Schweitzer Fachinformationen
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Die Frau hatte keinen Namen genannt. Bei Meldungen wie dieser kamen die Anrufe meist anonym. Manche Leute flüsterten sogar am Telefon oder verstellten ihre Stimmen. Vielleicht hatte die Stimme der Frau gepresst geklungen. Wodurch das Unbehagen, sich in etwas einzumischen, ebenso hörbar wurde wie die Beklemmung über den Verdacht, den mitzuteilen sie sich entschlossen hatte.
Es war nach sechs und stockdunkel. Elke Zeisig schaltete die Scheinwerfer ein, beugte sich vor und wischte mit dem Ärmel ihres Wintermantels über die beschlagene Scheibe des Volkswagens. Wenn es richtig kalt war, brauchte die Heizung mehr als eine halbe Stunde, um das Innere des alten Käfers ansatzweise warm zu kriegen. Die vergangene Woche über hatte es kontinuierliche Nachtfröste gegeben, und heute war das Thermometer erstmals auch tagsüber kaum über null gestiegen.
Es hatte nach Schnee gerochen, als Elke das Polizeipräsidium verließ.
Sie setzte den Blinker und fuhr auf die Ausfallstraße Richtung Südosten. Hoffentlich begann es nicht zu schneien, denn dann würde sie die Straßenschilder schlecht lesen können, und in der Gegend, die sie ansteuerte, kannte sie sich nicht aus. Sie war noch nie in der Ami-Siedlung gewesen.
Die hohen Baumschatten zitterten im Scheinwerferlicht des staubgrauen Volkswagens, der Elke noch nicht lange gehörte. Es kam einem Wunder gleich, dass ihre Mutter das alte Auto an sie abgetreten hatte. Als Gegenleistung dafür erwartete sie wohl häufigere Besuche. Widerwille verkrampfte Elke den Nacken. In vier Wochen war Weihnachten. Vorher würde sie nicht raus aufs Land fahren.
Das grell aufblendende Licht eines entgegenkommenden Wagens nahm ihr für einen Moment die Sicht. Reflexartig trat Elke auf die Bremse, während ein Militärjeep an ihr vorbeiraste. Er musste links von der Stichstraße aus dem Wald gekommen sein. Von dort, wo sie jetzt ein weißes Schild zwischen den Bäumen sah: Family Housing Area Perlacher Forst.
Die erleuchteten Fenster der Mehrfamilienhäuser wirkten wie lückenhafte Mosaike, dachte Elke, als sie auf die Siedlung zufuhr. In Höhe der ersten Wohnblöcke drosselte sie das Tempo und hielt unter einer Straßenlaterne. Sie tastete nach dem Deckenlicht des Volkswagens und beugte sich über den Faltplan auf dem Beifahrersitz.
Die Siedlung war für die amerikanischen Besatzungssoldaten und ihre Familien aus dem gerodeten Waldboden gestampft und nach amerikanischem Vorbild angelegt worden. In dem schachbrettartigen Grundriss diente die Nummerierung der Wohngebäude zur Orientierung. Schon im Präsidium hatte Elke auf dem grafischen Übersichtsplan erkennen können, dass die Mehrfamilienblöcke 300er-Nummern trugen, während die Einzel- und Doppelhäuser mit 400er-Nummern gekennzeichnet waren. Dort wohnten die Offiziersfamilien.
Die Anruferin hatte es betont.
Obwohl Elke die großen Ziffern auf der Stirnseite des gegenüberliegenden Häuserblocks erkennen konnte, hatte sie nur vage eine Vorstellung davon, wo in der Siedlung sie sich augenblicklich befand.
Im Rückspiegel bemerkte sie die Scheinwerfer eines sich nähernden Wagens. Es war eine helle, lang gestreckte Limousine, die langsam vorbeiglitt und mit laufendem Motor vor dem Volkswagen stehen blieb. Die Bremslichter in den Heckflossen glommen wie die schräg stehenden Augen eines Raubtiers.
