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Gemma Adderley hatte genug.
Sie hatte ertragen, was ein Mensch ertragen konnte, hatte immer nur eingesteckt, hatte alles geschluckt. Sie lebte in Angst, war gedemütigt, verzweifelt, verletzt. Ja, vor allem verletzt. Auf jede nur erdenkliche Weise.
Nachdem die Haustür mit einem lauten Knall ins Schloss gefallen war und sie einmal mehr von der Außenwelt abschnitt, sah Gemma sich um. Ließ den Blick über ihre Besitztümer schweifen. Ihr Leben. Was hatte Robert De Niro noch in diesem Film gesagt, den sie einmal gesehen hatte, als Roy nicht zu Hause gewesen war? »Du darfst dich niemals an etwas hängen, das du nicht innerhalb von dreißig Sekunden problemlos wieder vergessen kannst, wenn du merkst, dass es eng wird.« So oder so ähnlich. Sie saß am Küchentisch und betrachtete die Wände. Dann den Fußboden. Den Herd, an den er sie am liebsten gekettet hätte. Den Kühlschrank, der auf sein Geheiß hin gut gefüllt sein musste, selbst wenn sie nicht immer das nötige Geld dafür hatte. Es waren nicht ihre Sachen. Er hatte sie angeschafft. Hatte versucht, sie zur Sklavin all dieser Dinge zu machen. In der Küche - ja, im ganzen Haus - gab es nichts, was sie nicht von jetzt auf gleich hätte vergessen können. Hätte vergessen wollen.
Die einzige Ausnahme war Carly. Und genau deshalb würde sie ihre Tochter mitnehmen.
Mit klopfendem Herzen stand Gemma auf und ging ins Wohnzimmer. Sie dachte an Roy. Was er zu ihr sagen würde, wenn er wüsste, was sie vorhatte. Was er dann mit ihr machen würde. Wegen der Sünden, die sie angeblich begangen hatte. Er würde sie bestrafen - nein, nicht er; die Strafe kam nicht von ihm, sondern von Gott, weil sie es gewagt hatte, sich seinem Willen zu widersetzen. Das würde sie nicht noch einmal mit sich machen lassen. Nie wieder. Sie öffnete die Tür, wobei sie die Klinke fest umklammert hielt, damit sie nicht sehen musste, wie ihre Finger zitterten.
Carly lag auf dem Boden und sah fern. Irgendeine total überdrehte Realityshow. Solche Sendungen konnte sie nur schauen, wenn Roy nicht zu Hause war. Bei Gemmas Eintreten drehte ihre Tochter sich um. Wie immer zuckte sie zusammen und riss die Augen auf. War auf den Zorn Gottes gefasst. Gemma brach bei dem Anblick jedes Mal das Herz. Sie hatte überlegt, wo sie solche Augen schon einmal gesehen hatte, und eines Abends bei den Nachrichten wurde es ihr klar. Es wurden gerade Aufnahmen aus einem Kriegsgebiet im Nahen Osten gezeigt. Arme, geschundene Flüchtlinge, die in einem langsamen Tross aus einer Stadt zogen; die das Grauen, das sie gesehen hatten, einfach nur noch vergessen wollten, die an nichts anderes mehr dachten als ans eigene Überleben. In den Augen der Flüchtlingskinder hatte sie genau denselben Ausdruck gesehen wie bei Carly.
Ein Kriegsgebiet. Das trifft es ziemlich gut, dachte Gemma. Die reinste Hölle. Wie sollte man noch Angst vor der Hölle haben, wenn man bereits darin lebte?
»Hey«, sagte sie und bemühte sich, unbeschwert zu klingen. »Wir unternehmen was.«
Carly setzte sich auf und blickte nervös um sich. Auch sie hatte das Zuschlagen der Tür gehört. Normalerweise war das für sie beide das Zeichen zum Aufatmen. Die Gelegenheit, ungestört zusammen zu sein und neue Kraft zu finden. Dies hier allerdings war völlig neu. So etwas hatte das Mädchen noch nie gehört. Was die Mutter da vorschlug, verstieß gegen die Regeln. Und sie wusste, dass sie dafür bestraft würden.
»Aber .«, Carlys Blick zuckte zur Tür. »Das können wir nicht .«
»Doch, wir können«, sagte Gemma und hoffte, ruhig und bestimmt zu klingen. Sie befürchtete jedoch das Gegenteil. »Und wir werden. Los, komm.«
Carly stand auf. Sie gehorchte wortlos, selbst wenn es nicht richtig war. »Wohin .«
Ihrer Tochter zuliebe rang sich Gemma ein Lächeln ab. Sie lächelte immer nur für ihre Tochter. Es war schon lange her, dass sie um ihrer selbst willen gelächelt hatte. »Irgendwohin, wo es schön ist. Wo es uns gut geht.«
Carly schwieg.
»Na komm«, sagte Gemma und streckte dem Mädchen auffordernd die Hand hin.
Carly, der nicht wohl bei der Sache war, die ihrer Mutter den Wunsch aber auch nicht abschlagen wollte, kam zu ihr. Dann drehte sie sich wieder zum Fernseher. »Ich schalte den lieber aus. Wenn ich ihn nicht ausschalte .«
»Lass ihn an«, sagte Gemma.
Carly machte große Augen.
»Ja, lass ihn einfach an.« Wieder lächelte Gemma. Dieser kleine Akt des Aufbegehrens gab ihr Mut. Zusammen mit Carly verließ sie das Wohnzimmer.
