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Im Jahr 1869 brachen auf dem Gebiet des späteren Kaiserreichs 152 Arbeitskämpfe aus, sechsmal mehr als noch im Vorjahr.1 Auch nach dem Deutsch-Französischen Krieg - während der sogenannten Gründerjahre - ebbte diese Streikwelle nicht ab, sondern erreichte mit insgesamt 800 Arbeitskämpfen und 200.000 Streikenden zwischen 1871 und 1873 neue Höchstzahlen.2 Dieser plötzliche Aufschwung der Arbeiterbewegung ist zurückzuführen auf die liberale Reform der Gewerbeordnung, die im Sommer 1869 vom Reichstag des Norddeutschen Bundes verabschiedet und mit der Gründung des Kaiserreichs auf ganz Deutschland ausgedehnt wurde. Die Reform war Teil der liberalen Wirtschaftsordnung des neuen Nationalstaats und beinhaltete neben Maßnahmen, um die Mobilität von Kapital und Arbeit zu fördern, die Aufhebung der bis dahin herrschenden Koalitionsverbote, das heißt das Recht, sich Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden anzuschließen.3 Die neue Gewerbeordnung war im Geist der bürgerlich-liberalen Bestrebungen nach Vereins- und Versammlungsfreiheit konzipiert, führte jedoch von Anfang an dazu, dass auch die entstehende Arbeiterbewegung die neuen Freiheitsrechte für sich beanspruchte und ausgiebig nutzte.
Der unmittelbare und sprunghafte Anstieg der Streiks nach Inkrafttreten der Reform wirkte wie ein Schock auf die politischen und wirtschaftlichen Eliten des frühen Kaiserreichs. Dies galt vor allem in Preußen und Sachsen, wo die Industrialisierung bereits vorangeschritten war und im Laufe der 1860er Jahre auch deutschlandweit die ersten Arbeiterorganisationen mit sozialistischen Ansätzen gegründet worden waren.4 Als 1872 die Streikwelle der Gründerjahre den Höhepunkt erreichte, beklagte sich der preußische Handelsminister Itzenplitz bei Bismarck, dass seit der Aufhebung der Koalitionsverbote unter den Arbeitern »ein Geist der Ungebundenheit und Zuchtlosigkeit mehr und mehr zur Herrschaft« gelange.5 Während die politischen Führungsschichten in erster Linie die Verbindung zwischen Arbeitskämpfen und sozialistischer Agitation befürchteten, richtete sich die Auflehnung der Industriellen gezielt gegen die Koalitionsfreiheit. Sie sahen Streiks als Missbrauch der Koalitionsrechte und versuchten, die organisierte Arbeiterbewegung als »staatsgefährdend« zu diffamieren. Hierzu bedienten sich die Unternehmer und ihre Presse eines medizinischen Vokabulars, das die »krankhafte Arbeiterbewegung« und das »Streikfieber« der Gründerjahre als »Seuche« brandmarkte.6 Das ausschlaggebende Argument, um die Regierung zu repressiven Maßnahmen gegen Streiks zu bewegen, war, dass diese nicht rein wirtschaftliche, sondern auch politische Ziele verfolgten - es sich somit um eine Machtfrage handelte.7
Diese und ähnliche Angriffe auf das Koalitionsrecht blieben bis zum Zusammenbruch des Kaiserreichs eine Konstante und wurden von der Presse der Arbeiterbewegung permanent kritisiert. Noch im November 1913 hieß es in einem Leitartikel der sozialdemokratischen Parteizeitung Vorwärts unter der Überschrift »Infame Hetze«: »Das deutsche Unternehmertum, vom kleinen Gewerbetreibenden bis zu dem Reichsten der Reichen, vereinigt sich in geschlossener Front zu dem Vorstoß gegen das Koalitionsrecht.«8 Die hier als Hetze bezeichnete Kombination von Medienkampagnen und Lobbyarbeit deutscher Unternehmer gegen das Streikrecht wurde von den Behörden allerdings teilweise kritisch gesehen und als tendenziös abgelehnt.9 Der wilhelminische Staat sah sich mit Freiheits- und Sicherheitserwartungen diametral unterschiedlicher Interessengruppen konfrontiert: einerseits Arbeiterbewegung und linksliberale Verfechter der Demokratisierung, andererseits Unternehmerorganisationen und rechtsradikale Agitationsverbände. Dieser Antagonismus hatte sich auf Basis der Kontraposition zwischen Befürwortern der Reichsgründung und »Reichsfeinden« in der Bismarckzeit dynamisch weiterentwickelt.