Aus den Kältewolken der Auspuffgase trat eine Frau. Sie trug einen weiten Wintermantel, der flauschig um ihren Körper floss, und ein Kopftuch, dessen Enden in den hochgestellten Mantelkragen gesteckt waren.
Elke kurbelte die Scheibe herunter. Die Frau beugte sich zu ihr herab.
»Need any help, Miss?«, fragte sie.
Ihr aufmerksamer Blick erfasste Elke im Bruchteil einer Sekunde und glitt zum Faltplan auf dem Beifahrersitz.
»Ich suche das Haus Nummer 451«, antwortete Elke auf Englisch. Sie beherrschte die Sprache einigermaßen. Im Fond des amerikanischen Wagens bemerkte sie zwei ältere Kinder, die offenbar stritten.
»Bantingstraße«, sagte die Frau. »Dort sind die Hausnummern 444 bis 456.«
»Bantingstraße.« Elke griff nach der Straßenkarte. »Danke, das hilft mir weiter.« Die Anruferin hatte keinen Straßennamen genannt, nur die Nummer des Hauses.
Elke lächelte der Amerikanerin zu, die immer noch zu ihr herabgebeugt stand.
»Sehr freundlich, dass Sie gehalten haben. Ich werde das Haus jetzt sicher finden. Vielen Dank.«
Die Frau legte ihre Hand auf die heruntergekurbelte Scheibe. Sie trug elegante schwarze Lederhandschuhe. Als sie das Lächeln erwiderte, ähnelte sie Doris Day.
»Fahren Sie doch einfach hinter mir her, Miss.«
Doris Day nahm die Hand wieder fort. Ohne eine Antwort abzuwarten, richtete sie sich auf und ging zu ihrem Auto zurück. Elke versuchte, sich das Kennzeichen einzuprägen, obwohl es wegen der Auspuffschwaden kaum zu erkennen war. Zwei Buchstaben, vier Ziffern. Durch die Heckscheibe starrten die Kinder neugierig zu ihr her. BC - die erste Zahl eine Sieben vielleicht. Sie gab es auf, als der Wagen vor ihr mit einem Ruck anfuhr und auf die Fahrbahn ausscherte.
Es waren nur wenige Minuten, die Elke der Amerikanerin auf den breiten, gehweglosen Straßen durch die Siedlung folgte. Kein Mensch war zu sehen. Hin und wieder kam ihnen ein wuchtiger Amischlitten entgegen.
Nachdem sie einige Male abgebogen waren und Elke sich fragte, wie sie jemals wieder zurückfinden sollte, fuhren sie in eine weit geschwungene Straße, an der sich gleichförmige, einstöckige weiße Häuser in gebührendem Abstand reihten.
Die Bantingstraße war eine Sackgasse. In der Wendeschleife fuhr Doris Day langsam am letzten Haus vorbei. Elke musste den Kopf beugen, um durch die kleine Windschutzscheibe eine Hausnummer erkennen zu können. Die Scheinwerfer des Volkswagens erfassten die Ziffern 451, gerade als Doris Day ein paar Häuser weiter Gas gab und in die Richtung fuhr, aus der sie in die Straße abgebogen waren.
Elke schaltete Motor und Scheinwerfer aus. Im Haus waren die Zimmer des Erdgeschosses hinter geschlossenen Vorhängen erleuchtet, der erste Stock war dunkel.
Sie brauchte jetzt noch einen Moment. Sie holte sich ins Gedächtnis, wie die Chefin sie am Nachmittag ins Bild gesetzt hatte.
