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Das war gewaltig.
Volker hatte sich planlos durch die Stadt treiben lassen wollen, zunächst mal, und er hatte entschieden, es allein zu tun, einfach um zu wissen, wie es sich anfühlte. Die Idee war ihm direkt nach dem Aufwachen gekommen. Sie war sofort da.
Das Radio war ausgeschaltet gewesen. Er konnte sich nicht erinnern, es selbst getan zu haben. Er war mit Musik eingeschlafen, sehr leiser Musik, damit es kein Meckern gab aus dem Flur, kein Inszimmerstürmen, ohne zu klopfen, kein »Jetzt ist aber mal Schluss!« und Ausdrehen und »Wieso kannst du nicht einmal Rücksicht nehmen. Die Gäste!«
Damit ihn all das nicht ereilte und störte und ablenkte von so vielem, über das er nachzudenken hatte.
Wenn Volker sich abends in sein Zimmer zurückzog, hörte er Musik, so leise es ging und so laut wie möglich, was ihn dazu zwang, sich dicht mit dem Stuhl vor das Regal zu setzen, auf dem das Radio stand, weil es woanders rauschte. Wenn er es sich erst im Bett bequem machte, schlief er meistens auch ein, denn die Musik erreichte ihn dann nur noch sehr vage.
Sein Radio war ein alter Volksempfänger, den er vor drei Jahren im Keller gefunden hatte. Mit einem Lumpen abgedeckt stand er in dem Verschlag mit der Drahttür auf einem Brett über den Einmachgläsern. Ganz offensichtlich hatte Volker erst eine bestimmte Körpergröße erreichen müssen, um darauf aufmerksam werden zu können, denn das verhüllte Ding war ihm nie zuvor aufgefallen.
Es kam genau richtig.
Beim Hochtragen war ihm damals ein vergilbter Zettel vor die Füße gefallen, der sich vom Radioboden gelöst hatte:
Denke daran - das Abhören ausländischer Sender ist ein Verbrechen gegen die nationale Sicherheit unseres Volkes. Es wird auf Befehl des Führers mit schweren Zuchthausstrafen geahndet.
Dieser Zettel hatte das Gerät noch viel kostbarer gemacht. Volker klebte ihn, zum Ärger seiner Mutter, dem Radio quasi auf die Stirn. Trotzdem hatte sie ihre Drohung, diesen schauderhaften Text zu entfernen, wenn er es nicht selbst tat, nie wahrgemacht. Denn er hatte absolut vor, endlich ungestört und exklusiv ausländische Sender zu hören, weil es dort die Musik gab, die ihn fortriss. It's midnight in Central Europe! Splendid.
Booker T. & the M.G.'s waren ihm so dermaßen eingefahren heute Nacht, er hätte schreien können, tanzen wollen, Mädchen küssen, sich das Hemd vom Leib reißen. Stattdessen war er ins Bett gegangen, weil ihm nichts anderes übrig blieb. Er hatte es unterlassen, Hand an sich zu legen, in seinem nicht abzuschließenden Zimmer, während die Mutter nebenan schlief oder Ich denke oft an Piroschka las und sich womöglich an seinen Vater erinnerte, ohne den er aufgewachsen war.
Nachdem er mittags ratlos vor den Studios von AFN in der Kaulbachstraße rumgelungert und sich weder getraut hatte, reinzugehen, geschweige denn jemanden anzusprechen, der die alte Villa verließ, war er in den Englischen Garten abgezogen. Schnurstracks hatte er sich zum Monopteros begeben. Natürlich, wohin sonst. Als er am Hang auf der Wiese lag, den Gitarre spielenden Jungs zuhörte und den Mädchen zusah, die sich bewegten wie Schlingpflanzen am Boden eines glasklaren Gewässers, schon da war er wie weggetreten vor Glück.
Als ihm der Magen knurrte, hatte er sich zu einem Kiosk getrollt - es war alles so einfach -, immer den Leuten nach, zwei Paar Wiener Würstchen verschlingen und mit einer Flasche Bier zurück. Rumliegen, ohne Sinn und Verstand, wegratzen, aufwachen, manche der Leute von zuvor sind noch da, andere hinzugekommen, der Mond ist aufgegangen, und die Combo oben auf der Mauer spielt in einer anderen Besetzung. If I Had a Hammer. Alle singen mit.
Als die Polizei im Kleinen Überfallkommando anrückte, stand er gerade abseits in den Büschen, wohin ihn das Bier getrieben hatte. Man möge die Ruhestörung sofort unterlassen, plärrte es aus den Lautsprechern, und die Leute gingen lachend auseinander, ganz in Frieden. Nicht enttäuscht, so wie er.
Auf der Leopoldstraße dachte er zum ersten Mal an diesem Tag darüber nach, was er jetzt machen sollte. An einer Telefonzelle zog er für den Bruchteil einer Sekunde in Erwägung, zu Hause anzurufen, es war wirklich das Allerletzte.
»Wartest du auf wen?«
Eine Gruppe Jugendlicher zog gut gelaunt an ihm vorbei. Die Jungs in Hemden mit offenen Krägen, die Mädchen in Röcken, die über runden Hintern spannten.
»Und auf wen wartest du?«
Eine Blonde drehte sich neben ihm, ihr Pferdeschwanz streifte seine Wange. Rückwärts laufend fixierte sie ihn, neugierig, ohne zu lächeln. Sie trug eine lose, leichte Bluse zu engen Hosen. Vielleicht waren ihre Augen grün. Ihm fiel keine Antwort ein. Sie wandte sich ab, stieß wieder zu den anderen und hakte sich bei einem der Mädchen unter.
Er war so ein Idiot.
