Rudolf Lindt
© Chocoladefabriken Lindt&Sprüngli AG
Vermutlich wollte Rudolf Lindt nur ein wenig Schokolade machen, um bei der «Jeunesse dorée» Eindruck zu schinden. Er war ein Dandy, ein hübscher und verwöhnter Sohn vornehmer Berner Bürger und alles andere als ein Kaufmann oder Techniker. Nie hätte der stockkonservative Jüngling sich träumen lassen, dass er mit einem revolutionären Verfahren die beste Schokolade der Welt herstellen würde. Die Konkurrenz lächelte, als er im Sommer 1879 im Berner Mattenquartier zwei brandbeschädigte Fabriken kaufte und dort eine alte Reibmaschine und einen Zylinderröster aufstellte, um nach alter Väter Sitte Kakaofett aus den Bohnen zu pressen, den Rest zu Pulver zu vermahlen und beides unter Beigabe von Zucker zu einer zähen Paste zu verrühren, die man schließlich unter großem Kraftaufwand in Tafelformen presste. Das Resultat war das damals übliche und nach heutigen Maßstäben ungenießbar - eine bittersüße, bröckelige Masse, die im Mund nicht schmolz, sondern sandig zerbröselte.
Die vornehmen Häuser Europas kannten die Kakaobohne, seit der spanische Eroberer Hernando Cortez sie 1528 aus Mexiko mitgebracht hatte. Während in Wien, Paris und Madrid schicke Schokoladestuben entstanden, in denen die feine Gesellschaft an ihrer heißen Schokolade nippte und dazu erlesenes Gebäck knabberte, sorgten in der Schweiz französische und italienische Wanderarbeiter für die Verbreitung des Kakaos. Die fliegenden Cioccolattieri und Chocolatiers zerstießen die Bohnen im Mörser, gaben groben braunen Zucker bei und formten das Gemisch zu einer Wurst, die sie in Scheiben schnitten und auf den Jahrmärkten für ziemlich teures Geld verkauften.
Dieses schlichte Handwerk verschwand, als François-Louis Cailler 1819 in Vevey eine erste, mit Wasserkraft betriebene Schokoladenfabrik gründete, um bessere und billigere Schokolade in großen Mengen herzustellen. 1826 folgte Philipp Suchard in Neuenburg, der die Industrialisierung weiter vorantrieb, dann Kohler 1830 in Lausanne, Sprüngli 1845 in Zürich und Klaus 1856 in Le Locle. Sie alle tüftelten und probten, verfeinerten den bittersüßen Geschmack mit Vanille, Honig oder Rosenwasser und gaben zusätzliches Kakaofett bei, damit die bröckelige Substanz sich zwischen den Zähnen nicht mehr wie trockene Haferflocken anfühlte. Die Erfolge waren beachtlich; Schweizer Schokolade wurde zarter, süßer und feiner und gewann auf internationalen Messen zahlreiche Preise. Als schließlich 1875 Daniel Peter die Milchschokolade erfand, indem er Kondensmilch zur Kakaomischung hinzufügte, hatten die Schweizer Chocolatiers ihren Spitzenplatz auf dem Weltmarkt erobert.
Der Markt war gesättigt und die Konkurrenz groß, als 1879 der vierundzwanzigjährige Rudolf Lindt auf den Plan trat. Er war der älteste Spross einer angesehenen Bernburger Apotheker- und Ärztefamilie, deren Stammvater 1768 aus Hessen eingewandert war. Wer ihn kannte, beschrieb ihn als schönen und feinsinnigen, aber auch hochfahrenden und starrköpfigen jungen Mann. Dass Rudolf Lindt sich in der Jugend als brillanter Student, fleißiger Arbeiter oder furchtloser Abenteurer hervorgetan hätte, ist nicht bekannt. Verbürgt ist lediglich, dass er eine Vorliebe für die Jagd und die schönen Künste hatte und dass er als Achtzehnjähriger zwei Lehrjahre in der Schokoladenfabrik seines Onkels Charles Kohler in Lausanne verbrachte, der ihm zum Abschied dreihundert Franken schenkte. Ob aber Kohler dem Neffen das Geld in Anerkennung der geleisteten Dienste gab oder nur froh war, ihn los zu sein, weiß niemand. Jedenfalls erscheint es kaum vorstellbar, dass der Patriziersohn mit der weißen Stirn, den mädchenhaft vollen Lippen und den hellblauen Augen sich tatsächlich zwei Jahre lang klaglos dem harten Fabrikalltag unterzog.
Um seinem Namen einen weltläufigeren Klang zu geben, nannte der junge Fabrikant sich nicht mehr Rudolf - oder Rüedu, wie man ihn in Bern wohl rief -, sondern «Rodolphe Lindt fils». Das edle Etikett stand in scharfem Kontrast zur schäbigen Fabrik an der Aare, und leider war in den Anfängen auch Lindts Schokolade nicht dazu angetan, die Berner «jeunes filles de famille» in Aufregung zu versetzen. Die altmodische Röstmaschine gab zu wenig Hitze ab, weshalb die Bohnen nicht recht austrockneten und in der Mühle zu einer schmierigen Masse wurden. Presste man diese in Formen, dauerte es ewig, bis sie trocknete - und dann überzog sich das Ganze schon bald mit einem grauen Belag, der stark an Schimmel erinnerte. Rodolphe Lindt war ratlos.
