Allein mit dem Krallendämon
von Henry Cardell
Kanpur, Indien - 27. Juni 1857
Das Wasser war schmutzig und stank erbärmlich.
Für die einheimischen Hindus war der Ganges ein heiliger Fluss, doch für den britischen Corporal, der in diesem Moment in den brackigen Fluten um sein Leben kämpfte, hatte das Gewässer nicht den kleinsten Hauch von Herrlichkeit.
Er wusste, dass der Fluss den meisten Indern für die spirituelle Reinigung diente, um sich von ihren Sünden und von einem schlechten Karma zu befreien. Sie strebten sogar danach, an seinen Ufern zu sterben, damit man ihre Asche im Ganges verstreuen konnte.
Und er kannte auch die Legende, dass der Fluss die Personifizierung der Göttin Ganga sein sollte, deren Antlitz ihn auf Tempelreliefs im ganzen Land beeindruckt hatte.
Doch all dies spielte für ihn jetzt keine Rolle mehr, da dieser Fluss gerade mit aller Macht versuchte, sein Leben zu beenden ...
Die Lunge des jungen Soldaten brannte bereits, und sein Mund war mit schmierigem Wasser gefüllt. Gekrönt wurde die missliche Lage nur noch von der Gewehrkugel, die sich ihm vor wenigen Minuten von vorne in die linke Schulter gebohrt hatte und dort feststeckte.
Mit jeder Sekunde, die ihn die verfluchte Strömung länger unter die Wasseroberfläche drückte, stieg die Gefahr, dass er das Bewusstsein verlor. Dann würde er mit Sicherheit ertrinken.
Er versuchte, trotz der in ihm aufsteigenden Panik die Ruhe zu bewahren. Er besann sich auf seine Militärausbildung und zwang sich, den Körper zu entspannen.
Reiß dich zusammen, Jacob! Konzentriere dich!
Diesen Gedanken hämmerte er sich immer und immer wieder ein, während er die Schmerzen in Brust und Schulter zu verdrängen versuchte.
Nach einigen Sekunden begann er, kontrollierter Wasser zu treten, und hoffte, dass ihn die Bewegung auch tatsächlich an die Oberfläche führte. Bei dem Sturz in die braungrüne Brühe des Ganges hatte bereits stockfinstere Nacht geherrscht. Eine Orientierung anhand der aufsteigenden Luftblasen war ihm daher nicht möglich, selbst wenn das ekelhafte Wasser vor seinen Augen klarer gewesen wäre.
Gib nicht auf, Jacob!, sprach er sich Mut zu. Du wirst hier nicht am Ende der Welt in einem dreckigen Fluss ersaufen! Denk an England und an deine Familie, die zu Hause auf dich wartet!
Das entkrampfte Verhalten (und vielleicht auch sein ganz und gar britischer Gott) halfen ihm schließlich, diese Gedanken umzusetzen.
Er ignorierte das Brennen und Beißen, dass an jedem Muskel seines Körpers zu zerren schien, und fasste neuen Mut.
Er knöpfte sich die bis zur letzten Faser mit Wasser vollgesogene Uniformjacke auf, deren Gewicht ihn trotz aller Kraftanstrengung stetig nach unten zog. Er schlüpfte umständlich aus den Ärmeln, und als er sich endlich von dem Kleidungsstück befreit hatte, ließ er die Jacke zum schlammigen Grund des Flusses sinken.
Dann beugte er sich nach vorne (ein bohrender Schmerz sorgte dafür, dass er beinahe die Besinnung verlor), und zog sich die schweren Lederstiefel von den Füssen. Dolch und Pistole hatte man ihm schon vor einigen Tagen abgenommen, wofür er in seinem Überlebenskampf jetzt dankbar war.
Ohne die schwere Last am Körper nahm er die Schwimmbewegungen wieder auf, die nun wesentlich leichter von der Hand gingen.
Als er schon rote Flecke hinter seinen Augenlidern sah, durchstieß der britische Unteroffizier die Oberfläche des Flusses!
Prustend spie er die brackige Brühe aus und sog gierig die schwüle Nachtluft ein. Sie schmeckte so köstlich, als wäre sie tatsächlich ein kostbarer Nektar, dargereicht von irgendeiner indischen Gottheit. Möglicherweise von Ganga persönlich.
Aus den Augenwinkeln heraus erkannte er für den Bruchteil einer Sekunde, bevor ihn sein eigenes Gewicht wieder kurz unter Wasser drückte, einen schwarzen Streifen. Er hob sich nur wenig von den dunklen Fluten des Ganges ab, sodass die Möglichkeit einer Täuschung recht groß war.
Trotzdem hielt der Soldat namens Jacob darauf zu und hoffte inständig, dass es sich dabei um das Ufer des Flusses handelte.
Eine ewig scheinende Zeitspanne lang versuchte er, so gut es ihm mit der verletzten Schulter möglich war, das Ufer zu erreichen. Sein Herz machte einen Sprung, als er mit den Händen nach einem letzten, kräftezehrenden Schwimmzug raschelndes Schilf berührte. Er krallte sich daran fest und zog sich mit einer übermenschlichen Anstrengung an das flache, matschige Ufer.