Wenn ihm nur einfallen würde, wie das Café hieß, wo die Theres arbeitete. Sie hatte es ihm mal gesagt. Er wusste nur, dass es an einer Straßenkreuzung der Leopoldstraße lag, aber an welcher? Einfach weitergehen.
Es waren unfassbar viele Leute unterwegs, Musik quoll mit ihnen aus den Bars und Cafés auf die Gehsteige voller Gelächter, während zu Hause der Ort in Totenstille versank und kein Licht mehr zu sehen sein würde außer den Sternen am Himmel, jetzt gegen elf.
Es kam ihm vor, als liefen alle nur noch in eine Richtung, junge Leute, so viele, kaum älter als er, und wenn schon, es war vollkommen gleich, er gehörte dazu.
Jetzt drängten sie auf die Fahrbahn. Die Autos kamen schon längst nicht mehr weiter und hupten, das aufgebrachte Klingeln zweier Trams mischte sich mit wütenden Rufen. Weiter vorn konnte er ein Blaulicht erkennen. Stumm rotierte es auf einem Polizeiwagen, der in der aufgewühlten Menge schaukelte. Volker warf sich nach vorn, wollte dahin mit den anderen, ohne zu wissen, was vor sich ging. Aber die Straße gehörte ihnen.
Theres hatte nicht den geringsten Schimmer, was los war. Eben noch hatte sie alle Hände voll zu tun gehabt, und jetzt plötzlich rannten die Leute vom Trottoir auf die Straße. Manche warfen ein paar Münzen auf den Tisch, an dem sie gerade noch ihr Bier getrunken hatten. Theres fing zwei, drei Stühle auf, die von den Aufspringenden wegkippten. Nicht allzu hastig begann sie, Gläser und Kaffeetassen abzuräumen. Drinnen war es wie leer gefegt. Little Eva sang Locomotion. Micky hatte die Platte aus London mitgebracht und Theres zum x-ten Mal versprochen, sie das nächste Mal dorthin mitzunehmen.
Theres schwang die Hüften, tanzte mit dem vollen Tablett hinter die Bar und spülte die Gläser im Takt ab, den inzwischen Dion vorgab: Yeah, I'm the wanderer, yeah, the wanderer, I roam around, around. Den Blick hielt sie auf die Straße gerichtet, wo eine Völkerwanderung eingesetzt hatte, im Laufschritt sozusagen. Gab es Freibier irgendwo? Befand sich Prominenz auf der Straße? Die Pfiffe und Buhrufe sprachen dagegen. Sie fuhr herum zum Spiegel hinter der Bar und überprüfte in Windeseile den Sitz ihrer Frisur. Alles, was Rang und Namen hatte, war gerade sowieso in Berlin. Theres las jeden Tag jede Zeile über die ersten Filmfestspiele in der seit einem Jahr durch eine Mauer geteilten Stadt. (Dass James Stewart den Checkpoint Charlie besucht hatte, war eine der Meldungen, die sie kaltließen, ehrlich gesagt.)
Mit nassem Finger korrigierte sie den Lidstrich. Korallenrot zog sie die Lippen nach, als Martinshörner die Musik im Café übertönten.
»Nazi-Polizei!«, hörte sie draußen jemanden brüllen, und ein Pfeifkonzert setzte ein. Irgendwo splitterte Glas.
Ob sie den Laden zusperren sollte? Micky anrufen? Sinnlos. Zu Hause war der sowieso nicht.
Theres ging vor die Tür. Die Fahrbahn, das Trottoir, alles war voller Leute, wie sie sonst zu ihren Gästen gehörten. Die Stimmung war seltsam gut, hier im nachschiebenden Teil der Menge, trotz der Polizeiwagen, die weiter vorn aus den Seitenstraßen auf die Kreuzung gefahren waren.
»Was ist denn los?«, rief Theres einem Paar zu, das Hand in Hand auf den Pulk zusteuerte.
»Keine Ahnung!«
Jemand rempelte sie im Vorbeirennen an, und zum Glück sah sie in diesem Moment Micky. Er schob sich zwischen den Leuten durch. Er kam gerade rechtzeitig, um einen jungen Mann aufzufangen, der vor dem Café auf einen der Tische gestiegen war und nun mitsamt diesem umkippte.
»Langsam, Sportsfreund«, sagte Micky, »wir wollen doch keine Verletzten.«
Und wieder dachte Theres, dass er was von Paul Newman hatte, nur mit mehr auf den Rippen. Sie war heilfroh, dass er da war. Sie drängte sich an ihn. Spürte seinen Herzschlag wie ein Donnern. Roch seinen frischen Schweiß und war dankbar, als er den Arm um ihre Schultern legte. Micky war ein Beschützer.
»Machen wir den Laden zu?«
Micky schüttelte den Kopf, während er sich eine Zigarette anzündete. Theres nahm sie ihm aus den Fingern und inhalierte tief.
»Das da ist in ein paar Minuten vorbei.«
»Was denn eigentlich?«, fragte Theres und gab ihm die Zigarette zurück. »Was ist dann vorbei?«
Im Moment wäre es ihr egal gewesen, wenn Warren Beatty auf der Kreuzung den Twist tanzte. Es war gerade schön so, wie Micky sie im Arm hielt, während die johlende Menge an ihnen vorbeizog. Er zuckte mit den Schultern.
»Irgendein Ärger mit der Polizei halt. Wir erfahren es früh genug.« Zu ihrem Bedauern ließ er sie los.
»Vopo! Vopo!«, skandierten weiter vorn die Leute.
»Was schreien die?«, fragte Theres.
»Menschenskind, Theres, also wirklich!«
Micky ging ins Café. Leider hatte er...
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