Dass ihm das schimmelige Phänomen derart unerklärlich war, lässt auf eine eher flüchtige Ausbildung in der Fabrik des Onkels schließen. Denn damals wie heute wusste jeder Konditorlehrling, dass es sich bei dem grauen Zeug um so genannten Fettreif handelte - also nicht um Schimmel, sondern um abgesondertes Fett. Das war zwar ungefährlich, aber unschön anzuschauen und dem Verkauf in höchstem Grade abträglich. In der Not rief Rodolphe seinen Vater herbei, der ihm als Apotheker die Herkunft des Fettreifs erklären konnte. Er riet, das Fett durch verlängertes Rühren im Längsreiber besser mit den übrigen Zutaten zu binden.
Das tat Rodolphe denn auch.
Was dann geschah, ist von Legenden umrankt und nicht mehr zu klären. Manche behaupten, Lindt habe monatelang getüftelt, bis er die Lösung fand; andere sagen, er habe an einem Freitag einfach seine vom Wasserrad betriebene Rührmaschine abzustellen vergessen, bevor er zur Jagd oder einem galanten Abenteuer aufbrach, weshalb die Schokoladenmasse drei Tage und drei Nächte lang ununterbrochen gerührt worden sei. Wie auch immer: Als Rodolphe am Montagmorgen in die Fabrik zurückkehrte, fand er in seinem Bottich eine dunkelsamten glänzende Masse vor, die mit herkömmlicher Schokolade keinerlei Ähnlichkeit mehr hatte. Diese Schokolade musste nicht mühevoll in die Formen hineingepresst werden, sondern ließ sich ganz leicht gießen. Und wenn man sie in den Mund nahm, zerstob sie nicht zu Sand, sondern zerging auf der Zunge und entfaltete eine nie gekannte Fülle köstlicher Aromen.
Rodolphe Lindt wusste sofort, dass er eine große Entdeckung gemacht hatte. Was die anderen herstellten, war vielleicht Schokolade. Dies hier war etwas anderes. Er taufte seine wundersame Kreation «Chocolat fondant» - schmelzende Schokolade. Dass man die Schokolade sehr, sehr lange rühren muss - das war Rodolphe Lindts ganzes Geheimnis. Dass er das zwanzig Jahre lang vor der neugierigen Konkurrenz verheimlichen konnte, ist schon sehr erstaunlich.
Während der tagelangen Bearbeitung im Längsreiber verflüchtigten sich alle unangenehmen Bitterstoffe, das Wasser verdampfte, und die einzelnen Zutaten gingen eine unauflösliche Verbindung ein. Mit diesem Rezept wurde Lindt zum reichen Mann.
Die Welt riss ihm seinen «Chocolat fondant» aus den Händen. Erst machte die Kunde von der neuen Köstlichkeit in Bern die Runde, dann in Zürich, Basel, Lausanne und Genf, und dann in ganz Europa. Nach wenigen Monaten hätte Rodolphe Lindt eine zweite, eine dritte, eine vierte Fabrik in Betrieb nehmen können - aber das wollte er nicht. Lindt weigerte sich, zum modernen Unternehmer zu werden. Er blieb der exzentrische und launische Patrizier, der seine Zeit lieber in eleganten Salons als in der Fabrikhalle verbrachte und für den Arbeit eine niedere Verrichtung war, die es, wenn möglich, zu vermeiden galt. Es war ihm keineswegs daran gelegen, möglichst viel Schokolade zu verkaufen. Wenn seine Fabrik gerade so viel produzierte, wie ihm die Kundschaft aus den Händen riss, war er zufrieden. Es war ihm recht, wenn nicht jeder Dahergelaufene eine Lindt-Schokolade kaufen konnte; sein Produkt sollte Seltenheitswert haben und die Kundschaft umso sehnsüchtiger auf die Lieferung warten, je länger sie ausblieb. Seine treuesten Abnehmerinnen fand Lindt - der übrigens zeitlebens ledig blieb - in den vornehmen Berner und Neuenburger Töchterpensionaten, in denen «les jeunes filles de famille» aus aller Welt den letzten Schliff fürs Leben erhielten.
Schließlich ließ Lindt sich aber doch herbei, ein wenig Kommerz zu betreiben. Er gab seine Schokolade dem Berner Zuckerbäcker Jean Tobler in Kommission, der zwei Handlungsreisende übers Land schickte. Diese kehrten mit dicken Bündeln von Bestellscheinen zurück, und Lindt gewährte Tobler achtzehn Prozent Grossistenrabatt. Das ging fast zehn Jahre gut. Die Nachfrage stieg Jahr um Jahr, die Wartefristen wurden länger und länger, das Geld floss in Strömen - aber Rodolphe Lindt fils war keineswegs gewillt, deswegen mehr Schokolade herzustellen. Statt die Produktionskapazität seines Fabrikleins zu erhöhen, suchte er die Nachfrage zu vermindern, indem er den...