»Hatten Sie schon einmal mit amerikanischen Militärangehörigen oder deren Familien zu tun?«
Wenn Hauptkommissarin Franziska Sailer bereits beim Betreten eines Raumes eine Zigarette aus der Schachtel klopfte, war dies das Signal, dass sie eine Sache ausführlicher besprechen wollte. Dass sie dazu ihr Büro verließ, anstatt ihre Mitarbeiterinnen zu sich zu zitieren, war nur eine von vielen Verhaltensweisen, die sie eklatant von ihrer Vorgängerin unterschieden.
Elke, die mit dem Abtippen eines Vernehmungsprotokolls beschäftigt war, schüttelte den Kopf und unterbrach ihre Arbeit.
»Nein, bisher noch nicht.«
»Wir haben einen anonymen Hinweis bekommen«, sagte Hauptkommissarin Sailer. »Leider nicht in unserer Abteilung. Der Anruf kam in der Zentrale an.«
Die Sailer zündete sich die Zigarette an und stieß den Rauch aus, während sie weitersprach.
»Eine Amerikanerin soll ihr Pflegekind vernachlässigen. Möglicherweise misshandelt sie es sogar. Ein Kind, das sie hier in Deutschland zur Pflege genommen hat. In München. Angeblich handelt es sich um die Frau eines hohen Offiziers.«
Die Chefin öffnete das Fenster und aschte ins Freie. Elke hatte keinen Aschenbecher in ihrem Büro. Sie rauchte nur gelegentlich.
»Sie sagte, das Kind schreit stundenlang. Man könne es bis auf die Straße hören.«
»In welchem Alter ist das Kind?«
»Die Frau sprach von einem Baby.«
»Hat die Anruferin Näheres zu ihrem Verdacht geäußert?«, fragte Elke. »Hat sie oder jemand anderes etwas Konkretes beobachtet?«
»Leider nicht. Ich wünschte, eine von uns hätte mit ihr reden können. Dem Beamten in der Zentrale kann ich keinen Vorwurf machen. Jedes Mal, wenn er vorschlug, sie an eine Kollegin weiterzuverbinden, drohte sie damit, aufzulegen.«
Die Sailer lehnte in ihrem gut geschnittenen Tweedkostüm neben dem geöffneten Fenster, durch das sich Novemberluft kalt ins Zimmer stahl.
»Die Anruferin sagte, die Frau im Haus Nummer 451 benehme sich merkwürdig. Kaum jemand habe das Kind je gesehen.«
Elke runzelte die Stirn.
»Haus Nummer 451? Kein Name?«
Die Sailer verneinte kopfschüttelnd.
»Aufgelegt, noch bevor der Kollege nachfragen konnte. Ich habe beim Sozialreferat angerufen, aber da ließ sich auf die Schnelle auch nichts erfahren. Die für die Amerikaner zuständige Beamtin war bei einem Außentermin. Ihre Kolleginnen sahen sich außerstande, anhand einer Hausnummer die Akte zu finden.«
Verärgert sog sie an ihrer Zigarette.
»Kümmern Sie sich gleich am Montag darum, Zeisig, und machen Sie einen unangekündigten Besuch in der amerikanischen Siedlung.«
»Wollen wir noch zwei Tage vergehen lassen?«, fragte Elke.
Die alte Chefin hätte die Frage als frech empfunden. Hauptkommissarin Sailer, für alle immer noch die Neue, obwohl sie ihre Stellung als Leiterin der Weiblichen Kriminalpolizei vor inzwischen mehr als einem Jahr angetreten hatte, zeichnete sich durch ein anderes Autoritätsverständnis aus.
»Es ist besser, erst die Akte zu kennen«, antwortete sie, und natürlich hatte sie recht.
Elke zögerte. Ihr war kalt geworden. Sie griff nach ihrer Kostümjacke, die sie zum Tippen ausgezogen und über die Stuhllehne gehängt hatte.
Die Sailer beobachtete sie.
»Ja, Kollegin Zeisig?«
»Es geht um ein Baby.«
Für einen Moment herrschte Schweigen. Im Nachbarbüro setzte das Klappern einer...
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