In der linken Schulter explodierte ein unvorstellbarer Schmerz, während sich Jacob Yard für Yard durch die glitschigen Pflanzen zog. Mit den nackten Füßen, die im feuchten Sand ständig wegzurutschen drohten, unterstützte er die Bewegung.
Auf diese Weise schaffte er es nach einer weiteren gefühlten Ewigkeit, den dicht bewachsenen Uferstreifen endlich hinter sich zu lassen.
Der Boden unter seinem Körper war jetzt rau, fest und vor allem trocken.
Jacob rollte sich keuchend auf den Rücken. Das Brennen in der angeschossenen Schulter wurde sofort ein wenig erträglicher.
In dieser Position blieb er liegen, lauschte seinem Puls in den Ohren, der sich langsam beruhigte, und ließ die letzten Tage, die ihn Schritt für Schritt in diese missliche Lage geführt hatten, noch einmal im Geiste Revue passieren.
Am meisten schenkte er den Vorkommnissen Beachtung, kurz bevor ihn der Fluss verschlungen hatte.
Es war nichts anderes als ein Massaker gewesen!
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Seit drei Monaten war er in der Garnisonsstadt Kanpur am westlichen Gangesufer stationiert. Zusammen mit dreihundert anderen britischen Soldaten seines Infanterieregiments und zehnmal so vielen indischen Männern hatte er dort hauptsächlich der Langeweile gefrönt. Der Alltag war bestimmt von regelmäßigen Übungen, Waffenreinigen und endlosen Kartenspielen.
Viele Kameraden hatten das Lagerleben als langweilig bezeichnet, und womöglich hatten sie damit recht. Jacob, hingegen kam dieses relativ entspannte Dasein äußerst gelegen. Er war mehr als zufrieden, die endlos scheinenden Stunden des Tages mit der Aufgabe zu verbringen, das Leben der Einheimischen zu beobachten.
Doch eines Tages wendete sich das Blatt. Es kam zu einem Aufstand einiger indischer Rebellen gegen die Kolonialherrschaft.
Anfang Mai tauchten die ersten Gerüchte auf, die sich bedauerlicherweise rasch bestätigten, dass es in Merath und Delhi zu einer Rebellion hinduistischer und muslimischer Soldaten gegen die britischen Befehlshaber gekommen war. Innerhalb weniger Tage hatten sich die Aufständischen auf einem blutigen Weg quer durch Nordindien bis nach Kanpur durchgeschlagen und das Militärlager am Rand der kleinen Stadt angegriffen.
Generalmajor Wheeler, Kommandeur der Garnison, hatte die Entschlossenheit und Skrupellosigkeit der Rebellen unterschätzt. Vor wenigen Tagen war er so töricht gewesen, ein Sechstel der in Kanpur stationierten Soldaten zur Unterstützung nach Delhi zu entsenden, die jetzt zur Verteidigung des Lagers fehlten. Zusätzlich hatte er es in der Vergangenheit versäumt, genügend Nahrungsmittel einzulagern, um eine Einkesselung über einen längeren Zeitraum hinweg durchstehen zu können, zumal sich beim Anrücken der Rebellen eine Unmenge indischer Zivilisten, darunter viele Frauen und Kinder, schutzsuchend von der Stadt in die Garnison zurückzogen.
Damit war sowohl ihr als auch das Schicksal der britischen Soldaten besiegelt.
Wochenlang wurde der Stützpunkt von den indischen Rebellen belagert, die nicht mehr tun mussten, als abzuwarten. Unter der brütenden Sonne, dem andauernden Artilleriebeschuss und dem allgegenwärtigen Hunger wurden zuerst die Frauen in der Garnison wahnsinnig. Qualvoll starben sie zusammen mit ihren Kindern, den anderen Zivilisten und den ersten Soldaten.
Im Lager war kein Platz, um so viele Leichen beerdigen zu können, weshalb man sich damit behalf, die toten Körper in die Brunnenschächte fallen zu lassen. Es dauerte nicht lange, und sie waren bis zum Rand mit Leichen gefüllt.
Am Ende blieb Generalmajor Wheeler nichts anderes übrig, als die Kapitulationsbedingungen seines Kontrahenten auf Rebellenseite, einem Brahmanen namens Nana Sahib, anzunehmen. Der Inder versprach dem kümmerlichen Rest der britischen Truppen und den überlebenden Zivilisten freien Abzug, auf dass sie nie wieder zurückkehrten. Stattfinden sollte dieser geordnete Abzug über bereitgestellte Boote, die am kleinen Flusshafen der Stadt Kanpur, genannt Sati Chowra, auf sie warteten.
Jacob war erleichtert gewesen, als er davon hörte. Gedemütigt, ja, aber erleichtert und vor allem am Leben. Endlich konnte er diesen albtraumhaften Ort verlassen, an dem nur Tod und Verderben hausten. Auch wenn er sich sicher war, dass ihn die schrecklichen Vorfälle der letzten Wochen bis an sein Lebensende verfolgen würden.
Müde und erschöpft war er also vor einigen Stunden zusammen mit seinen restlichen, ausgehungerten Kameraden des Infanterieregiments auf den kurzen Fußweg zum Hafen aufgebrochen.
Wenige Frauen, die die Belagerung der Garnison überlebt hatten, begleiteten die traurige Karawane zusammen mit ihren weinenden Kindern. Auch sie wollten...