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Er war der posthume Biograf meiner Mutter und stand nackt in meiner Küche. Es war halb fünf an einem Sonntagnachmittag im Frühjahr. Das Begräbnis meiner Mutter lag etwas mehr als zwei Jahre zurück.
»Wie bitte?«, fragte ich, obwohl ich ihn sehr wohl verstanden hatte.
»Nora. Sie ist in London, oder? Sie hat doch mit ihrem Doktorat angefangen.«
Ich hatte Nora - zumindest persönlich - in der Zwischenzeit nicht gesehen.
»Tu das nicht«, sagte ich zu ihm und kramte dabei im Kühlschrank. Nichts Essbares: eine halbe Packung vergilbter Feta und ein bisschen welker Spinat in der Schublade. Selbst die Margarine hatte einen verdächtig aussehenden Belag. Ich musste unbedingt einkaufen, bevor Beanie heute Abend aus der Wohnung ihres Vaters zurückkehrte. Ich warf die Margarine in den Müll und wandte mich wieder Richard zu.
Er sah aus, als hätte ich ihn bei etwas ertappt.
»Was soll ich nicht tun?«, fragte er etwas zerknirscht. Er reichte mir einen Becher dampfenden schwarzen Kaffee. Ich nahm ihn entgegen und zog den Morgenmantel enger um mich. Am Aufschlag war ein Loch, und ich steckte den Finger durch und spürte das weiche Flanellfutter unter dem gesteppten Stoff.
»Arbeiten«, antwortete ich schlicht.
Er grinste schelmisch, wie ein ungezogener Schuljunge.
»Sorry«, sagte er, immer noch lächelnd.
»Wenn du Nora erwischen willst, kannst du selbst Kontakt zu ihr aufnehmen. Du hast ihre Telefonnummer. Du hast ihre Mailadresse. Dafür musst du nicht mich einspannen.«
Ich spürte meinen scharfen Unterton und bedauerte ihn, noch bevor mir die Worte über die Lippen kamen. Richard, der rücksichtsvollste und nachsichtigste Mann, mit dem ich jemals etwas gehabt hatte, zog mich in seine Arme, nahm mir den Becher aus der Hand und stellte ihn auf dem Küchentresen ab.
»Das werde ich machen«, sagte er leise. »Ich wollte dich nicht aufregen.«
»Du hast mich nicht aufgeregt«, log ich. »Es ist nur einfach seltsam, wenn du über die Arbeit sprichst, während wir zusammen sind. Als Paar.«
Ich kannte Richard seit sechs Monaten, seit er das allererste Interview mit mir gemacht hatte. Und es war fast auf der Stelle, ohne dass ich es eigentlich gewollt hatte, ernst zwischen uns geworden. Ich mochte Richard. Ich mochte ihn sehr. Er war großzügig und bedacht und zuvorkommend. Außerdem schrieb er ein Buch über meine Mutter. Tante Karoline hatte alles in die Wege geleitet, hatte ihm aufgrund zweier schmeichelhafter Profile, die er für Kulturmagazine über Ingrid Olssen geschrieben hatte, den Auftrag gegeben. Für die BBC hatte er den Kommentar zu einem Kurzfilm über ihre Arbeit gesprochen, der einen Preis der BAFTA gewonnen hatte. Als sie noch am Leben war, hatte er sie mehrmals interviewt. Tante Karoline behauptete, Mum hätte ihn ganz gern gemocht und sich über das gefreut, was er über sie schrieb. Er sei der perfekte Kandidat dafür, eine Biografie über sie zu verfassen. Ich fand es eher seltsam, dass er sich so sehr für meine Mutter interessierte, vermutete aber, dass das bei einem Kunstkritiker eher normal war. Und es tat gut, dass ich meinen neuen Liebhaber nicht bitten musste, weder meinen Namen noch die Namen anderer Mitglieder meiner Familie bei Google einzugeben. Richard kannte das Chaos schon, als ich ihn kennenlernte: Er war ein Bewunderer meiner Mutter und ihres Werks, und ihm als ihrem Biografen gegenüber brauchte ich nicht verlegen zu lachen, wenn alte Zeitungsartikel über Mums Verhalten in den Achtzigern und Neunzigern auftauchten. All diese Artikel hatte Richard bereits gesehen; genauer gesagt hatte er sie in einer Mappe abgeheftet. Das war ungewöhnlich, aber hilfreich. Nachdem er sich einverstanden erklärt hatte, das Buch zu schreiben, hatte Tante Karoline einen Verlag gefunden und dafür gesorgt, dass er einen Vorschuss dafür bekam, wobei sie, was typisch für Tante Karoline war, auch für sich selbst etwas herausschlug. Erst dann hatte sie sich daran gemacht, meine Wenigkeit, Nora, meinen Vater Edward sowie einige wenige auserwählte Kandidaten aus Ingrids Leben davon zu überzeugen, unseren Beitrag dazu zu leisten. Am Ende hatte ich eingewilligt, ein Interview zu geben, damit sie endlich damit aufhörte, mich in der Arbeit anzurufen.
Aber vielleicht würde Richard durch sein Buch auch etwas gelingen, was keiner von uns geschafft hatte: all die losen Fäden, die das Leben meiner Mutter durchwirkten, aufgreifen, sie entwirren und wieder zu einem schlüssigen Ganzen zusammenfügen. In Vorbereitung für das Interview hatte ich einige seiner journalistischen Arbeiten gelesen; er war gut, wenn auch mit einem Hang zur Melodramatik - selbst ich, die mit sechzehn nach der Mittleren Reife von der Schule abgegangen war und heute Kindern dabei half, durch das Malen von Bildern ihre innersten Gefühle zu Papier zu bringen, konnte das sehen. Vielleicht würde er ja Ingrids Leben einige Geheimnisse entlocken, die zu ihren Lebzeiten niemand aufgedeckt hatte.
