Schweitzer Fachinformationen
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8 Wer war sie? Das ist das Seltsame mit den Toten, dass sie nicht für sich selbst sprechen können. Die Geschichte ihres Lebens muss von Registereinträgen, Berichten und durch die Zeugenaussagen der Menschen, mit denen sie in der einen oder anderen Weise in Beziehung standen, erzählt werden.
»Geboren 1986«, liest Birck aus der Biografie vor, »in Santiago, Chile. Einziges Kind. Im Alter von drei Jahren kommt sie mit der Familie nach Stockholm in eines der Hochhäuser draußen in Hallunda. Der Vater wird Mechaniker in einer Firma in Farsta, die Mutter Putzfrau im Krankenhaus Huddinge.«
Hallunda kann eine harte Umgebung für ein kleines Kind sein, aber Angelica Reyes kommt gut zurecht. Sie hat früh lesen und schreiben gelernt, die Lehrer berichten von ihren schulischen Leistungen, ihrer Begabung, der Freude am Unterricht. In der Unter- und Mittelstufe war sie sehr fleißig. Außerdem war sie großzügig mit ihrem Wissen, das erwähnen mehrere Lehrer.
»Hör dir das an«, sagt Birck und klopft mit der Fingerspitze auf das Papier. »Sie schreiben: >Die Kinder mussten regelmäßig die Plätze wechseln, und man konnte erkennen, wie der Banknachbar, den Angelica Reyes jeweils hatte, von ihr bestärkt wurde. Die schulischen Leistungen eines Kindes verbesserten sich in der Zeit, in der es neben Angelica saß.<«
Birck sieht von dem Papier auf.
»Schön«, erwidere ich. »Und ein bisschen traurig.«
Sie trainierte Gymnastik im örtlichen Verein und wurde auch einmal Dritte in einem Wettkampf. Angelica träumte davon, Stewardess zu werden. Ein seltsamer Traum für ein Mädchen aus den Hochhäusern von Hallunda, mag man meinen, doch vielleicht war es gar nicht so seltsam. Angelica Reyes wollte die Welt sehen. Außerdem entwickelte sie als Teenager eine Abenteuerlust, die sie nie wieder verließ.
Es ist schwer, nach so langer Zeit die schrittweise Veränderung nachzuverfolgen, eigentlich kann man sie nur erahnen. Die Abenteuerlust bleibt stark, scheint sich aber im Lauf der Jahre anders auszudrücken. Ein Freund erzählt, Angelica habe schon als Fünfzehnjährige gern Marihuana geraucht. Ist das wahr? Vielleicht. Man muss es annehmen.
Etwas später hören Birck und ich die Audioaufnahmen an, die den Kern der Ermittlungsprotokolle darstellen. Offenbar hielt man sie für wichtig. Die Verhöre sind als digitale Audiodateien auf einem Stick gespeichert, und Birck klickt sich mit verwirrter Miene hindurch.
»Hier herrscht Unordnung«, murmelt er. »Verdammt, ich finde gar nichts. Das kann nicht das Werk von Levin sein.«
»Ist es auch sicher nicht«, erwidere ich. »Er mochte keine Computer. Vermutlich hat sich darum irgendein Assistent gekümmert.«
Auf den Audiodateien sprechen Menschen über Angelica Reyes, und sie schildern, wie sich Angelica, als sie ins Teenageralter kam, verändert hat, wenngleich diese Veränderung anscheinend nur schwer zu präzisieren war:
»Sie wurde, also, wissen Sie«, sagt einer ihrer Klassenkameraden aus der Mittel- und Oberstufe aus, »ja, irgendwann lief sie aus dem Ruder. Bis zur sechsten Klasse war alles gut. Aber dann fing sie an zu rauchen, also Zigaretten, meine ich, und zu trinken. Ging mit älteren Typen auf Feste und so. Sie hat wie blöd geschwänzt, wissen Sie, und schon bald stand sie jeden Tag auf dem Raucherhof, wenn sie überhaupt in der Schule war. Dann, so in der Siebten oder Achten, passierte etwas. Sie behauptete, sie wäre auf einem Fest gewesen und dort von zwei Typen vergewaltigt worden. Das war wahrscheinlich die Sache, die das Fass zum Überlaufen brachte, oder wie man das sagen soll, weil ihr nämlich keiner glaubte. Zu der Zeit waren schon so viele Gerüchte über sie im Umlauf. Sie sei eine Hure, eine Schlampe, sie sei dieses und jenes. Möglicherweise hatte sie Sex mit denen gehabt, aber eine Vergewaltigung? Da lachten alle bloß. Sie zeigte die Typen nicht an, schließlich stand Aussage gegen Aussage, und als ein paar Monate später herauskam, dass sie immer noch mit ihnen rumhing, also den Typen, die sie vergewaltigt haben sollten, dass sie mit denen Zeug rauchte und sogar manchmal bei einem von ihnen übernachtete, da war das für uns die Bestätigung, dass es nie eine Vergewaltigung gegeben hat. Wer zum Teufel hängt denn mit Leuten ab, die einen vergewaltigt haben? Aber wenn sie nicht vergewaltigt wurde, wer zum Teufel beschuldigt denn zwei unschuldige Personen eines solchen Verbrechens? Sie musste krank im Kopf sein, dachten wir. Und sie suchte Aufmerksamkeit, die war ihr am wichtigsten.«
Der Klassenkamerad auf dem Band verstummt, doch dann fügt er hinzu: »Ich habe damals nicht so viel darüber nachgedacht. Aber heute wird mir klar, dass sie in der Situation wahrscheinlich außer diesen Typen nicht so viele andere Leute hatte, an die sie sich wenden konnte.«
Birck betrachtet den Computerbildschirm.
