Schweitzer Fachinformationen
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Bei der ersten Gesprächspause strebt die Künstlerin in Richtung Tür. Sie hört jemanden ihren Namen rufen, aber sie möchte eine Zigarette, und sie läuft, so schnell ihr achtzigjähriger Körper es ihr erlaubt, weiter durch die überfüllte Galerie. Sie versteckt sich hinter einer Säule - um eine Pause zu machen, um Atem zu holen - und geht weiter. Ihre Hüften und Knie und Füße schmerzen von all dem Herumstehen. Sie hat Ausstellungseröffnungen noch nie gemocht, die Blicke des Publikums, die auf ihr ruhen, als sei sie Teil der Schau. Wenn sie nur unsichtbar sein könnte, dann würde es ihr vielleicht nichts ausmachen. Sie gibt sich Mühe, nicht weiter auf die Leute zu achten, die sie in Augenschein nehmen und Hypothesen aufstellen. Auch ihre Gemälde will sie nicht ansehen - die gegen sie in Stellung gebrachten Beweismittel, sozusagen. Die Schau ist eine Retrospektive, die gesamte Galerie ist mit ihrer Kunst gefüllt. Mit sechzig Jahren ihres Lebens. Natürlich kennt sie jeden Zentimeter einer jeden Leinwand so genau, als wären es Erweiterungen ihres eigenen Körpers. Die Hyäne und das Pferd; das Labyrinth, der Minotaurus, das Ei und der Kohlkopf, die weiße, alchemistische Rose; Geister, Hexen, ein spiralförmiger Tanz. Ihre Menagerie aus Hybriden, den Bestien, die sie gekannt und geliebt hat. So viele ihrer Visionen sind hier ausgestellt - es ist ein bisschen, als habe sie vergessen, ihre eigene Haut überzuziehen. Sehnen, Knochen, Herz und Venen, vor aller Augen ausgebreitet.
Als sie die Tür aufstößt und den frischen Windstoß von draußen einatmet, steht sie einer jungen Frau gegenüber, die Stift und Notizbuch in der Hand hält. «Ms. Carrington!», sagt die Frau und lächelt strahlend. Richtig, sie hat für ein Interview zugesagt. Und es ist ein Mann dabei, mit Kamera über der Schulter. Ein weiteres Foto. «Könnten wir anfangen?», fragt die Reporterin. Leonora folgt ihr wieder hinein. «Wie wäre es, wenn wir uns hier aufstellen, vor Sidhe, das Weiße Volk von Tuátha de Danann?» Die Frau spricht es korrekt aus. Sie hat ihre Hausaufgaben gemacht.
Als Leonora sich dem Bild der goldenen Küche von vor über vierzig Jahren nähert, schaut der Bulle mit diesem wissenden Funkeln in den Augen direkt in sie hinein, so, wie er es immer getan hat. Dann steht sie vor der offenen Tür neben dem Rahmen des Gemäldes, neben den glatzköpfigen, leuchtenden Wesen, die sich über Suppe und Yamswurzeln hermachen. Leonora wendet den Blick ab, sieht hinaus durch die Glasfront der Galerie, wo auf dem Gehweg ein Paar stehen geblieben ist. Sie beobachtet, wie die Frau in ihrem dunklen Mantel sich auf die Zehenspitzen stellt und der weißhaarige Mann den Kopf beugt, um sie zu küssen. Ein Blitz. Der Fotograf schießt sein Foto. Für einen Augenblick hat Leonora das Gefühl, in ihrem Gemälde zu sein, zurück in dieser anderen Welt. Ein weiterer Blitz, und sie erspäht in dem spiegelnden Fenster eine geisterhafte Gestalt, die durch die gegenüberliegende Wand der Galerie verschwindet. Schwindel überkommt Leonora, und sie richtet sich gerade auf, so gut sie kann, und presst die Füße in den Boden. Den größten Teil ihres Lebens hat sie dieses eigenartige Land nach ihren eigenen Maßgaben betreten, hat es sich durch ihre Gemälde zu eigen gemacht, und dennoch überrumpelt es sie immer noch gelegentlich.
