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Gut, es war kein Freitag, aber immerhin der dreizehnte.
Eigentlich war Portia nie abergläubisch gewesen, doch das hatte sich heute schlagartig geändert. Während sie im eisig kalten Salon des uralten Familiensitzes stand und dem Gejammer ihrer Mutter im Hintergrund lauschte, ertappte sie sich - wie so viele Menschen in Krisensituationen - bei der Frage, ob das alles wirklich geschah.
»Das kann nicht wahr sein, mein Kind. Das ist einfach unmöglich«, schluchzte Lucasta zum wohl tausendsten Mal an diesem Morgen. »Wie kann er sich einfach in Luft auflösen, ohne sich auch nur zu verabschieden? Wir waren sechsunddreißig Jahre lang verheiratet. Unvorstellbar, dass dein Vater mich verlassen haben soll. Mich! 1966 war ich Debütantin des Jahres! Alle sagten damals, dein Vater hätte ein Riesenglück gehabt, mich abzukriegen ...« Der Gedanke an ihre verflossene Jugend und Schönheit löste eine weitere tränenreiche Tirade aus. »Ich weiß, ich habe gesagt, er solle doch abhauen, aber wie konnte ich denn wissen, dass mich der Dreckskerl beim Wort nimmt? Es ist das erste Mal in seinem verpfuschten Leben, dass er tatsächlich tut, was ich ihm sage!«
Mit einem tiefen Seufzer machte sich Portia wieder daran, ihre Mutter zu trösten.
Die für März unzeitgemäßen Sonnenstrahlen strömten durch das gewaltige Panoramafenster herein, das den Raum beherrschte, und tauchten Mutter und Tochter in eine Wärme, die sie beide nicht wirklich empfanden. Für einen Außenstehenden gaben sie ein merkwürdiges Bild ab. Lucasta, Lady Davenport, war zwar erst Mitte fünfzig, wirkte aber um einiges älter, was wohl das Ergebnis ihres Faibles für Gin Tonic war. Ihr taillenlanges Haar, Objekt der Bewunderung im Jahr ihres gesellschaftlichen Debüts, war inzwischen grau und verfilzt und hatte vermutlich seit der Mondlandung keinen Frisiersalon mehr von innen gesehen. Wie immer trug sie Gummistiefel, eine von Motten zerfressene dunkelblaue Jacke und mehrere Schichten dicker Wollpullover, mit denen sie aussah, als hätte sie gerade einen Obdachlosen überfallen und ihm die Kleider vom Leibe gerissen. Doch trotz ihres vom Weinen verquollenen Gesichts merkte man noch, dass sie in ihrer Jugend als attraktiv gegolten haben musste.
Portia, ihre ältere Tochter, war optisch das genaue Gegenteil. Sie war hochgewachsen, mager und blass und trug ihr hellbraunes Haar ordentlich im Nacken zusammengebunden. Heute war sie bleich wie ein Gespenst, nicht so sehr vor Schreck, sondern aus schierer Sorge. Während sie ihrer Mutter eine weitere Hand voll Kosmetiktücher reichte, blickte sie sich müde im Zimmer um. Sie betrachtete die schmutzigen Fenster mit den gesprungenen Scheiben, die hohe Rosettendecke im georgianischen Stil, die schon seit Jahrzehnten nicht mehr mit Farbe in Berührung gekommen war und inzwischen von Spinnweben strotzte, den abgewetzten Perserteppich auf dem Boden, der dank der Generationen von Katzen, die ihre Mutter dort nächtigen ließ, bestialisch stank, und die großen hellen Flecken an der Wand, an der einst die Gemäldesammlung der Familie Davenport geprangt hatte.
Zu Lebzeiten von Portias Großvater war die Kunstsammlung der Familie sehr berühmt und eine der bedeutendsten des Landes gewesen. Werke von keinen Geringeren als Gainsborough und Reynolds hatten in diesem Raum gehangen. Portia konnte sich noch erinnern, die Bilder in ihrer Kindheit gesehen zu haben. Sie hatte nicht einmal gewusst, wie bekannt sie waren, bis sie in die Schule kam und eines von ihnen auf dem Einband eines Kunstgeschichtsbuchs entdeckte. Na so was, das hängt in unserem Haus, hatte sie damals gedacht. Inzwischen waren die Gemälde alle fort, samt und sonders weit unter Marktpreis verkauft, um die Spielschulden ihres Vaters zu bezahlen. Portia seufzte tief auf. Es hatte keinen Zweck, jetzt darüber nachzugrübeln. Die Vergangenheit ließ sich nicht ungeschehen machen. Als sie nun aus dem Panoramafenster blickte, sah sie in der Ferne ihre jüngere Schwester Daisy auftauchen, die wie eine Wilde auf ihrer Lieblingsstute durch den Park galoppierte.
Für sie ist es noch schlimmer, die Arme, dachte Portia, während sie sanft ihre Mutter beruhigte. Sie hat ihn schließlich wirklich gemocht.
Jack, Lord Davenport, wegen seiner Sucht nach besagtem Spiel auch als »Black Jack« bekannt, befand sich nach Portias Berechnungen im Moment schon fast in Las Vegas. Und da er nie halbe Sachen machte, hatte es ihm nicht genügt, Frau und Töchtern das letzte bisschen Bargeld abzunehmen und sie dann sitzen zu lassen. Damit das Vergnügen dabei nicht zu kurz kam, hatte er außerdem Sarah Kelly mitgenommen. Sarah Kelly war Pferdepflegerin bei den Davenports und neunzehn Jahre alt.