In der darauffolgenden Woche war Richard in der Zweizimmerwohnung in Acton, die ich mit meiner Tochter Beanie bewohnte, aufgetaucht, das Gesicht gerötet und mit Sommersprossen übersät, die Brille auf die Spitze seiner glänzenden Nase gerutscht, die Jeans verblichen und knittrig. Er wirkte eher unbedarft, doch die Art, wie er mich anschaute, und die Fragen, die er mir stellte, waren messerscharf wie ein Laserstrahl.
»Was nun das Gemälde Girls angeht«, hatte er gleich zu Beginn des Gesprächs gefragt. »Sind das Sie und Ihre Schwester?«
Ich zuckte unbeeindruckt mit den Achseln. »Ja, das sind wir. Das ist allgemein bekannt.«
»Eine interessante Komposition«, sagte er, fast an sich selbst gerichtet, und spielte mit dem Notizbuch, das in akkuratem Winkel und mit noch leeren Seiten auf seinem Schoß lag. Er hatte ein Aufnahmegerät eingeschaltet; das Notizbuch schien mehr Beiwerk zu sein, etwas, mit dem er seine Hände beschäftigen konnte, während wir redeten. Auf den Aufnahmen macht sich sein abgehackter Surrey-Akzent deutlicher bemerkbar, so wie bei britischen Schauspielern, die in amerikanischen Filmen mitspielen. Für jemanden wie ihn, der in seiner Sparte ein alter Hase war, auch wenn er gerade mal Mitte dreißig und damit nicht viel älter war als ich, wirkte er verunsichert. In meinem Wohnzimmer schien er sich nicht wohlzufühlen, hockte unbeholfen ganz vorne an der Kante auf meinem Sofa und wandte immer wieder den Blick von der Fotocollage an der Wand ab, die Beanie und ich eines Abends bei einer Packung Häagen-Dazs-Eiscreme mit Käsekuchengeschmack gebastelt hatten und neben den Twilight-Videos, die Rücken an Rücken standen, an die Wand gehängt hatten, nachdem wir rosa Glitter und Herzchenpailletten um die Ränder unserer fotografischen Lieblingserinnerungen gemalt hatten: Ausflüge in den Londoner Zoo, das Aquarium, der Tag, an dem Beanie erfahren hatte, dass sie ein Stipendium an der Schauspielschule bekommen hatte, was wir feierten, indem wir uns beide in passenden Blautönen die Haare färbten. Mein Blau war schon lange verblichen und mit einem Kastanienbraun überfärbt worden, der meinem Naturton so nahe wie möglich kam. Beanie war zuerst bei Blau geblieben, dann zu Violett und zu Pink übergewechselt und trug mittlerweile ein leuchtendes Orange. Sie hatte darauf bestanden, dass auch Ingrid und Nora in der Collage vorkamen. Von ihnen besaß ich keine Fotos, deshalb hatte Beanie Noras Porträt von der Website der Fakultät für Kunstgeschichte an der Goldsmith University ausgedruckt, wo Nora gerade ihren Doktor machte; bei Mums Foto handelte es sich um einen alten Schnappschuss aus der Klatschpresse, der sie zeigte, wie sie in den Achtzigerjahren aus einem Nachtclub torkelte, die spindeldürren Arme um den Hals meines Vaters gelegt, der seine Mühe hatte, sie auf den Beinen zu halten, das dauergewellte Haar in krisseligen Wellen über die Schulterblätter hängend, in einem glitzernden grünen Minikleid, das bis über die Taille hochgerutscht war und den Blick auf türkisfarbene Unterwäsche und die knochigen Hüften einer Frau freigab, die nichts aß. Die Pupillen ihrer graublauen Augen waren wie schwarze Monde im Blitzlicht der Kamera. Nur ein winziger Hauch weißes Puder haftete an ihrer Nase - wenn man nicht danach suchte, konnte man es leicht übersehen. Ich hatte Beanie gefragt, ob sie sich sicher sei, dass genau dies das Bild war, das sie als Erinnerung an ihre Großmutter an die Wand hängen wollte.
»Aber sie fände das bestimmt toll, meinst du nicht?«, hatte Beanie statt einer Antwort gefragt. »Grandma hätte einen Riesenspaß daran.«
Mum hatte immer schon etwas gegen ernsthafte künstlerische Fotos gehabt, ebenso wie gegen ihre eigenen Selbstporträts, die unweigerlich jeden Artikel über ihr Werk begleiteten. Sie alle - die Bilder, die Veröffentlichungen, die Zeitungen ebenso wie die Journalisten - bezeichnete sie als Vampire.
»Ja, sie würde es wirklich toll finden, da hast du recht«, hatte ich Beanie zugestimmt. Auf dem Bild sah Ingrid schön und quirlig und sorglos aus. Es schien, als läge selbst in diesem Moment der Bloßstellung, der Verletzlichkeit, etwas, das der Fotograf in ihrem Blick festgehalten hatte, eine Art Wissen. Die Möglichkeit, dass selbst ein solch unbeobachteter Moment vielleicht doch gestellt war. Ob sie nun high auf Champagner, auf Pillen oder Koks war, hatte es bei meiner Mum nie Situationen gegeben, in denen sie nicht genau gewusst hatte, was sie tat. Es war ein...
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