«Könnten wir uns setzen?», fragt die Frau und führt sie zu einem kleinen Ledersofa.
«Ich habe nicht viel Zeit», sagt Leonora. Für gewöhnlich verabscheut sie Interviews, all die Fragen, die sie festnageln wollen, und gleichzeitig zu wissen, dass sie abgedruckt werden wird - nicht sie, sondern wie der Interviewer sie sieht. Wenngleich es sich, das muss Leonora zugeben, herrlich anfühlt, ihre Füße zu entlasten.
«Ihre Kunst ist so greifbar und dennoch geheimnisvoll. Woher nehmen Sie Ihre Inspiration?»
«Darüber spreche ich nicht.» Leonora blickt aus dem Fenster, aber das Paar ist weitergegangen.
«Dieses Gemälde zum Beispiel. Die Sidhe waren ein irisches Volk, ein Feenvolk, nicht wahr? Ich habe gelesen, dass Ihre Mutter und Ihre Nanny Ihnen Geschichten darüber erzählt haben.»
«Ja. Meine Großmutter hat meiner Mutter erzählt, dass wir von ihnen abstammen.»
«Womit jongliert dieser eine da? Mit Monden?» Die Reporterin zeigt auf die leuchtenden Himmelskörper in dem Gemälde. «Warum hat dieser andere ein Spinnennetz?» Die Frage hängt in der Luft. Es ist nicht so, dass Leonora nicht antworten möchte - sie kann nicht. Sie konnte die Dinge, die sie sieht, noch nie erklären. Sie seufzt, denkt an die Zigarette. Die Frau fährt fort. «In Ihrer ersten großen Arbeit, dem Selbstporträt, ist auf dem Boden etwas Verwischtes zu erkennen. Haben Sie dort etwas gemalt und es dann entfernt?» Leonora bleibt stumm. Die Reporterin verlagert ihre Position auf dem Kissen, blättert eine Seite in ihrem Notizbuch um. «Oder Die Riesin? Ich bin hingerissen davon, dass ihr Haar ein Weizenfeld ist. Ist die Figur an Demeter angelehnt? Oder vielleicht an die altnordische Göttin Sif?»
Leonora greift in ihre Manteltasche. Sie zieht die weiche Packung Vantage heraus und fingert vorsichtig nach einer Zigarette, als hielte sie ein rohes Ei in der Hand. «Ich spreche nicht über meine Kunst. Gemälde sind dazu da, Unsagbares auszudrücken.» Die Frau errötet. Sie beugt sich über ihr Notizbuch und schreibt schnell. Armes Mädchen. Es kann nicht leicht für sie sein. Leonora steht auf, benutzt dabei die Armlehne als Stütze. Es scheint eine Ewigkeit zu dauern. «Kommen Sie», sagt sie. «Lassen Sie uns frische Luft schnappen.»
Draußen geht ein starker Wind. Leonora bindet sich den Gürtel ihres langen Mantels um, schließt dann den Knopf unter dem Kinn. Sie atmet die kalte Luft ein und riecht die beißenden Abgase des vorüberfahrenden Lasters. Dann zündet sie sich eine Zigarette an und atmet aus. Schon besser. Sie bietet der Reporterin ebenfalls eine an. Die Frau nimmt mit einem Lächeln an. Ein Waffenstillstand, denkt Leonora und wünscht sich, sie könnte all dies mehr genießen. Sie hat ihr ganzes Leben darauf hingearbeitet, aber sie konnte sich an die Aufmerksamkeit nie gewöhnen, an den Gedanken, dass das, was aus ihrem Mund kommt, irgendwie bemerkenswert ist. Aber die Frau hält ihren Stift und ihren Block in der Hand, und ihre Finger sind von der Kälte gerötet. Leonora tritt einen Schritt näher auf die Reporterin zu, damit sie leise sprechen kann und die Frau sie trotzdem hört. «Gibt es noch irgendetwas, das Sie erfahren wollen?»
