinunter. Anfangs hatte sie wütend über Mimis Namen gestichelt, aber Mimi war eigentlich ganz okay. Und Mimi, ebenfalls Lehrerin, hübsch, schlank, blond und langbeinig, eine Frau, die so manchem Pubertierenden sicherlich feuchte Träume bescherte, ließ sich auch durch nichts aus der Ruhe bringen. Und ja, sie war eine gute Lehrerin, und Sandra hätte sie gerne inbrünstiger gehasst, aber irgendwie war sie auch nett. Fred und sie hatten sich auf einer Fortbildung kennengelernt, ganz klassisch. Er und Sandra waren schnell ehrlich zueinander gewesen, und oh ja, das macht es ja soooo viel besser .
»Sandra?«
Sie konnte Freds Stimme anhören, dass er ungeduldig wurde. »Ja, schon klar, ich unterschreibe.« Sie war es einfach leid. Sie hatte es einfach so satt. Es war Zeit für endgültige Entscheidungen, auch wenn sie furchtbar weh taten.
Sie wechselten noch ein paar belanglose Worte, als wären sie nach sechzehn Jahren Ehe gezwungen, ein paar Worte miteinander zu reden. Bald sagte er, dass er jetzt auflegen müsse, und Sandra war froh darüber. Sie hatten sich ohnehin nichts zu sagen.
Sie legte das Telefon auf den Tisch und stopfte frustriert die letzten Grissini in sich hinein. Um zwanzig Uhr kam Alex nach Hause und ging grußlos direkt in ihr Zimmer. Sandra überlegte, ob sie nach dem Zeugnis fragen sollte, verschob das dann aber auf den nächsten Tag. Alex war versetzt worden, ansonsten hätte sie das mitbekommen. Das war die Hauptsache, zwischenzeitlich hatte es eher düster ausgesehen. In Alex' Zimmer ging die Musik an.
Am ersten Ferientag war Alex früh wach. Sandra war überrascht, sie um kurz vor halb acht in der Küche zu sehen. Sie selbst machte sich gerade ihren ersten Kaffee und hatte schon Brötchen geholt, die ihre Tochter allerdings keines Blickes würdigte. Neuerdings frühstückte sie nicht, zumindest nicht mit Sandra.
»Was machst du denn schon hier? Ich dachte, ihr Teenager schlaft in den Ferien bis zum Mittagessen«, versuchte Sandra zu scherzen, aber der Versuch, eine lockere Stimmung zu schaffen, ging sofort nach hinten los. Jedes Gespräch mit Alex war dieser Tage ein wahres Minenfeld.
»Willst du mich hier nicht? Ich kann auch zurück in mein Zimmer gehen«, blaffte Alex zurück, bevor sie sich eine Tasse schwarzen Kaffee am Vollautomaten zog und sich auf ihren Stuhl fallen ließ. Sie trug ein schwarzes Schlafshirt und übergroße rosa Hausschuhe aus Kunstfell mit seltsamen Krallen daran, die bei jedem Schritt Klack, Klack, Klack auf dem Parkett machten.
Sandra atmete tief durch und nahm ein Glas aus dem Schrank. »Hey, ist ja schon gut. Willst du vielleicht ein Glas Wasser mit Zitrone?«
»Was soll der Scheiß? Ich habe Hunger.«
Sandra spürte Ärger in sich aufsteigen, schluckte ihn aber herunter. Verdammt, Alex war neuerdings so unberechenbar. Sie konnte jederzeit hochgehen und änderte ihre Vorlieben blitzschnell: Pubertät eben, die Zeit, in der die Eltern seltsam werden. Sandra stellte das Glas zurück in den Schrank und knallte die Tür zu. Blöderweise konnte auch sie sich nicht immer beherrschen. »In den letzten Wochen hast du den Scheiß getrunken.«
Das war jetzt aber sehr erwachsen, Sandra.
Alex starrte düster vor sich hin. »Und der bringt mal voll gar nichts.«
Sandra schluckte die Bemerkung herunter, dass die Gewichtsabnahme, die Alex sich davon versprochen hatte, viel eher daran gescheitert war, dass sie in letzter Zeit definitiv zu viele Chips gegessen hatte. Alex griff nach der Brigitte Woman und blätterte darin, während sie mit langsamen Schlucken und...
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