Es ist alles nur mein gottverdammter Fehler, genau wie immer, dachte Daisy, während sie am Rosengarten vorbeipreschte und sich den wilden Märzwind ins Gesicht wehen ließ. Schließlich habe ich die dumme kleine Pute eingestellt. Allerdings musste sie sich zugutehalten, dass die Idee damals gar nicht so abwegig erschienen war. Sie hatte Sarah im letzten Sommer als Aushilfe während der Feriensaison beschäftigt. Was die Arbeitsplatzbeschreibung anging, hatte Daisy keine Zweifel aufkommen lassen. Sarah sollte dabei helfen, die Ställe zu säubern und den Pferdemist wegzukarren. Davon, dass sie mit Papa durchbrennen soll, war nie die Rede, schluchzte Daisy in sich hinein, während ihr die Tränen ungebremst übers Gesicht strömten. Wie konnte er ihnen das antun? Wie konnte er einfach mit einer Scheißeschauflerin abhauen, die überdies noch Beine hatte wie ein Brauereigaul? Sie galoppierte an den alten Tennisplätzen vorbei, wo die Netze vor sich hin moderten, vorbei am Obstgarten und auf die umliegenden Hügel zu, die noch zu den Ländereien der Davenports gehörten. Wenn Daisy so erschüttert war wie heute, war das der einzige Ort, an dem sie es aushielt.
Unweit von Davenport Hall befand sich ein Reitstall, der der Familie früher einmal das dringend benötigte Einkommen gesichert hatte. Touristen hatten die Möglichkeit, den Tag in Davenport Hall zu verbringen. (»Ein atemberaubendes Beispiel georgianischer Architektur im Herzen von County Kildare«, wie es in der Tourismusbroschüre stolz, aber irreführend hieß.) Wer Lust dazu hatte, konnte auf Ponys einen Ausritt durch die idyllischen Wälder rings um das Haus unternehmen, vorbei am River Kilcullen mit seiner Lachsfalle, und sogar bis zum Mausoleum, einem prachtvollen neoklassischen Monument, wo neun Generationen von Davenports begraben lagen.
Einem Fremden konnte man beim ersten Anblick des Hauses und der Ländereien leicht verzeihen, wenn er auf den Gedanken verfiel, diese Familie müsse wohl unglaublich reich sein. Und was das Haus selbst anging ... Von außen wirkte Davenport Hall so majestätisch, als residiere die königliche Familie persönlich darin. Es war Mitte des achtzehnten Jahrhunderts erbaut worden und galt damals als das stattlichste Anwesen in der Provinz Leinster. Von James Gandon für seinen alten Saufkumpan, den ersten Lord Davenport, geplant, war es mit acht gewaltigen Empfangsräumen, einem Ballsaal, einer Bibliothek, einer Porträtgalerie (wo der Legende zufolge Edward VII. und seine irische Geliebte ein Vermögen am Kartentisch verloren hatten) und sage und schreibe sechzehn Schlafzimmern ausgestattet. Auf den ersten Blick mochte es scheinen, als müsse man im Lotto gewinnen, um es sich leisten zu können, hier zu wohnen - bis man die Eingangstür öffnete und sah, in welch beklagenswertem Zustand sich Davenport Hall inzwischen befand.
Ein Tourist, der das Pech hatte - oder so leichtsinnig war -, sich hierher zu verirren, nahm beim Überschreiten der Schwelle zuerst die eisige Kälte wahr. Im Haus war es so frostig, dass selbst im tiefsten Winter draußen oft höhere Temperaturen herrschten. Häufig warf Daisy sich eine Decke um und verkündete: »Ich geh mal kurz raus, mich aufwärmen.«
Doch die Kosten, die es verursacht hätte, die veraltete Heizanlage von Davenport Hall zu modernisieren, überstiegen bei weitem die Mittel der Familie. Falls es dem bedauernswerten Besucher dennoch gelang, sich zu akklimatisieren, stieg ihm als Nächstes ein sonderbarer Geruch in die Nase. Es war eine wahrhaft abstoßende Mischung aus Katzenpisse und Moder, die weniger heldenmütige Zeitgenossen umgehend in die Flucht schlug. Hatte der Besucher besonderes Pech und wurde zu allem Überfluss auch noch vom Regen überrascht, musste er aufgrund der Pfützen unter den klaffenden Löchern im Dach einen wahren Hindernisparcours überwinden. Portia hatte das Haus schon einige Male beliehen, um das Dach reparieren zu lassen. Doch Black Jack hatte sich, typisch für ihn, das Geld von der Bank sofort unter den Nagel gerissen und war damit zur Rennbahn in Curragh gefahren ... wo es nach etwa einer Stunde ausgegeben war.
Der gelbe Salon, in dem Lady Davenport und Portia nun saßen, war vermutlich das einzig bewohnbare Zimmer im Haus; zumindest brannte dort immer ein Feuer, und wenn man sich oben auf den gewaltigen steinernen Kaminsims setzte, bekam man sogar ein wenig Wärme ab. Genau das war Portia gerade im Begriff zu tun, als die Tür aufgerissen wurde.
»Mein Gott, Mrs. Flanagan, können Sie sich nicht endlich daran gewöhnen anzuklopfen?«, rief Lucasta aus, die, umgeben von nass geschnäuzten Kosmetiktüchern, auf dem Sofa thronte.
»Ach, Liebes, nur mal locker«, entgegnete Mrs. Flanagan in ihrem dicken Nord-Dublin-Akzent. »Ich dachte, Sie hätten vielleicht gern ein Tässchen Tee«, fügte sie, eine Zigarette mit absturzbedrohter Aschensäule im Mundwinkel, hinzu.
»Danke, Mrs. Flanagan, das ist sehr nett von Ihnen«, sagte Portia. »Komm schon, Mummy, Tee mit viel Zucker ist gut gegen Schock.«
»Blödsinn. Mrs. Flanagan, bringen Sie...
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