Schweitzer Fachinformationen
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Von platten Reifen, neunmalklugen Schafen und dem allerheiligsten kretischen Ehrenkodex
Zufrieden sog Sören Johannsen die Luft ein, die durch das offene Fenster des Leihwagens drang, während die Hügellandschaft Ostkretas an ihm vorbeizog.
Die Mittagssonne brannte auf den Asphalt und die umliegenden Kalkfelsen, Sträucher und zögerlich grünen Grasbüschel nieder. Doch Sören genoss es, den Fahrtwind im Gesicht zu spüren. Er war heute Morgen bei knapp zehn Grad und Regen von Hamburg abgeflogen. Jetzt, nur ein paar Stunden später, schien es, als wäre er in einer völlig anderen Welt gelandet. Wo der Himmel strahlend blau und wolkenlos war und sogar der Wind nach Sommer roch.
Es störte ihn ausnahmsweise auch kein bisschen, dass die Klimaanlage nicht funktionierte und er gar keine andere Wahl hatte, als mit offenem Fenster zu fahren, wollte er bei diesen Temperaturen nicht geröstet werden. Der rote Toyota Aygo war der einzige kurzfristig verfügbare Mietwagen am Flughafen von Heraklion gewesen, der mehr Platz als eine Sardinenbüchse bot. Das sei nun mal so während der Touristensaison im Sommer, und wer nicht im Voraus reserviere, müsse sich halt mit den übrig gebliebenen Fahrzeugen begnügen, hatte der Angestellte des Autovermieters mit vorwurfsvollem Kinnrecken gesagt. Normalerweise hätte Sören die Klapperkiste nie im Leben akzeptiert: Die Kupplung im zweiten Gang klemmte, der Sitz ließ sich gerade mal so weit zurückschieben, dass seine Knie ihm beim Lenken nicht ständig in die Quere kamen, und das Navigationsgerät funktionierte nur nach dem Zufallsprinzip. Oder wenn der Wind gerade günstig wehte.
Egal. Diesmal nahm Sören das alles gelassen hin, das hatte er sich fest vorgenommen. Der Grund für seine Reise nach Kreta war zwar eine rein formelle Angelegenheit, es sprach jedoch nichts dagegen, dass er die Pflicht mit dem Angenehmen verband und sich wenigstens eine winzige Auszeit gönnte.
Ein harziger Geruch nach Piniennadeln und trockener Erde wehte ihm in die Nase, als er um die nächste Kurve lenkte. Rundum stiegen kantige Hügel empor. Die Tupfen der Bäume und Sträucher hoben sich deutlich vom Ocker der Erde ab. Rechter Hand konnte Sören das Meer sehen. Ein Streifen aus sattem Türkis, der sich im etwas helleren Blau des Himmels zu verlieren schien. Zu Hause in Hamburg gab es solche Farben nicht. Nicht einmal bei bombastischem Wetter. Allein dafür hatte sich der Kurztrip gelohnt.
Nach einer weiteren Kurve erkannte er ein Dorf. Ein Häufchen kleiner, weißer Häuser mit ockerfarbenen Ziegeldächern. Lastros. So stand es auf dem Ortsschild.
»Bleiben Sie auf der rechten Seite«, säuselte die monotone, fast schon gelangweilt klingende Frauenstimme des Navigationsgeräts, während Sören das Dörfchen passierte. »Folgen Sie der E75. Signalverlust. Die Route wird neu berechnet.«
Er sah auf die rotierende Anzeige auf dem Display des Navigationsgeräts und runzelte die Stirn. Schon wieder? Zum Glück hatte er während des Fluges auf einer rudimentären Touristenstraßenkarte wenigstens die ungefähre Richtung recherchiert. Die Straße führte nach Sitia, der größten Stadt im Umkreis. Von dort sollte es laut der Karte nur noch ein Katzensprung bis zu seinem Ziel am äußersten nordöstlichen Zipfel der Insel sein. Einem Dorf, von dem er bis vorgestern noch nie etwas gehört hatte. Genauer gesagt, bis ihn der Rechtsanwalt angerufen hatte, um ihm die völlig unerwartete Nachricht über das Ableben von Großtante Mette zu überbringen.
In Gedanken sah Sören den mageren Mann mit Halbglatze wieder vor sich, den er tags darauf in dessen Büro getroffen hatte, um die Testamentskopie in Empfang zu nehmen. Die Verstorbene, Mette Pappien, hatte ihn, Sören Johannsen, als alleinigen Erben bestimmt, stand dort, und er war somit der stolze neue Besitzer eines Hauses samt Grundstück in Palekastro. Auf Kreta. Wie es schien, mitten im Nirgendwo.
Aber im Grunde war das typisch für Mette. Großtantchen war immer die Exotin der Familie gewesen und hatte sich ihr Lebtag nie um irgendwelche Konventionen geschert. Im Gegenteil, Sören kannte niemanden sonst, der seine Meinung so direkt und ungefiltert aussprach. Der Umgang mit den meisten Leuten war für Mette genau deswegen vor allem lästig gewesen. Kein Wunder, dass sie sich ein Haus in einer beinahe menschenleeren Gegend gekauft hatte.
Bei der Erinnerung verzogen sich seine Lippen zu einem Grinsen. Gerade weil sie so anders gewesen war als der Rest der Verwandtschaft, hatte er Mette während seiner Flegel-Zeit zu seiner geheimen Superheldin erkoren. Sie war die Einzige gewesen, die ihn in seiner Begeisterung für einen Beruf förderte, der völlig entgegen dem Willen der Eltern und der Familientradition stand.
