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Mit einem Gespräch zwischen Emmanuel Carrère und Claudia Hamm
Jean-Claude Romand scheint sein Leben im Griff zu haben. Nachbarn und Bekannte schätzen den erfolgreichen Arzt, seine Bescheidenheit und Intelligenz. Doch plötzlich ermordet er seine Frau und seine beiden kleinen Kinder, seine Eltern und deren Hund. Der Versuch, seine Geliebte und sich selbst zu töten, misslingt, möglicherweise gewollt. Die Ermittlungen der Polizei lassen innerhalb von wenigen Stunden die äußere Fassade einstürzen, dahinter gähnt Leere: Romands Leben ist seit 17 Jahren auf Lügen und Betrug gebaut. »Seine Forscherstelle bei der WHO, Geschäftsreisen, Konferenzen mit hochrangigen Kollegen - all das hatte es nie gegeben.« Und niemand hatte je Verdacht geschöpft. Die Nachricht geht durch die Presse und veranlasst Carrère zu seinem ersten Tatsachenroman. Doch nicht die Fakten ziehen ihn in den Bann, sondern die dunklen Triebkräfte dahinter, »der Widersacher«. Er schreibt Romand, trifft ihn, wohnt seinem Prozess bei, befragt ehemalige Freunde, versucht zu verstehen. Mit einem schonungslosen Blick für die Abgründe unserer Psyche und die Rolle des Sprechens und Schweigens zeigt Emmanuel Carrère die Zerbrechlichkeit unserer sozialen Maske - in einer direkten, rohen Sprache, die seine eigene Fassungslosigkeit spürbar macht und von Claudia Hamm für die Neuausgabe kongenial ins Deutsche übertragen wurde.
Bourg-en-Bresse, den 10. 9. 95
Werter Herr Carrère,
weder Feindseligkeit noch Gleichgültigkeit gegen Ihre Vorschläge sind schuld daran, dass ich Ihnen erst jetzt auf Ihren Brief vom 30. 8. 93 antworte. Mein Anwalt hatte mir jedoch abgeraten, Ihnen vor Abschluss der Ermittlungen zu schreiben. Da es jetzt so weit ist, habe ich (nach drei psychiatrischen Gutachten und 250 Stunden Verhör) einen etwas freieren Kopf und klarere Gedanken, um möglicherweise etwas zu Ihrem Vorhaben beitragen zu können. Ein weiterer glücklicher Umstand hat mich darin bestärkt: Ich habe gerade Ihr letztes Buch Schneetreiben gelesen und es sehr gemocht.
Wenn Sie immer noch im gemeinsamen Wunsch nach Verständnis dieser Tragödie, die mich weiterhin täglich beschäftigt, mit mir zusammentreffen möchten, müssten Sie beim Oberstaatsanwalt einen Antrag auf Besuchserlaubnis sowie zwei Passfotos und eine Kopie Ihres Personalausweises einreichen.
In der Hoffnung auf eine Antwort oder einen Besuch von Ihnen verbleibe ich mit den besten Wünschen für Ihr Buch, in großer Dankbarkeit für Ihr Mitgefühl und in tiefer Bewunderung Ihres schriftstellerischen Talents.
Vielleicht bis bald,
Jean-Claude Romand
Untertrieben gesagt: Dieser Brief hat mich erschüttert. Ich fühlte mich zwei Jahre später am Ärmel gepackt. Ich hatte mich verändert und glaubte mich fern von all dem. Diese Geschichte und vor allem mein Interesse für sie widerten mich inzwischen fast an. Andererseits konnte ich auch nicht zurückschreiben: Nein, inzwischen möchte ich Sie nicht mehr treffen. Ich beantragte eine Besuchserlaubnis. Da ich kein Familienmitglied war, wurde sie mit dem Hinweis abgelehnt, nach Romands Vorführung beim Schwurgericht von Ain, die für das Frühjahr 1996 vorgesehen sei, könne ich einen neuen Antrag stellen. Bis dahin bleibe nur der Postweg.