»Pfui Teufel.« Er wendet sich dem übrigen Material zu. »Ist die Vergewaltigung dokumentiert?«
Ist sie nicht. Es gibt keine Anzeige und auch keine Zeugenaussagen dazu, lediglich die Gerüchte. Ein Verbrechen, das versickert, wie so viele andere.
Die Eltern waren bald mit Angelica überfordert und bekamen umfassende Unterstützung vom Jugendamt, jedoch ohne Erfolg. Das Mädchen entwickelte eine Tablettensucht und wurde im September 2003 zu einer Zwangseinweisung nach Jugendrecht verurteilt. Als sie ein paar Monate später rauskam, schien ihr Leben genauso weiterzugehen wie bisher.
Laut Informationen der Sitte in Stockholm begann sie, immer mehr Alkohol und Tabletten zu konsumieren.
»Herbst 2007«, lese ich vor. »Sie kommt in die Ausnüchterung, und danach kontaktiert man die Sozialfürsorge, die schreibt: >Reyes gibt an, seit einiger Zeit keinen festen Wohnsitz zu haben, sondern bei Freunden und Bekannten zu wohnen. Die betreffenden Personen sind der Sitte als Prostituierte und der Zuhälterei Verdächtige bekannt.<«
»So eine Überraschung«, ätzt Birck.
Die weiteren Runden in Angelica Reyes Leben kann man sich fast ausrechnen: Sie wird wegen Drogenbesitzes verurteilt, dann in einer Wohnung angetroffen, die der Sitte seit Langem als Bordell bekannt ist, und wieder eingewiesen. Sie macht eine Therapie wegen ihres Tablettenmissbrauchs, kombiniert aber bald Kokain mit Heroin, laut Behandlungsbericht ein sogenanntes Speedballing. Irgendwo auf diesem Weg gelingt es ihr durch ihren Sozialbetreuer, der unzählige Male im Zusammenhang mit dem Mord gehört wird, eine Wohnung in der John Ericssonsgatan 16 zu ergattern, eine Anschrift, unter der sie am 1. März 2009 gemeldet wird.
An dieser Anschrift, in ihrem Bett in der Wohnung, wird sie in der Nacht zum 13. Oktober 2010 erstochen aufgefunden.
Hallunda, Norsborg, Salem. Unterschiedlich, und auch wieder nicht, und ich erkenne mich in Angelica Reyes' Biografie wieder. Ich kann uns da erkennen, sehe, wie Grim und ich uns sozusagen in den Kulissen der Ereignisse bewegen. Wir sind ein wenig älter, aber nicht viel.
Ich denke an Angelica Reyes, wie sie dreizehn oder vierzehn ist und vergewaltigt wird. Das waren genau die Geschichten, die man draußen bei uns über Leute hörte, denen es übel erging. Und schlechte Witze. Etwa wenn jemand sagte, der Wappenvogel des Landes Norsborg sei ein fucking Polizeihelikopter. Die Leute lachten. Ein anderer, etwas gebildeter als seine Kumpels, verstand den Scherz nicht und meinte: »Norsborg ist doch kein Land, du Idiot.«
»Okay«, sagt Birck abschließend. »Sie kapieren also umgehend, dass sie es mit einer toten Prostituierten zu tun haben. Und das Geld auf ihrem Nachttisch, zweitausend Kronen, deutet darauf hin, dass sie kürzlich einen Kunden hatte. Deshalb glauben sie, nach einem Freier suchen zu müssen.«
»Oder nach einem Zuhälter.«
»Der Täter ist fast nie der Zuhälter. Für den sind die Frauen viel zu wertvoll. Ich wette auf einen Freier. Er bezahlt, und Reyes legt das Geld auf den Nachttisch. Dann geht es los, bis etwas passiert, weswegen der Freier durchdreht.«
»Zum Beispiel?«
»Nun, was kann man sich denn denken? Dass er lange braucht, um ihn hochzukriegen, und Reyes ihn darauf hinweist? Vielleicht fasst er das als höhnisch auf, mehr braucht es nicht. So was geschieht ziemlich oft, denke ich mir, dass sie es nicht bringen, wenn sie mal die Chance kriegen. An diesem Abend hat Angelica aber das Pech, auf einen Freier zu treffen, der zu Gewalttätigkeit neigt und sich einbildet, dass der Beweis seiner Männlichkeit von dem Wurm zwischen seinen Beinen abhängt.«
»Das war wohl in etwa die Arbeitshypothese der Kollegen«, bestätige ich und blättere in dem vor uns liegenden Material, auf der Suche nach der Aktennotiz der Personenüberwachung, die vor der ersten Zusammenkunft der Ermittlergruppe verfasst wurde.
»Vermutlich, weil sie recht hatten. Das ist in solchen Fällen fast immer so. Es ist ihnen nur einfach nicht gelungen, den richtigen Freier zu finden. Das hier ist, und es ist zwar politisch nicht korrekt, sich so auszudrücken, aber darauf scheiße ich, ein typischer Hurenmord, den sie unglücklicherweise zufällig nicht lösen konnten .« Er sieht mich an. »Aber du glaubst das nicht.«
»Ich weiß nicht.« Ich höre auf zu suchen und sehe auf die Uhr. »Mittagspause.«
»Genau, ich werde mit einem Bekannten aus der Rechtsmedizin zu Mittag essen. Er ist ein Teufel in Sachen DNA, vielleicht kann er uns in dieser Sache helfen.« Er stößt ein sarkastisches Lachen aus. »Ich meine, wir brauchen schließlich jede Hilfe, die wir kriegen können. Was wirst du tun?«
Ich werde mich mit Sam...
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