Als Wilhelm II. zu Beginn seiner Regierungszeit 1889 eine Delegation streikender Bergarbeiter empfing, wurden grundlegende Aspekte der Argumentationslogik gegen die Streikbewegung bereits deutlich sichtbar. Einerseits ermahnte der Kaiser die Arbeiterdelegierten, dass »Gewalt oder Drohungen« gegen Arbeitswillige nicht tolerierbar seien, andererseits drohte er selbst, die sich abzeichnende Zusammenarbeit der Arbeiterbewegung »mit sozialdemokratischen Kreisen« gewaltsam zu unterdrücken.10 Antisozialismus und Schutz der Arbeitswilligen kristallisierten sich im ausgehenden 19. Jahrhundert als Eckpfeiler heraus und sollten bis 1914 zentrale Punkte der konservativen Mobilisierung gegen die Arbeiterbewegung bleiben.
Der Aufstieg sozialer Bewegungen und die Entstehung der modernen Mediengesellschaft bildeten eine wichtige Grundlage für die Intensivierung der Debatten über Gewalt und Sicherheit um 1900. Diese thematisierten nicht nur »Streikterrorismus«, sondern auch andere skandalisierte Bedrohungen wie politische Attentate, Gewaltkriminalität, technische Unglücke, Korruption und modernen »Sittenverfall«.11 Dabei wiesen die medialen Auseinandersetzungen um die Protestaktionen der Arbeiterbewegung strukturelle Ähnlichkeiten mit skandalisierenden Debatten über Homosexualität und Korruption oder mit der Moralpanik über die Gewalt und angebliche kriminelle Disposition proletarischer Unterschichten auf.12 Die Frage des Streikterrorismus war dennoch wegen ihrer ausgesprochen politisch-ideologischen Aufladung, die bei der Dramatisierung von Verbrechen nicht in vergleichbarer Weise festzustellen ist, und der sensationalisierten Darstellung von Gewalt, die bei Homosexualität und Korruption nicht gegeben war, virulenter als andere Skandale.
Streiks in Deutschland vor 1914 sind weitgehend aus der Perspektive der Arbeiterbewegung untersucht worden, deutlich seltener jedoch aus der Sicht von Unternehmern und Behörden. Die Diskurse um »Streikterrorismus« und die damit verknüpften repressiven Strategien dienen hier als Sonde, um einen neuen Blick auf einige zentrale Aspekte der Geschichte des späten Kaiserreichs zu werfen, etwa auf die Struktur der inneren Sicherheit und ihre öffentliche Skandalisierung oder auf gesellschaftliche Spaltungen und politische Polarisierung.
Im August 1898 traten in Potsdam, der Residenz- und Garnisonsstadt preußischer Könige seit dem späten 17. Jahrhundert, die Maurer in Streik.13 Vor dem Bahnhof organisierten die Arbeiter Streikposten und verhinderten so wirkungsvoll, dass Streikbrecher in die Stadt gelangten. Der Arbeitskampf spielte sich nur wenige Kilometer vom Neuen Palais im Park von Sanssouci, der Hauptresidenz Wilhelms II., ab und wurde vom Kaiser als offener Affront betrachtet. Er beschloss daher, das Thema des Streikterrorismus auf der nächsten Sitzung des Kronrats zu behandeln.14 Hier erörterte Wilhelm II. mit seinen Ministern, wie groß die Gefahr sei, dass die Sozialdemokratie in absehbarer Zukunft die ganze Arbeiterklasse kontrollieren werde. Seiner Argumentation zufolge blieb, um Recht und Ordnung zu bewahren, nur noch die Möglichkeit, Bismarcks alte Strategie von »Blut und Eisen« wiederzubeleben - nun auf dem Feld der Innenpolitik. Laut Sitzungsprotokoll bekundete der Kaiser, er werde sich »im Notfall auf die Bajonette stützen, da es scheint, dass in Deutschland ohne Blut und Eisen auch im Innern gesunde Zustände nicht herbeizuführen sind.«15 Aus den Krisengesprächen im Zuge des Maurerstreiks in Potsdam entstand eine Gesetzesinitiative, die sogenannte Zuchthausvorlage, um Streikposten unter Haftstrafe zu stellen.
Wilhelm II. beschloss, seinen Vorstoß gegen Streikterrorismus im Rahmen einer Rede in Bad Oeynhausen im September 1898 bekannt zu machen. Die Öffentlichkeit war jedoch bereits darüber informiert, denn der Vorwärts hatte Enthüllungen über den geplanten Gesetzentwurf veröffentlicht.16 Daraufhin kritisierten Gewerkschaften und Sozialdemokraten vehement die Zuchthausvorlage und drohten mit Massenprotesten im Falle ihres Inkrafttretens.17 August Bebel bezeichnete das Vorhaben als »Schmach und Schande« für Deutschland, was heftige Reaktionen der Konservativen provozierte.18 Auch die Liberalen traten öffentlich gegen die Zuchthausvorlage ein, besonders aktiv waren dabei der angesehene Nationalökonom Lujo Brentano, Friedrich Naumanns Nationalsozialer Verein und die Frankfurter Zeitung, das...
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