Auf der Rückseite seiner Kuverts brachte er kleine Aufkleber mit seinem Namen und seiner Adresse an: »Herr Jean-Claude Romand, 6, rue du Palais, 01011 Bourg-en-Bresse«, und wenn ich ihm antwortete, vermied ich in der Anschrift das Wort »Gefängnis«. Ich nahm an, dass er über sein grobes, kariertes Papier, den Zwang, sparsam damit umzugehen, und vielleicht sogar den, mit der Hand zu schreiben, nicht glücklich war. Ich hörte auf, meine Briefe auf dem Computer zu tippen, damit wir zumindest in dieser Hinsicht gleichgestellt wären. Die Besessenheit, mit der ich die Ungleichheit unserer Umstände wahrnahm, die Angst, ihn zu verletzen, wenn ich mich über mein eigenes Glück als freier Mensch, als Ehemann, froher Familienvater und anerkannter Schriftsteller ausließe, das Schuldgefühl, nicht selbst der Schuldige zu sein - das alles verlieh meinen ersten Briefen einen beinahe unterwürfigen, geschwollenen Ton, der in seinen verlässlich widerhallte. Es gibt gewiss nicht x-beliebig viele Formen der Ansprache an jemanden, der seine Frau, seine Kinder und seine Eltern ermordet und selbst überlebt hat, doch im Nachhinein wird mir bewusst, dass ich mich von Anfang an mit diesem betulichen, mitfühlenden Ernst bei ihm einzuschmeicheln versuchte und ihn nicht als jemanden betrachtete, der etwas Grauenhaftes getan hatte, sondern als einen, dem etwas Grauenhaftes zugestoßen war, als unseliges Spielzeug dämonischer Kräfte.
Ich stellte mir so viele Fragen, dass ich ihm nicht eine einzige zu stellen wagte. Und er zeigte wenig Interesse, über die Tatsachen zu sprechen, sondern wollte nur ihre Bedeutung erforschen. Er brachte keinerlei Erinnerung zur Sprache, machte höchstens vage, abstrakte Anspielungen auf »die Tragödie«, erwähnte niemals die, die deren Opfer geworden waren, sondern breitete sich vor allem über sein eigenes Leid, die Unmöglichkeit seiner Trauer und die Schriften Lacans aus, die er in der Hoffnung, sich selbst besser zu verstehen, zu lesen begonnen hatte. Er kopierte mir Auszüge aus den psychiatrischen Gutachten: ». Wir haben es im vorliegenden Fall mit einer gewissermaßen archaischen Verhaltensebene zu tun. Auf dieser unterschied J.-C. R. kaum noch zwischen sich und seinen Liebesobjekten, sondern war in einem totalisierenden, undifferenzierten und geschlossenen kosmogonischen System Teil von ihnen und sie von ihm. Auf dieser Ebene gibt es keinen großen Unterschied mehr zwischen Selbstmord und Mord .«
Auch wenn ich ihn nach Einzelheiten seines Gefängnislebens fragte, wurde er nicht konkreter. Er wirkte, als interessiere er sich nicht für die Wirklichkeit, sondern nur für ihre Symbolik, und als deute er alles, was ihm zustieß, als ein Zeichen, insbesondere mein Auftauchen in seinem Leben. Er erklärte sich für überzeugt, »dass der Zugang eines Schriftstellers zu dieser Tragödie andere, engere Sichtweisen wie die der Psychiatrie oder anderer Geisteswissenschaften um Vieles bereichern und erweitern« könne, und wollte mir und sich unbedingt begreiflich machen, dass »jede narzisstische Vereinnahmung (s)einem (zumindest bewussten) Denken fern« liege. Ich erkannte, dass er mehr auf mich baute als auf die Psychiater, um sich seine eigene Geschichte zu erklären, und mehr auf mich als auf seine Anwälte, um sie der Welt zu erklären. Diese Verantwortung machte mir Angst, doch nicht er war auf mich zugegangen, sondern ich hatte den ersten Schritt getan und meinte, nun auch die Konsequenzen tragen zu müssen.
