Kapitel 2
Samstag, 13. Juni, 9.45 Uhr Ach komm schon, Tanya. Wie schlimm kann es denn werden?« Wenn Sara etwas wollte, konnte sie ganz schön hartnäckig sein.
Tanya wickelte den Handtuchturban ab und schüttelte ihre langen blonden Haare. Blond. Noch immer hatte sie sich an die Farbe nicht gewöhnt. Sie wirkte so falsch an ihr. »Ich weiß nicht. Ist es nicht deine Aufgabe herauszufinden, warum sie nicht schlafen kann? Du bist doch die Psychologin!«
»Aber du kennst dich aus mit Schlafstörungen«, redete Sara beharrlich weiter auf sie ein. Dabei drehte sie nervös immer wieder eine blonde Strähne zwischen den Fingern. Nur dass ihre Haare echt blond waren. »Als wir uns kennen lernten, hattest du ständig welche. Und immer noch siehst du ab und zu müde aus.«
Ab und zu? Das war die Untertreibung des Jahrhunderts. Es gab keine Nacht, in der sie nicht von Schlafstörungen geplagt wurde. Nicht einmal >ab und zu
»Hm«, brummte Tanya unentschlossen und stellte den Föhn auf höchste Stufe, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, doch ihre Freundin redete einfach über den Lärm hinweg.
»Heißt das, du kannst momentan auch nicht schlafen? Tanya, brauchst du irgendwas? Soll ich dir ein Rezept ausstellen lassen?« Sie klang aufrichtig besorgt.
Nein, Pillen machen die Sache nur noch schlimmer. Mir kann niemand helfen. Tanya seufzte und schaltete den Föhn aus, obwohl ihre Haare noch genauso nass waren wie zuvor. Wenn er ihr nicht half, sich vor den Wortattacken ihrer besten Freundin zu schützen, dann war er unnötig; es war wirklich nicht annähernd so kalt, dass man sich die Haare künstlich trocknen musste. »Nein, mir geht es gut«, log Tanya und wunderte sich selbst, wie leicht ihr diese Lüge mittlerweile über die Lippen ging. Sie klang sogar in ihren Ohren überzeugend.
»Dann komm doch bitte mit. Vielleicht kannst du meiner Patientin ja auch helfen, damit es ihr bald wieder gut geht«, drängte Sara und bediente sich selbst an der >Saftbar<, die Samantha auf einem kleinen Regal neben dem Wohnzimmertisch aufgebaut hatte. »Es ist wirklich wichtig für mich«, fuhr sie fort und mischte sich einen Maracuja-Kirschsaft, der sich zu einer unappetitlich aussehenden Masse entwickelte. »Weißt du, Kollegen von mir schwören darauf, dass Menschen mit ähnlichen Schicksalen sich manchmal besser helfen können als wir außenstehende Psychologen.«
Mit ähnlichen Schicksalen? Du hast ja keine Ahnung! »Das glaube ich gerne«, konnte Tanya sich einen bissigen Kommentar nicht verkneifen. »Und warum studiert ihr dann so lange?«
Sara ging nicht darauf ein, setzte stattdessen ihren Hundebettelblick auf und saß einfach abwartend da. Tanya seufzte schwer. »Na gut«, gab sie schließlich nach und fand sich gleich darauf in der festen Umarmung ihrer besten Freundin wieder.
Samstag, 13. Juni, 10.30 Uhr Erst während der Fahrt rückte Sara damit heraus, dass die Patientin, um die es ging, nicht zu ihr in die Praxis kam, sondern derzeit stationär im Krankenhaus lag.
Du kleines Miststück, schimpfte Tanya in Gedanken. Du wusstest genau, dass ich niemals zugestimmt hätte, wenn ich das auch nur geahnt hätte! Tanya hasste Krankenhäuser. Und sie hasste es, sich allzu lange an öffentlichen Orten aufzuhalten. Aber vor allen Dingen hasste sie im Augenblick Sara.
Trotz ihrer Gefühle fügte Tanya sich stumm in ihr Schicksal, denn diese Fähigkeit beherrschte sie mittlerweile bis zur Perfektion, und stolperte hinter Sara in den Aufzug des Willis-Knighton-South-Hospitals. Miss Psychologin Sara Parker drückte auf den Knopf neben dem Schild >Center for Women's Health< und der Aufzug setzte sich in Bewegung. Tanya hasste auch Aufzüge. Eng und keine Fluchtmöglichkeiten. Doch zum Glück war dies ein modernes, schnelles Modell und so dauerte es keine fünf Sekunden bis die Türen mit einem Pling wieder aufgingen.
Die beiden Frauen stiegen aus, wandten sich Richtung Rezeptionspult und meldeten sich an. Das hieß, Sara meldete sie an, während Tanya wortlos danebenstand und sich darüber ärgerte, dass ihr Name auf einem offiziellen Formular festgehalten und aufbewahrt wurde. Sie bedachte Sara mit einem bitterbösen Blick und fragte sich nicht zum ersten Mal, wie eine ausgebildete Psychologin mit den exzellentesten Abschlussnoten so unsensibel sein konnte. Kommentarlos folgte Tanya ihr um zwei weitere Ecken und blieb dann wie angewurzelt stehen, als sie der Anwesenheit des Polizisten gewahr wurde, der neben einer Zimmertür postiert war und gelangweilt in einem Automagazin blätterte.
