Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
In der Stadt der Klagen
Die ausländischen Straßenhändler auf der Piazza Santa Maria Novella legten bei ihrer Arbeit eine Überheblichkeit an den Tag, als hätten sie das Handeln erfunden.
»Wofür halten die sich, diese Marokkaner, hier wurde schon zu Zeiten von Vasari Handel betrieben, der hat sogar dafür extra den Vasari-Korridor gebaut«, echauffierte sich Camilla.
»Was für Idioten, einige sind allerdings Albaner, falls du’s nicht bemerkt haben solltest«, stellte Giulia richtig.
Damit gingen sie zur Piazza Santo Spirito, von der sie viel Gutes gehört hatten.
Auf den Stufen der Kirche stehend beobachteten die beiden tadellos aussehenden Damen von oben herab das Treiben.
Die Neuartigkeit der großen, weiten Welt elektrisierte und erschreckte sie zugleich. Welches der beiden Gefühle überwog, wussten sie selbst nicht so genau.
Betrachtete man Florenz mit nüchternem Blick, hatte sich die Stadt vollkommen verändert: Banken und Schuhgeschäfte hatten die historischen Bauwerke ausgeweidet, Erinnerungen verhöhnt und die Zukunft verschandelt.
»Sie ist wie eine schöne Frau, deren Beine mit Plastik ausgestopft wurden«, sagte Camilla und rückte ihr Leopardenhütchen zurecht.
»Wenn du nach oben schaust, hat sie sich gar nicht so sehr verändert«, wandte Giulia ein.
»Wir auch nicht«, sagte Camilla sanft.
In Wirklichkeit hatten sie noch ziemlich lange hin und her überlegt, bevor sie den Entschluss fassten, tatsächlich das Haus zu verlassen.
»Jetzt, wo Piero tot ist, nützt uns das Telefon nichts mehr« hatte Giulia argumentiert.
»Vielleicht sollten wir Emiliano fragen«, hatte Camilla ohne Überzeugung eingeworfen.
»Bist du verrückt, meine Liebe«, hatte Giulia darauf schockiert entgegnet und provozierend gefragt: »Hast du etwa Angst rauszugehen?«
Im selben Augenblick war Camilla klargeworden, dass sie nicht direkt Angst empfand. Dieses Haus war ein Speicher der Erinnerungen. Camilla genügte es, die Laken über den Sofas anzuheben, um wieder so zu sein wie früher. Schön, strahlend, glücklich. Erinnerungen hatten eine solche Macht.
Sich davon zu entfernen war schmerzvoll.
Aber natürlich reichte das Haus allein nicht aus.
»Und wie sollen wir uns fortbewegen?«, hatte sie gefragt.
»Mit dem Taxi, wie sonst«, lautete Giulias Antwort.
Doch in Anbetracht ihrer Mission machte Camilla ein etwas ratloses Gesicht.
Sie standen vor der in luftige Höhen ragenden Kirche Santo Spirito.
»So schön hatte ich sie nicht in Erinnerung«, sagte Giulia. »Mit diesen beiden Wülsten sieht sie aus, als hebe sie gleich ab.«
Auf einmal waren sie froh, dass sie in die Stadt gegangen waren, und spürten, wie sie wieder aufblühten. Genauso wie diese Samtfußrüblinge, eine Pilzart, die nach längerer Zeit in gefrorenem Zustand in der Lage ist, wieder zu neuem Leben zu erwachen. Sie atmeten tief ein und aus. Wahrscheinlich übte dieser Ort eine gewisse Magie aus, die Gnade des Heiligen Geistes.
Dagegen sahen die Menschen eher hässlich aus. Um ehrlich zu sein, geradezu widerlich. Trotzdem konnte es durchaus amüsant sein, sie zu beobachten.
Zum Beispiel das junge Mädchen, das vorbeieilte und hektisch in ihr Handy sprach. Je hastiger sie sprach, umso schneller ging sie, während sie ungeheuer wichtig tat. Sie bewegte ihren leblosen Arsch, als sei er mit der Telecom verbunden.
An den Mauern standen so seltsame Sprüche wie: »Unsere Gehirne sind unverkäuflich.«
»Wer will sie schon kaufen«, merkte Giulia an.
»Eine Goldgrube«, sagte Camilla, was heißen sollte, dass ihr Gehirn ganz schön was wert war.
Die beiden Prinzessinnen betrachteten jeden, der vorbeikam, und man konnte nicht behaupten, dass ihre Blicke unbemerkt blieben. Sie sahen aus wie zwei glänzende Porzellanschnecken zwischen rauen Napfschnecken. Neugierig beäugten alle die beiden eleganten, sehr hübschen, dezent geschminkten Damen mit ihren wundersamen Hütchen, die kerzengerade auf den Stufen der Kirche standen. Hoffnungsvoll verfolgten die beiden das Kommen und Gehen der finsteren Gestalten im rötlichen Licht der Laternen.
Am Anfang waren sie ziemlich nervös gewesen. Doch das hatte sich nach kurzer Zeit gelegt.
Schließlich waren die zwei nicht weltfremd. Vielmehr hatten sie für eine Weile die Welt in die Fremde geschickt. Bevor sie sich zurückgezogen hatten, waren sie vielen Menschen begegnet. An Lebenserfahrung mangelte es ihnen nicht. Trotz der sich vollziehenden Neuerungen während ihrer Abwesenheit konnten sie nach wie vor beurteilen, mit wem sie es zu tun hatten.
Die Typen, die auf dem Platz herumstrichen, waren zwar nicht so überheblich wie die Schwarzen von der Piazza Santa Maria Novella, wirkten aber nicht besonders vertrauenswürdig.