Ihre Taschen hatte sie bereits gepackt und unter dem Bett versteckt. Jetzt holte sie sie hervor.
»Fahren wir . fahren wir in den Urlaub?«, wollte Carly wissen.
»Ja«, sagte Gemma. »Genau. Wir fahren in den Urlaub.«
»Wohin denn?«, fragte Carly, die sich trotz aller Furcht anfing zu freuen. »Wo es warm ist und die Sonne scheint? So wie in Benidorm?«
Die gleichnamige Sitcom war eine der Lieblingssendungen der Siebenjährigen. Gemma erlaubte ihr manchmal, länger aufzubleiben und sie anzuschauen, wenn Roy abends noch unterwegs war. Was ziemlich häufig vorkam.
»Nein, Schatz, nicht nach Benidorm. Aber irgendwohin, wo es genauso schön ist. Irgendwohin, wo wir uns .« Wo wir uns was? Was konnte sie ihrer Tochter überhaupt erzählen? Was sollte sie ihr sagen? »Wo wir uns sicher fühlen. Wo wir glücklich sind. Ja. Wo wir glücklich sind. Na los, zieh deine Jacke an.«
Carly wollte in ihr Zimmer gehen, blieb dann aber stehen und kam noch einmal zu ihrer Mutter zurück. »Kann Crusty auch mit?«
Ihr Teddybär. Sie nahm ihn überallhin mit.
»Crusty habe ich schon eingepackt. Den lassen wir doch nicht hier. Komm jetzt, wir müssen los.«
Doch Carly rührte sich nicht vom Fleck. Ihr schien ein Gedanke gekommen zu sein. Gemma stand abwartend da. Sie wusste bereits, was ihre Tochter gleich fragen würde. Hatte sich auch schon eine Antwort zurechtgelegt.
»Kommt . kommt Papa auch mit?«
»Nein, vorerst nicht, Schatz. Möchtest du gerne, dass er mitkommt?«
»Er ist Papa.« Auf einmal wurde Carlys Stimme flach und tonlos. Es war, als sage sie einen Text auf, den sie in der Schule auswendig gelernt hatte. »Wir sind seine Familie. Er ist der Herr im Haus. Er bestimmt. So wie Gott. Er muss immer wissen, was wir gerade tun.«
»Richtig. Er ist Papa.« Auf den Rest ging sie lieber nicht ein. Sie hoffte, dass ihre Tochter noch jung genug war, um das alles irgendwann zu vergessen. »Also, pass auf, wir machen es so: Wir fahren schon mal vor, und wenn wir wollen, kann er später nachkommen. Was meinst du?«
Wieder diese weit aufgerissenen Kriegskinder-Augen. Dann nickte Carly.
Gemma wusste, dass ihre Tochter es in Wahrheit gar nicht so meinte; dass sie nur genickt hatte, weil sie nicht offen ihre Meinung zu sagen wagte - und nicht etwa, weil sie wirklich wollte, dass ihr Vater nachkam. Sie konnte den inneren Konflikt, die Zerrissenheit ihrer Tochter in diesem Moment nur erahnen. Aber es musste sein. Es ging nicht anders.
»Gut«, sagte sie. »Wir müssen nur noch ein paar letzte Kleinigkeiten erledigen, dann können wir gehen.«
Sie nahm ihr Handy und wählte die Nummer, die sie sich eingeprägt hatte. Wartete.
»Gemma Adderley«, sagte sie, als jemand abnahm. »Safe Haven, bitte.«
Am anderen Ende wollte man wissen, wo sie gerade sei. Sie gab Auskunft. Im Gegenzug nannte man ihr eine Adresse und die Wegbeschreibung dorthin.
»Der Wagen wird in zehn Minuten da sein. Passt Ihnen das?«
»Ja«, sagte Gemma, die kaum glauben konnte, dass sie es allen Ernstes tat. Nachdem sie jahrelang mit dem Gedanken gespielt, nachdem sie es die ganze Zeit gewollt, aber nicht die Kraft und den Mut dafür aufgebracht hatte, würde sie Roy wirklich verlassen. Und mit ihm die Schmerzen, den Kummer und das Leid, die sie und ihre Tochter so lange hatten ertragen müssen.
»Ja«, wiederholte sie. »Das passt mir.«
»Die Fahrerin muss Ihnen ein Wort nennen, damit Sie auch wissen, dass sie von uns kommt. Das Wort lautet >Erdbeere<. Wenn sie es nicht nennt, steigen Sie nicht ein. Ist das so weit klar?«
»Klar.«
»Dann bis später.«
Gemma legte auf und sah Carly an, die sich inzwischen die Jacke zugeknöpft hatte und zu ihrer Mutter aufblickte. Sie versuchte, sich zu freuen, das sah man, doch ihre Augen waren voller Angst. In dem Moment dachte Gemma, dass es für sie unmöglich wäre, einen anderen Menschen mehr zu lieben als ihre Tochter.
»Komm, mein Schatz«, sagte sie. »Wir gehen.«
Sie waren an der Haustür angelangt.
»Ach«, sagte Gemma. »Eine Sache noch.«
Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück und nahm das Buch - Roys einziges Buch - von seinem Ehrenplatz im Regal. Die Bibel. Die Familienbibel, eine Quelle der Unterweisung und des Gebets. Ein Ratgeber für das rechte Leben. Sie...
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