Das war jedoch lange her. Inzwischen war er Mitte dreißig und hatte seine Flausen endgültig abgelegt. Nach mehreren Semestern in Toronto und Peking hatte er einen Master in Economics gemacht, sprach fließend sowohl Englisch als auch Mandarin und führte zusammen mit seinem Bruder Gerit die Johannsen Tee GmbH, eine der traditionsreichsten und namhaftesten Teehandelsfirmen Hamburgs. Vom aufmüpfigen, gegen alles und jeden rebellierenden Teenager, der Actionfilme sammelte und Konservator und Restaurator in Fachrichtung Stein werden wollte, zum erfolgreichen Geschäftsmann, dem in Hamburgs High Society alle Türen offenstanden. Manchmal kam alles anders, als man es erwartete.
Es folgten noch weitere Dörfchen mit so seltsamen Namen wie Skafa oder Tourloti. Wie weiße Flecken schmiegten sie sich an die Hügelhänge und bildeten damit einen durchaus malerischen Kontrast zur Landschaft.
Sören staunte, als sich das Gelände kurz vor der Ortschaft Myrsini öffnete und linker Hand auf einmal wieder den Blick aufs Meer freigab. Die Sonnenstrahlen glitzerten auf den sanften Wellen. Oleanderbüsche blühten beidseits entlang der Straße in all ihrer Pracht, von Weiß über zartes Hellrosa bis hin zu dunklem Pink. Obwohl es sein Zeitplan eigentlich gar nicht erlaubte, brachte Sören den Wagen auf einem mit Kalkkieseln bedeckten Wendeplatz zum Stehen und stieg aus.
Sofort spürte er den warmen Wind im Gesicht, trat bis ganz an die Leitplanke heran, nahm die Sonnenbrille ab und atmete zum ersten Mal seit seiner Ankunft tief ein. Die Luft roch nach Meer und wilden Kräutern, rundum das Zirpen der Grillen, und - wow, was für ein Panorama! Wenn sich die Gegend um Palekastro nur halb so idyllisch zeigte, war es kein Wunder, dass es Mette auf diese Insel verschlagen hatte. Eigentlich schade, dass er nicht länger Zeit hatte.
Doch zu Hause in Deutschland standen wichtige Geschäftstermine an: eine Videokonferenz mit einem potenziellen neuen Geschäftspartner aus Übersee zum Beispiel. Die sich hoffentlich daraus ergebenden Vertragsverhandlungen stellten für die Firma einen Meilenstein dar. Gerit konnte die Termine zwar übernehmen, doch Sören wusste haargenau, dass sein Bruder ihm das bis zum Tag des Jüngsten Gerichts unter die Nase reiben würde. Darauf deuteten allein schon die zwölf Sprachnachrichten hin, die dieser ihm seit heute Morgen auf dem Handy hinterlassen hatte.
So kurzfristig nach Kreta zu fliegen, war allerdings keine spontane Idee gewesen, sondern eine juristische Notwendigkeit, die Sören so schnell wie möglich über die Bühne bringen wollte. Morgen um elf Uhr hatte er bereits einen Termin mit einem Anwalt aus Palekastro vereinbart. Denn um den Verkauf der Erbschaft in die Wege leiten zu können, verlangten die griechischen Behörden eine Unterschriftsbeglaubigung mit persönlicher Anwesenheit. Außerdem wollte er das Haus wenigstens einmal sehen, so viel war er Mette schuldig. Morgen Abend würde er wieder zurück nach Hamburg fliegen. Alles in allem eine kurze Angelegenheit. Schmerzlos und effizient - perfekt.
»Folgen Sie der E75 bis zur nächsten Abzweigung. Weiter in Richtung Sitia«, riet die Navi-Stimme.
»Wo soll denn hier eine Abzweigung sein?« Sören schüttelte den Kopf. Rundum gab es nichts außer den paar wenigen Autos, die ihn mit halsbrecherischem Tempo überholten, während sein Toyota den Hügel hochschnaufte.
Nach einer weiteren halben Stunde erreichte er die Stadt Sitia. Endlich. Halleluja! Gemäß Navi waren es von hier aus nur noch rund dreißig Minuten bis nach Palekastro. Sehr gut. Er hatte schließlich keine Zeit, um hier noch länger durch die kretische Pampa zu trödeln.
Die Straße führte nun die Küste entlang in Richtung Osten, vorbei an vereinzelten kleinen Hotels und Villen, während sich rechter Hand ein sanfter Hügelzug erhob.
Je weiter sich Sören von Sitia entfernte, umso spärlicher wurde der Verkehr. Auch die Landschaft hatte sich verändert, war karger, felsiger geworden, und die Oleandersträucher waren vereinzelten windzerzausten Mastixsträuchern gewichen. Die Straße schlängelte sich zunächst den Hügel empor, führte dann jedoch landeinwärts. Auf einmal waren links und rechts nur noch Olivenbäume zu sehen, dazwischen vereinzelte ockerbraune Felder, und abgesehen von den zotteligen Schafen, die dort weideten, kein Lebewesen weit und breit.
»Signalverlust. Die Route wird neu berechnet.«
»Na wunderbar. Was für ein super Timing«, schnaubte Sören. Langsam, aber sicher wurde sein Geduldsfaden immer dünner, womit auch seine guten Vorsätze einer nach dem anderen verblassten. Trotzdem drosselte er das Tempo, als er sich einem Straßenschild näherte. Kein Zweifel, er befand sich im absoluten Niemandsland. Sogar die Ortsnamen waren hier nur noch in griechischen Buchstaben.
Auf dem Schild waren drei Richtungen angegeben. Mit viel Fantasie ließen...
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