Ich gab unserem Briefwechsel einen neuen Dreh mit der Frage: »Sind Sie gläubig? Ich meine: Glauben Sie, dass es eine übergeordnete Instanz gibt, die das, was Sie selbst an dieser Tragödie nicht begreifen können, versteht und vielleicht vergeben kann?«
Antwort: »Ja. >Ich glaube zu glauben.< Und ich denke nicht, dass es sich dabei um einen Gelegenheitsglauben handelt, der die schreckliche Möglichkeit abwehren will, dass wir nach dem Tod möglicherweise nicht alle in ewiger Liebe vereint sein könnten, oder der den Sinn meines (Über-)Lebens in einer mystischen Erlösung suchen will. Zahlreiche >Zeichen< haben mich in den letzten drei Jahren in meiner Überzeugung bestärkt, doch verstehen Sie mich bitte nicht falsch, wenn ich mich nicht weiter darüber auslassen möchte. Ich weiß nicht, ob Sie selbst gläubig sind. Ihr Vorname könnte allerdings dafür sprechen .«
Auch damit hatte ich angefangen. So peinlich die Frage auch war, ich musste darauf antworten, mit Ja oder Nein, und ich sagte blind: Ja. »Sonst könnte ich mich einer so fürchterlichen Geschichte wie der Ihren nicht aussetzen. Um der Finsternis, in der Sie sich befunden haben und weiter befinden, ohne morbide Selbstgefälligkeit ins Auge zu sehen, muss man glauben können, dass es ein Licht gibt, in dem uns alles, was gewesen ist, selbst das maßloseste Unglück und Böse, irgendwann verständlich wird.«
Je näher der Prozess rückte, desto ängstlicher wurde er. Dabei ging es nicht um das Strafmaß: Dass das Urteil sehr hart ausfallen würde, wusste er, außerdem hatte ich nicht den Eindruck, dass er die Freiheit vermisste. Einige Zwänge des Gefängnislebens belasteten ihn zwar, doch im Großen und Ganzen kam er gut damit zurecht. Jeder wusste, was er getan hatte; er brauchte nicht mehr zu lügen und empfand neben seinem Leid zugleich eine ganz neue psychische Freiheit. Er war ein mustergültiger Häftling und wurde von seinen Mitgefangenen ebenso geschätzt wie von den Angestellten. Diesen Kokon zu verlassen, in dem er seinen Platz gefunden hatte, um Leuten zum Fraß vorgeworfen zu werden, die ihn als Ungeheuer betrachteten, versetzte ihn in Angst und Schrecken. Immer wieder redete er sich ein, er müsse es tun, es sei wesentlich für ihn und die anderen, sich dem Menschengericht zu stellen. »Ich bereite mich auf diesen Prozess vor wie auf eine entscheidende Begegnung«, schrieb er mir, »es wird die letzte mit >ihnen< sein, die letzte Chance, >ihnen< gegenüber endlich ich selbst zu sein . Ich habe das Gefühl, danach bleibt mir nicht mehr viel Zeit.«
Ich wollte die Orte sehen, an denen er als Phantom gelebt hatte. Ich fuhr los und folgte eine Woche lang treu den Wegbeschreibungen, die er auf meine Bitte hin sorgfältig angefertigt und kommentiert hatte, und hielt sogar die Reihenfolge ein, die er mir vorgeschlagen hatte. (»Danke, dass Sie mir die Gelegenheit geben, noch einmal durch dieses familiäre Universum zu reisen, es ist zwar sehr schmerzhaft, aber doch leichter, wenn man es mit jemandem zusammen tun kann als allein .«) Ich sah den Weiler seiner Kindheit, das Häuschen seiner Eltern, seine Studentenbude in Lyon, das abgebrannte Haus in Prévessin, Cottins Apotheke, in der Florence manchmal ausgeholfen hatte, die Saint-Vincent-Schule in Ferney. Ich hatte Luc Ladmirals Namen und Adresse in der Tasche und lief an seiner Praxis vorbei, doch ich betrat sie nicht. Ich sprach mit niemandem. Ich streunte allein dort herum, wo Romand tagsüber müßig herumgestreift war: auf Waldwegen im Jura oder im Viertel der internationalen Organisationen in Genf, wo auch das Gebäude der WHO steht. Irgendwo hatte ich gelesen, ein...
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