Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Er hatte es geschafft. Er konnte sie hören. Ihn trieb längst nicht mehr nur das Stakkato seiner Taps oder die Musiker, denen er mit seinen Steppeisen Feuer unterm Hintern gemacht hatte, bis sie sich endlich zu einem Versuch zusammenrotteten, sich zu rächen. Die spielerische Leichtigkeit, mit der seine Schritte und Sprünge ihr immer schnelleres Tempo konterten, hatte den Zuschauern die Angst genommen, das Klatschen könne seinen Rhythmus stören. Seinen Rhythmus störte gar nichts. In diesem Stadium nicht mehr. Und das Bühnenbild war nur noch sein Spielzeug. Er lief eine Wand hinauf, ohne sichtbar Anlauf genommen zu haben - ein schneller Absprung, eine Pirouette, ein exakt berechneter Tritt, und sie kippte weg in die Kulissen. Deko ist Deko, ein Tänzer ist ein Tänzer. Der Klavierspieler quittierte das mit einem rasenden Lauf, der Gitarrist hielt mit und legte nach, aber das Publikum konnten sie nicht mehr übertönen. Jetzt kamen die Bravo-Rufe. Jetzt gehörten sie ihm ganz. Alle. Er fühlte, wie jeder Sprung sie fast mit hochriss, gleich war es so weit - jetzt: So leicht, dass er nicht einmal als Aufforderung die Arme heben musste, erhoben sie sich von ihren Sitzen, und sie blieben stehen. Er musste nicht hinschauen, um das zu wissen, er hätte sie auch gar nicht sehen können. Hinter dem Gleißen der Scheinwerfer, die auf ihn gerichtet waren, blieb vom Theatersaal nur Schwärze.
Und dann, endlich, war er zu weit weg, um noch jemanden zu sehen. Er war dort, wohin er gewollt hatte, an jenem Ort, den er nicht beschreiben konnte und für den er keinen Namen fand.
Er brauchte auch keinen.
Nicht einmal er selbst brauchte noch einen Namen.
«Sabinchen .», sagte Otto de Vries leise, als er die Einträge in der Patientenakte auf dem Computerbildschirm las. «Sabine, Sabine, was mach ich mit dir .»
Er stand auf, ging zu seinem Arbeitstisch hinüber, ließ sich auf dem Hocker nieder und bückte sich, um ein lichtechtes Fläschchen aus einer Schublade zu holen. «Nicht das Übliche jedenfalls. Otto, unterschätz das nicht, das Mädchen hat ein echtes Problem. Nicht kleckern, sondern klotzen. Amazonit!» Seine Hand bewegte sich wie stimmgesteuert in die richtige Richtung, und er goss aus der Flasche mit der Essenz vorsichtig eine kleine Menge in das braune Fläschchen. «Und auch das reicht mir nicht. Ich will einen Verstärker. Aber den besten. Diamant.» Damit wurde das Medikament teurer, als er der Patientin gesagt hatte, aber er würde nicht mehr Geld verlangen. Die Diamantessenz erwähnen, ja. «Testen Sie es aus, es ist ein Versuch», sagte er, wie zur Probe. «Wenn Sie merken, dass es Ihnen gut tut, dann können wir immer noch drüber sprechen. Es ist nicht so kostspielig, wie Sie vielleicht denken.»
«Mit wem rede ich?», fragte er und lächelte. Er tropfte die Diamantessenz in das Fläschchen. «Harter Stoff. Aber die kann das ganz sicher gebrauchen.»
Ob er seinerseits solche Patientinnen gebrauchen konnte, ließ sich nicht so einfach beanworten. Sie war süchtig nach Hilfe, sonst nichts. Er rechnete sich keine große Chance aus, sie davon zu heilen. Sie war erschienen, als er sich vor einem Jahr als Heilpraktiker hier niedergelassen hatte, und wenn es nach ihr ging, würde sie seine Patientin bleiben, bis er in Rente ging. Er konnte tun, was ihr Arzt auch tat: ihr etwas Unschädliches geben und das Geld einstreichen. Aber in letzter Zeit überlegte er immer öfter, ob er sie nicht lieber einfach wegschicken sollte.
«Ja», sagte er. «Klar. Dann hättest du aber nicht ausgerechnet die Diamantessenz nehmen sollen.»
Falls die tatsächlich helfen sollte, würde die junge Frau ohnehin wegbleiben. Aber diesmal hatte er so seine Zweifel. Eine Weile schwieg er, während er das Fläschchen bewegte, um die Essenzen zu vermischen.
«Okay», sagte er schließlich. «Ich gebe ihr dieses Zeug und sag ihr, sie soll nicht wiederkommen.»
Er stöpselte eine Tropfvorrichtung auf das Fläschchen und schraubte es zu. Dann nahm er einen Stift aus einer Schublade, aber seine Hand zögerte über dem Blatt mit den rot umrandeten Aufklebern.
«Wie kriegt man einen Abschiedsbrief auf ein Etikett?»
Er sah aus dem Fenster, schaute auf die Lichter des Weihnachtsmarkts vor dem Schloss hinunter. Morgen war der erste Advent. Otto de Vries mochte die kleinen Holzbuden und das alte Kinderkarussell. Er freute sich darauf, seine Arbeitstage wieder mit einem Glas Glühwein an frischer Luft zu beenden, wie vor einem Jahr, als er sich hier oben die Praxis und seine Wohnung eingerichtet hatte. Bevor der neue Herd geliefert und angeschlossen worden war, hatte er sich praktisch auf dem Weihnachtsmarkt ernährt.
