Kapitel 1
Weiße Wände. Nichts als weiße Wände mit gerissener, abgeplatzter Farbe und schäbigen Deckenplatten, auf denen rostfarbene Flecken zu sehen waren. Ich blinzelte mehrmals, hob den Kopf, bewegte ihn hin und her, vor und zurück. Der Knoten in meiner Schulter hatte die Größe des Mount Everest und befand sich dort seit fast einer Woche.
»Es tut mir leid, Liebes. Es geht ihm immer noch nicht besser.«
»Mia, wir sind für Sie da.«
»Wir beten weiter für ein Wunder.«
»Die Chancen Ihres Vaters sind sehr gering, fürchte ich.«
»Benachrichtigen Sie bitte den Rest der Familie.«
»Sprechen Sie mit ihm. Verabschieden Sie sich.«
Gesprächsfetzen schwirrten unablässig durch meinen Kopf, Bruchstücke von Beileidsbekundungen und von den Antworten des Arztes, und wiederholten sich wie eine altmodische Schallplatte. Ich hob den Arm mit der Nadel immer wieder an, setzte ihn ab und wartete darauf, dass die Melodie von vorn begann.
Mit übermüdeten Augen starrte ich den einzigen Mann an, der mich immer geliebt hatte. Von meinem ersten Atemzug an, als er mir Baseballspielen beigebracht und mich in meiner Schulzeit begleitet hatte, die ganze Zeit über, bis meine Mom uns verließ und er zusammengebrochen war. Selbst als sein Gesicht schon knallrot und seine Sprache lallend geworden war und seine Augen stumpf und grau blickten, liebte er mich noch, und ich verließ mich darauf, dass diese Liebe uns zusammenhalten würde. Und meistens tat sie das auch.
Ich saß neben seinem Bett, hielt seine Hand und hoffte, dass mein warmer Händedruck bis in sein Bewusstsein dringen und ihn auffordern würde, weiterzukämpfen. Für seine Töchter zu kämpfen. Für mich, sein Fleisch und Blut, zu kämpfen. Die letzten fünfzehn Jahre hatte ich damit verbracht, für ihn zu kämpfen, für Maddy, und jetzt war er an der Reihe. Da zu sein. Hart daran zu arbeiten, zu uns zurückzukehren. Wir mochten nichts Besonderes sein, lediglich zwei junge Frauen auf der Suche nach dem richtigen Weg, aber wir gehörten zu ihm, und tief in meinem Inneren musste ich daran glauben, dass wir den Kampf wert waren, denn sonst würden wir ihn verlieren . für immer.
Die neue Schwester der Morgenschicht kam leichtfüßig ins Zimmer. Sie machte kaum ein Geräusch, als sie Pops' Werte überprüfte und etwas auf seine Karteikarte schrieb, ehe sie mir ein mitfühlendes Lächeln zuwarf. Etwas anderes hatte ich die letzten Tage über kaum erhalten. Mitleid, traurige Blicke, vorsichtige Beileidsbekundungen. Ich sah zu Maddy hinüber, die sich in Embryohaltung schlafend auf dem kleinen Sofa zusammengerollt hatte. Genau wie ich hatte sie sich geweigert, für mehr als eine hastige Dusche und frische Klamotten das Zimmer zu verlassen. Wenn unser Dad seinen letzten Atemzug tat, wollten wir bei ihm sein.
Wir hatten noch immer nicht über das gesprochen, was unübersehbar zwischen uns im Raum stand. Die Sache, die so schwer auf meiner Brust lastete, dass sie mir bestimmt schon ein paar Rippen gebrochen hatte. Ich konnte kaum atmen, weil ich wusste, wie sehr Maddy litt. Die Neuigkeit, dass Jackson Cunningham ihr richtiger Vater war, war ein Schlag gewesen, der uns beide heftig erwischt hatte. Es fühlte sich an, als wären wir mit den Köpfen zusammengestoßen. Seit wir es wussten, schlichen wir umeinander herum und drifteten immer weiter auseinander. Ich hielt es kaum aus. Ich brauchte Maddy jetzt, mehr als je zuvor, und doch schien sie mir zu entgleiten, schien sich nicht bewusst darüber zu sein, was sie mir bedeutete. Das war schlimm, aber noch schlimmer war, dass unsere Mutter uns so etwas angetan hatte.
Das einzig Gute an der Sache war Maxwell. Er hatte uns mit seinem Privatjet hierhergeschickt und rief jeden Tag an. Er hatte uns für den nächsten Monat sogar ein Hotel in Gehweite von der Rehaklinik besorgt. Unser neuer Bruder hatte an alles gedacht, und Geld spielte keine Rolle. Plötzlich bekamen wir die besten Ärzte - Scharen von Leuten tauchten auf, um nach unserem Vater zu sehen und gemeinsam über seinen Werten zu brüten. Sie überprüften nicht nur seinen neurologischen Zustand, sondern suchten nach weiteren Hinweisen, um sicherzugehen, dass er nicht hirntot war. Sie überlegten, ob er in der Lage sein würde, die körperlichen Auswirkungen der außer Kontrolle geratenen Virusinfektion zu überstehen, bei der er nicht nur einen, sondern gleich zwei Herzstillstände erlitten hatte. Schuld daran waren die allergischen Anfälle, mit denen er auf die Medikation reagiert hatte.
Einige der Ärzte fürchteten das Schlimmste. Bevor die Spezialisten eintrafen, hatte die Rehaklinik unseren Vater bereits abgeschrieben. Man sagte uns, es gäbe nichts mehr, was wir für ihn tun konnten, und empfahl uns, die lebenserhaltenden Maßnahmen einstellen zu lassen.