»Was meinst du, meine Liebe?«, fragte Giulia.
»Die wären ideal, um uns Tee zu besorgen«, antwortete Camilla.
Die finster dreinblickenden Gestalten auf dem Platz waren in der Tat nicht besonders glaubwürdig. Sie bemühten sich zu sehr, bedrohlich zu wirken. Diese drogensüchtigen, schwulen Papasöhnchen würden sich, wenn sie groß waren und sichergestellt war, dass niemand ihre Gehirne gekauft hatte, ihrer Karriere widmen.
»Außerdem werden sie bestimmt von den Ordnungskräften gedeckt, sonst dürften sie sich doch niemals auf dem Platz aufhalten«, sagte Giulia, die stets konkreter dachte. »Aber wir in unserem Alter dürfen auf keinen Fall in Verlegenheit geraten.«
»Aber ich kann bald nicht mehr«, jammerte Camilla.
Bei etwas hellerem Licht hätte man die Erschöpfung in ihrem Gesicht gesehen. Sie brauchte unbedingt einen Zaubertrank: Stil ist Stil, aber auch die Chemie hat ihre Berechtigung.
»Sei still«, ermahnte sie Giulia mit einem Blick wie von Italiens größtem Feldherrn. Und beseelt rezitierte sie:
»Möglich, dass wir das vollkommene Glück der Welle erfahren werden.«
Mit diesem Vers bezog sie sich auf die Gefühle, die der Zaubertrank in Wallung brachte.
»Meine Welle, das bist du, meine Liebe«, sagte Camilla entzückt.
»Ich weiß«, lautete die Antwort. Giulia sprach mit fester Stimme wie stets, wenn sie ihre Freundin aus zwei Leben trösten wollte. Obwohl auch sie insgeheim ins Wanken geriet, schloss sie: »Um das vollkommene Glück der Welle zu erfahren, müssen wir weiterziehen, hier kommen wir auf keinen grünen Zweig.«
Sie hatten sich ein bisschen weit aus dem Fenster gelehnt. Allein die Angst, etwas falsch zu machen, hinderte sie daran, ins Geschäft zu kommen. Normalerweise hatte Piero immer an alles gedacht und alles bis vor die Haustür geliefert. Ein Kavalier der alten Schule.
»Lass es uns auf der Piazza Dalmazia versuchen«, hatte Giulia vorgeschlagen, »darüber erzählt man sich nur Gutes.« Aber auch da hatten sie nichts zu ihrer vollkommenen Zufriedenheit gefunden, alles nur Schall und Rauch, oder aber ihre alte, hemmende Angst hatte sich bemerkbar gemacht.
Und so liefen sie immer weiter und weiter, bis an den Stadtrand. Schritt für Schritt durch die Stadt der Klagen, vorbei an Mietskasernen, von deren Existenz sie nicht einmal gewusst hatten.
»Wer ist denn zu so etwas fähig?«, hatte Camilla erschüttert gefragt. »Hat es einen Krieg gegeben, und anstatt zu zerstören, haben die Feinde gebaut?«
»Es muss sich um eines dieser sehr bekannten, heruntergekommenen Stadtrandgebiete handeln«, mutmaßte Giulia, »ich hab schon mal irgendwo davon gehört.«
»Ich kann nicht mehr. Wir müssen unsere Suche abbrechen«, jammerte Camilla erneut.
»Wer suchet, der findet, und wer nicht sucht, hat verloren«, gab Giulia zum Besten.
»Woher hast du das denn?«, fragte Camilla erstaunt, war doch normalerweise sie diejenige, die solche Sprüche vom Stapel ließ.
»Typisches florentinisches Sprichwort«, äffte Giulia sie nach.
»Mag sein, nie gehört.«
Eine Stunde später standen sie kurz vor einer Lösung ihres Nachschubproblems.
Wie die Schleimspur einer riesigen Schnecke zog sich die Ausfallstraße scheinbar bis ans Ende der Welt.
»Weißt du, wohin sie führt?«, fragte Camilla.
»Hast du nicht das Schild gesehen?«
»Nun, ein junges Mädchen wie ich sieht leider nicht mehr so gut.«
Am Himmel leuchtete ein Vollmond wie zu Zeiten der Etrusker.
Sie warteten auf einen Jungen.
»Wie beim ersten Rendezvous«, bemerkte Giulia.
Wer weiß, wie sie auf die Idee gekommen waren, dies sei der richtige Mann. Weibliche Intuition wahrscheinlich.
»Der Typ passt wie die Faust aufs Auge«, hatte Camilla gesagt.
»Und kommt wie gerufen«, bemerkte Giulia.
Sie hielten ihn für einen guten Jungen, und obwohl sie sich eher außerhalb der Legalität bewegten, hatten sie sich nicht davor gescheut, ihm zu sagen, in welchem Teil des Zentrums sie wohnten, nicht zuletzt um den Klassenunterschied hervorzuheben, der zwischen ihnen und diesem heruntergekommenen Viertel bestand. Allerdings schenkte ihnen der Typ kein Gehör.
Der edle Wilde aus der Walachei schien nicht überrascht zu sein, dass zwei so hochrangige Damen, wie die Venus aus dem Meer einer anderen Ära entsteigend, an diesem Betontempel mit ihm ins Geschäft kommen wollten. Er sah auch nicht misstrauisch aus, sondern räumte lediglich ein, dass er nicht das habe, was sie wollten, er aber einen Kumpel hole, der aushelfen könne. Ein gewisser Marco, dem...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.