«Verstehen Sie sich als Surrealistin?»
Leonora stockt bei dem Wort, das sie ihre gesamte Karriere als Künstlerin hindurch so treu verfolgt hat wie ein Hund, als könnte man sie in einem Wort zusammenfassen. «Als Teil der Altherrenriege?» Leonora lacht. «Frauen konnten nicht beitreten, wissen Sie. Nicht offiziell. Aber die Wahrheit ist, ich verstehe mich selbst als überhaupt nichts.» Sie lehnt sich gegen die Fensterscheibe der Kunstgalerie und gibt sich Mühe, das zu erklären. «Egos sind gefährlich, zerbrechlich; zu groß, das ist nicht gut für sie. Wie Humpty Dumpty, nicht wahr?»
Die Reporterin nickt, schreibt und stellt die nächste Frage auf ihrer Liste. «Haben Sie als weibliche Künstlerin das Gefühl, dass Ihre Arbeit die Anerkennung gefunden hat, die sie verdient?»
Leonora denkt an die Männer. Dalí, Miró, Picasso, und an die enormen Summen, die ihre Gemälde noch vor ihrem Tod erzielt haben. Sie denkt daran, mit welcher Genügsamkeit sie selbst ihr Leben gelebt, sich von Bohnen, Reis und den billigsten Stücken Fleisch ernährt hat. Sie gluckst, hustet und holt tief Luft. Es hat keinen Zweck, verbittert zu sein. «Weibliche Kunst wird für einen Bruchteil dessen verkauft, was männliche Kunstwerke erzielen, und Frauen brauchen zweimal so lang, um sich einen Namen zu machen. Ich bin eine der Glücklichen. Ich bin alt. Ich habe lang genug gelebt, um noch mitzubekommen, dass die Welt wenigstens beginnt, uns wahrzunehmen - als Künstlerinnen, meine ich, nicht als Inspiration für Kunst, diese fürchterliche Vorstellung von einer Muse.»
«Und Paris? Wie war es in den dreißiger Jahren? Sie waren zwanzig?»
«Zwanzig, einundzwanzig.» Leonora nimmt einen Zug von ihrer Zigarette. Auf einer Nikotinwelle schwebend erinnert sie sich an ihre Wohnung in der Rue Jacob, an das weiße Schaukelpferd im Wohnzimmer, ihre Staffelei vor dem Fenster. «Paris bedeutete Freiheit», sagt sie und denkt an das Café de Flore und die Künstler - Leonor, Lee, Man und die Éluards, Duchamp, Breton, Picasso, und vor allem Max.
«Max Ernst war Ihr Liebhaber?» Die Frau grinst, als habe sie etwas in Leonoras Gesicht gelesen, irgendeine unerklärliche Veränderung in ihren Gesichtszügen bemerkt. Sie scheint zu glauben, sie sei die Erste, die den Mut aufbringt zu fragen, aber Leonora wird niemals interviewt, ohne dass man sich bei ihr nach ihm erkundigt - dem großen Mann -, als wäre sie nichts anderes als eine weitere Galatea. «Wie war das, mit ihm zusammen zu sein?»
Während Leonora auf das schmale Stück Himmel blickt, an dem ein einzelner Stern durch den Lichtdunst der Stadt hindurch sichtbar bleibt, ertappt sie sich dabei, wie sie an das morgendliche Kirchengeläut von Paris denkt und daran, wie sie ihn, wenn die Glocken sie weckten, enger an sich zog, wie die Wärme seines Körpers sie wieder in den Schlaf sinken ließ. «Es war perfekt», erwidert sie zu ihrer eigenen Überraschung.
«Leidenschaftlich?»
Leonora kann sich eines...
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