Lebenserhaltend.
Die Geräte abschalten, die ihn am Leben hielten. Ich konnte das nicht. Wäre ich in einer ähnlichen Lage, würde Pops mich aufgeben, die Geräte anhalten, die mich mit dem lebensnotwendigen Sauerstoff versorgten? Eher würde die Hölle zufrieren. Dieser Mann würde über mir stehen, mein Herz massieren und mich nonstop beatmen, wenn er mich damit auch nur eine Minute länger am Leben halten könnte. Ich musste das Gleiche auch für ihn tun.
»Guten Morgen, Ms Saunders«, sagte Dr. McHottie, als er Pops' Klemmbrett vom Fußende des Bettes nahm und einen Blick darauf warf. Eine Zeitlang machte er sich Notizen, überprüfte etwas, blätterte vor und zurück und wiederholte das Ganze.
Ich stand auf, reckte die Arme über den Kopf und dehnte mich etwas, in dem Versuch, den ständigen Rückenschmerz zu bekämpfen, der sich nach einer Woche auf einem Plastikstuhl eingestellt hatte. Mein Rücken protestierte, und ich stöhnte auf. Dr. McHottie schüttelte den Kopf und warf mir einen Blick über den Rand seiner schwarzen Hornbrille zu. Seine dunklen lockigen Haare waren kurz geschnitten und glänzten. Sie wirkten feucht, und dem frischen Irish-Spring-Duft nach zu urteilen, kam er direkt aus der Dusche. Der wunderbar seifige Geruch erinnerte mich daran, dass ich langsam zu miefen begann. Ich hatte das Krankenhaus schon zwei Tage lang nicht verlassen. Kein Deo der Welt konnte den Gestank überdecken, der unter meinen Armen vor sich hin gärte.
»Morgen, Doc. Wie lautet die Prognose? Endlich besser?« Ich wollte nicht allzu hoffnungsfroh klingen, denn die letzte Woche über hatte er fast jeden Tag das Gesicht verzogen und einfach den Kopf geschüttelt. Heute jedoch war etwas anders. Ich wusste auf einmal, dass das Blatt sich wendete.
Der schicke, junge Doktor trat auf meine Seite des Bettes und legte mir eine Hand auf die Schulter. Er drückte sie, und ich versuchte, mir ein Seufzen zu verkneifen. Der sanfte Druck meiner verspannten Schulter tat unglaublich gut. Ich war so angespannt, dass auch die kleinste Berührung sich wie ein weltbewegendes Ereignis anfühlte. »Den Aufzeichnungen zufolge hat die Lunge Ihres Vaters im Laufe der Nacht begonnen, gegen die Geräte anzuarbeiten. Das könnte ein positives Anzeichen dafür sein, dass er wieder in der Lage sein könnte, selbständig zu atmen, aber ich möchte den Tag nicht vor dem Abend loben.«
Mir fehlten die Worte, um meine Dankbarkeit für diesen leisen Hoffnungsschimmer auszudrücken. Ich warf mich an seine Brust und schlang die Arme um ihn. Ich legte alles in diese Umarmung, drückte ihn, als hinge mein Leben davon ab. Es schien ihn nicht zu stören. Er erwiderte die Umarmung sogar. Er legte die Arme um mich und zog mich an sich. Eine Weile standen wir da, eine am Boden zerstörte Frau und ein Fachmann der Medizin, ein Heiler. Ich schmiegte mich an diesen Mann und betete zu Gott, er möge ihm die Fähigkeit geben, meinen Dad zu retten, ob er es verdiente oder nicht. Ich musste einfach daran glauben, dass jeder eine zweite Chance bekam. Wenn er es überlebte, würde Pops mir sicher zustimmen. Vielleicht war dies endlich der nötige Weckruf, damit er begriff, dass sein Leben tatsächlich lebenswert war.
Ein Handyklingeln sprengte die Euphorie, meinen einzigen positiven Moment in nahezu der gesamten Woche. Ich fuhr zusammen und blickte in die himmelblauen Augen von Dr. McHottie. »Entschuldigung, es ist einfach etwas viel .«, fing ich an, aber er fiel mir ins Wort.
»Mia, entschuldigen Sie sich nie dafür, eine Umarmung zu brauchen. Sie sind bestimmt eine starke junge Frau, aber jeder braucht mal eine Schulter zum Anlehnen. Wir beten weiter für ein Wunder. Ich komme in ein paar Stunden wieder und sehe nach ihm.«
Ich nickte und drehte mich um. Dort saß Maddy mit ihrem Handy am Ohr.
»Äh, ja, sie ist hier, Tantchen.« Maddy hielt das Handy und strich sich gleichzeitig die vom Schlaf verwuschelten blonden Haare aus dem Gesicht. Sie sah genau so aus, wie ich mich fühlte, aber wenn es einen Spiegel in der Nähe gegeben hätte, hätte mir vermutlich eher ein Zombie aus Die Nacht der lebenden Toten entgegengeblickt.
Ich stieß einen langen Atemzug aus und hob das Handy ans Ohr. »Hallo?«
»Was zum Teufel ist los? Du gehst nichts ans Telefon, bist nicht am Flughafen aufgetaucht und erst recht nicht in Tucson, Arizona, wo Kunde Nummer neun dich erwartet hat!«
Ich versuchte, eine Antwort zu formulieren, aber ich brachte nichts heraus. Ich sollte mich entschuldigen, irgendwas sagen, aber es war mir einfach egal. »Millie .«
»Komm mir nicht mit Millie. Du steckst bis zum Hals in der Tinte, junge Dame! Wenn du das Kleingedruckte in deinem Vertrag gelesen hättest, wüsstest du, dass du nicht nur die...