Mensch Sara, was soll der Quatsch? Wenn Tanya eines noch mehr hasste als Öffentlichkeit, Psychologinnen, Krankenhäuser und Aufzüge, dann war es die Polizei. Nicht die Polizisten an sich, die einfachen Männer, denen sie jeden Tag im Diner hinterher wischte, nein - die Institution Polizei, die sich in alle Angelegenheiten einmischte, die sie nichts angingen, während sie sich stattdessen lieber um die wirklich wichtigen Fälle kümmern sollte, die sie nicht einmal bemerken würde, wenn sie vor ihrer Nase geschahen.
»Was ist los?«, fragte Sara mit Unschuldsmiene. Tanya biss sich auf die Zunge, um keine biestige Antwort zu geben und hob stattdessen ebenso unschuldig fragend die Augenbrauen. Sara zuckte die Achseln, wechselte ein paar freundliche Worte mit dem Polizisten und hielt Tanya charmant die Tür auf. Tanya ihrerseits nickte dem Mann in Uniform im Vorbeigehen kurz zu, senkte dabei aber ihren Blick und huschte durch die Tür.
»Du hast von Schlafstörungen gesprochen, nicht von einer Staatsaffäre«, zischte sie ihrer Freundin zu.
Das Zimmer war wie jedes Krankenhauszimmer steril weiß gestrichen und karg eingerichtet. Tanya fiel auf, dass keinerlei private Dinge im Raum vorzufinden waren. Nicht einmal Blumen hatte die Patientin bekommen. Langsam und beinahe ehrfürchtig schritt sie näher an das Bett heran, in dem eine junge Frau mit starr geradeaus gerichtetem Blick lag. Ihre braunen Locken klebten verschwitzt an ihrem Kopf, aber das war bei der Hitze hier drinnen auch kein Wunder. Die Frau war vollkommen reglos. Mein Gott, Sara. Wo hast du mich da bloß hineingezogen?
Tanya ging noch zwei weitere Schritte, bis sie im Blickfeld der Frau stand. Sie wirkte müde, ausgemergelt und apathisch. Drei Zustände, die Tanya nur allzu vertraut waren. Ihre Blicke fanden sich spontan und Tanya spürte einen Stich, als die Pupillen der jungen Frau sich für einen kurzen Moment weiteten und jede der beiden Frauen zu verstehen schien, was der anderen widerfahren war. Tanyas Herz raste. Oh mein Gott! Unwillkürlich suchten ihre Augen die linke Hand der Patientin. Ihr fehlte der Zeigefinger. Tanya überkam fürchterliche Übelkeit und ein so starkes Schwindelgefühl, dass sie sich an der Bettkante abstützen musste.
Im selben Augenblick wurden Stimmen vom Flur her laut und dann sprang die Tür auf und gab den Blick auf zwei weitere Polizisten frei. Sie trugen keine Uniform im eigentlichen Sinne, doch Tanya erkannte ihre Gesichter. Wie schlimm kann der Tag noch werden?
Detective Glover und Detective Williams schienen ebenfalls überrascht und leicht verwirrt über Tanyas Anwesenheit. Doch in ihrer Professionalität hatten sie sich schnell wieder im Griff, begrüßten Sara mit Handschlag und tauschten belanglose Freundlichkeiten aus.
Tanyas Magen revoltierte und sie war heilfroh, dass sie ihren üblichen Bagel, den Herbie ihr immer zum Abendessen mitgab, wie so oft ihrem Nachbarn Mr. Sterling geschenkt hatte. Dann wandte Detective Glover sich ihr plötzlich mit forschendem Blick zu und streckte die Hand aus. Nach kurzem Zögern ergriff Tanya sie, wagte jedoch nicht, ihm in die Augen zu sehen, während er sie begrüßte.
»Detective Glover«, stellte er sich vor und wies dann auf seinen farbigen Kollegen. »Mein Partner, Detective Williams.«
Williams nickte freundlich, aber distanziert.
Tanya wusste, was von ihr erwartet wurde, doch die Situation war äußerst verzwickt. Die Kunden von Herbie K's hielten sie für stumm und das war auch gut so und sollte so bleiben. Sara jedoch würde sie für extrem unfreundlich halten, wenn sie ihrerseits nicht ihren Namen nannte. Verdammt, ich will hier weg. Bitte, werd einfach unsichtbar oder versinke im Boden! Aber natürlich geschah nichts davon und Glover wartete noch immer auf eine Antwort.
»Tanya Alexandrova«, übernahm schließlich Sara das Wort und entschärfte damit die peinlich angespannte Situation. »Meine Freundin ist ein wenig schüchtern«, fügte sie erklärend und entschuldigend hinzu.
»Schüchtern?«, wiederholte Glover. »Ich dachte stumm.«
Bitte Boden, tu dich auf und verschling mich! Letzte Chance!
»Stumm?«, wunderte sich Sara nun und suchte mit verdattertem Gesichtsausdruck eine Erklärung in Tanyas Gesicht.
»Ich . muss hier raus«, brachte diese stammelnd hervor und setzte zum Gehen an, doch Sara hielt sie auf.
»Du kannst jetzt nicht verduften«, sagte sie. »Wissen Sie, Detectives, bevor Sie auf den Plan getreten sind und hier Verwirrung stifteten, wäre Tanya beinahe zu der Patientin durchgedrungen. Die Frau zeigte zum ersten Mal Reaktionen. Ich bin sicher, wenn sie noch ein wenig Zeit mit ihr verbrächte .«
»Nein«, unterbrach Tanya sie entschlossen. »Ich kann nicht, Sara. Ich verschwinde besser. Ihr habt hier zu tun.«
»Das ist wirklich interessant, Ms. Alexandrova«, mischte Glover sich ein. Seine Stimme klang langsam und...