Er betrachtete das Fläschchen und das immer noch unbeschriftete Etikett und fragte sich, ob Sabine auch auf den Weihnachtsmarkt ging. Wahrscheinlich - sie hatte ein kleines Kind. Aber ob sie sich je dort amüsiert hatte? Sie war so einsam.
Er hatte nichts gegen private Kontakte mit Patientinnen, wenn sie ihn nur aufgesucht hatten, um sich einen herausgesprungenen Wirbel wieder einrenken zu lassen und ansonsten aussahen, als könnten sie auch allein mit dem Leben fertig werden. Aber jemand so Bedürftiges wie Sabine gehörte für ihn in die Kategorie . Obwohl Frauen wie sie leicht zu haben waren. Er hätte darauf gewettet, dass sie mit irgendeinem ihrer Arbeitskollegen schlief.
Aber nicht mit ihm. Er wusste, dass ihre Bedürftigkeit etwas gnadenlos Egoistisches hatte. Frauen in ihrem Zustand kreisten um sich selbst. Und diese Sorte konnte er nicht mal beruflich gut ertragen.
Durfte er das überhaupt, als Heiler - sich einfach einreihen in die Schlange derer, von denen sie allein gelassen worden war?
Sie klatschten und stampften und riefen im Takt seinen Namen. Sein Lächeln zitterte etwas, als er noch einmal allein vor den Vorhang trat. Er verbeugte sich tief, um es zu verbergen. Ihnen nicht zu zeigen, wie rasch sein Atem nach dem Furioso seines Abschlusssolos ging, wie heftig sein Herz schlug, gehörte zur Show.
Er sah sie immer noch nicht hinter dem grellen Lichtvorhang der Scheinwerfer, aber das war gut so. Sie hatten bezahlt, um ihn zu sehen, nicht umgekehrt. Und er wollte gar nicht so genau wissen, wen er vor sich hatte.
Dennoch waren sie für ihn wichtiger als er für sie. Ihm bedeutete das viel, ein ganzer Theatersaal voller Menschen, die ihn anfeuerten. Sie brachten ihn dahin, wohin er zwar auch allein kommen konnte, aber doch nicht so leicht.
Er lächelte.
Er war wieder hier.
Er hatte wieder einen Namen.
Sein Lächeln war zurückhaltender geworden. John Percival breitete noch einmal die Arme aus, verneigte sich, und dann ging er ab.
Ein Mädchen, das hinter dem Vorhang bereitgestanden hatte, hetzte mit seinem Garderobenmantel hinter ihm her. Er warf ihn sich im Gehen um die Schultern, ohne sie auch nur anzusehen. Ein Bühnenarbeiter galoppierte hinterdrein. «Es tut mir Leid, wirklich, es .»
Er blieb nicht stehen. «Ich hab dir schon beim letzten Mal gesagt, ich kann fühlen, wie der Aufbau auf dem Untergrund rutscht. Und dich hat's einen Dreck interessiert, wie man sieht: Ein Tritt, und die Wand kippt weg. Aber eins sag ich dir: Wenn das Scheißding unter mir zusammenkracht und ich verstauch mir dabei auch nur den kleinen Finger, dann brech ich dir beide Arme, da kannst du Gift drauf nehmen.»
«Du darfst eben nicht ganz so viel Schwung .»
«Ich darf WAS??!!» Eine halbe Pirouette, und die Nase des Bühnenarbeiters war einen Zentimeter vor seiner.
Der Mann wurde blass. «Wir werden das Gestell noch mal neu fixieren.» Seine Stimme war klein und heiser.
«Johannes .» Eine andere kleine Stimme, neben ihm.
John war nur sein Bühnenname. Kein Mensch nannte ihn so. Nicht mehr. Früher schon, aber da war er noch kein Tänzer.
Er nahm dem Mädchen das Wasserglas aus der Hand und trank, während er mit langen Schritten auf seine Garderobe zusteuerte. Mitten in ein anderes, kräftigeres «Johannes .!» hinein kickte er mit dem Absatz die Tür hinter sich zu, aber sie öffnete sich wieder.
«Was.»
«Die Presse. Sie wollen ein Foto im Kostüm.»
«Zu spät. Raus.»
«Johannes. .»
«ES ZIEHT!!»
Die Tür klappte zu.
Er zog den schweren schwarzen Frotteemantel zu, verknotete den Gürtel, setzte sich auf den Hocker, sah sein Gesicht im Spiegel und musste grinsen. «Schmink dir mal schnell so Verschiedenes ab, mein Junge.» Johannes griff nach der Flasche mit dem zimmerwarmen Mineralwasser, schenkte das Glas wieder voll, trank es fast halb leer, schenkte noch einmal nach und zupfte ein Zellstofftuch aus der Box.
«Für .» hatte er in Schönschrift gemalt und ihren vollen Namen hinzugefügt. Das war wichtig: dass es für sie war. Nicht, was es war.
Otto de Vries brachte den Bergkristall, den er während des Arbeitens gern als Fokus für seine Konzentration dabeistehen hatte, in die Vitrine zurück. Seine Finger zögerten, wie sie es jedes Mal taten, und schwebten einen Moment über dem geschliffenen Karneol. Er nahm den Stein in die Hand und strich mit den Fingerspitzen über die Oberfläche, bevor er ihn zurücklegte.
Er liebte seine Edelsteine. Deshalb traute er ihnen Heilkraft zu, nicht wegen der chemischen Zusammensetzung, mit denen er ihre Wirksamkeit vielleicht auch hätte begründen können.
Schönheit war immer noch das beste Argument.
Er stellte das kleine Glasfläschchen in eine Schublade und trug die Rezeptur in den Computer ein. Er nutzte die ruhigen Nachmittage an den Wochenenden gern dafür, Salben,...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.