Schweitzer Fachinformationen
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Max hörte Hanna, bevor er sie sah. Vielmehr hörte er ihre Violine, deren Klang durch das leere Auditorium im Lyzeum schnitt: scharf und hell, leidenschaftlich und gewaltig. Er hatte noch nie zuvor eine Violine gehört, außer vielleicht auf einer Schallplatte, die er als Junge auf dem Grammofon seiner Mutter abgespielt hatte. Der echte Klang, der in dem großen, leeren Raum widerhallte, war so schön und intensiv, dass Max für einen Moment erstarrte.
Max hatte ganz zufällig die Tür zu diesem Hörsaal geöffnet. Er hatte nach Herrn Dettweilers Vorlesung über Betriebswirtschaft gesucht, die, wie sich herausstellte, in einem anderen Hörsaal stattfand, in einem Gebäude auf der gegenüberliegenden Seite der Rasenfläche. Das Lyzeum in Gutenstadt war groß und unübersichtlich, und Max hatte den Lageplan nicht richtig gedeutet. Er landete im entgegengesetzten Teil des Komplexes, da, wo Hanna gerade auf der Bühne probte.
Er ging auf sie, auf die Musik zu. Ihre Augen waren geschlossen. Sie war klein, aber ihr Körper wiegte sich mit den Noten, die sie spielte - eine Kraft wie ein riesiger Windstoß, der sie hin und her bewegte und dennoch niemals umwerfen würde. Sie hatte die Musik und das Instrument unter Kontrolle. Das sah er ganz deutlich, obwohl er nichts über Musik oder Geigen wusste. Diese Frau beherrschte die Musik. Nicht umgekehrt.
Sie beendete ihren Vortrag mit einem kräftigen Bogenstrich, öffnete dann die Augen und sah ihn keine zehn Meter von der Bühne entfernt stehen. Während des Zuhörens war er näher und näher gekommen. Sie legte die Hand über den Mund. Schockiert? Verängstigt? Wütend?
»Ich . Verzeihung«, stammelte er. »Ich habe den falschen Hörsaal erwischt.« Plötzlich schämte er sich dafür, in ihren Raum eingedrungen zu sein. Es war keine öffentliche Aufführung. Ihre Musik an diesem Morgen war Privatsache gewesen. Er fühlte sich wie ein Eindringling, drehte sich um und rannte davon.
Erst als er auf der anderen Seite der Rasenfläche das richtige Gebäude betrat, kam ihm der Gedanke, dass er sich hätte vorstellen und nach ihrem Namen fragen sollen. Wegen des Klanges dieser Geige, ihrer Geige. Er ging ihm nicht aus dem Kopf.
Eigentlich wollte Max an diesem Vormittag Professor Dettweilers Wirtschaftsvorlesung besuchen. Er war zwar kein Akademiker, aber zu lernen und zu lesen gefiel ihm.
Sein Vater hatte eine kleine Buchhandlung im Zentrum von Gutenstadt besessen. Nachdem sein Herz im Frühling zuvor plötzlich stehen geblieben war, mitten im Gespräch mit einem Kunden, hatte Max den Laden übernommen. Seine Mutter war gestorben, als er erst zehn gewesen war. So gab es nach dem Tod des Vaters niemanden sonst.
Max hatte keine andere Wahl, als den Laden weiterzuführen. Selbst wenn er eine gehabt hätte, hätte er sich für das entschieden, was ihm übergeben wurde, denn er liebte das Geschäft seines Vaters. Den Geruch von Büchern, Tinte, Papier und Buchbinderleim. Die Kunden in der Stadt, die nach Geschichten und Vorschlägen suchten. Max fühlte sich wohl in diesem Leben, in dem vertrauten Ort Gutenstadt, wo er aufgewachsen war, nur eine Zugstunde westlich von Berlin.
In der Buchhandlung lief es inzwischen ruhiger als früher. Deshalb hatte Max sich bei Herrn Dettweiler in der Wirtschaftsvorlesung eingeschrieben. Es war ihm mehr als einmal in den Sinn gekommen, dass er die Buchhandlung möglicherweise nicht ewig weiterführen konnte, dass er vielleicht noch etwas anderes lernen musste. Eine Fortbildung in Wirtschaft erschien ihm wie ein guter Anfang. Zumindest konnte sie ihm dabei helfen, die Buchhandlung über Wasser zu halten.
Mitten in Dettweilers Vorlesung schlich er sich in den richtigen Hörsaal und bemühte sich, nicht aufzufallen. Die meisten Plätze waren besetzt. Im vorderen Teil des Raums stand Dettweiler, ein älterer, dicker Glatzkopf mit Brille, der lebhaft vortrug und eine Gleichung an die Tafel kritzelte. Die Studenten um Max herum hörten aufmerksam zu und machten sich Notizen. Er versuchte der Vorlesung zu folgen. Es war einige Jahre her, dass er die Schule verlassen hatte. Um ehrlich zu sein, er hatte Literatur mehr geschätzt als Mathematik und Naturwissenschaften. Seine Gedanken wanderten zurück zu der Frau auf der anderen Seite der Rasenfläche und ihrem Geigenspiel. Würde er sie noch antreffen, wenn er sofort dorthin zurückging? Er wollte sie nach ihrem Namen fragen und danach, ob sie Bücher oder Kaffee mochte. Jawohl, er würde sie auf einen Kaffee einladen.
Er stahl sich aus dem Hörsaal, rannte über den Rasen und zurück in das Auditorium, in dem sie auf der Bühne gespielt hatte.
Der Raum war leer. Max hatte seine Chance vertan.
Max lebte in einer kleinen Dreizimmerwohnung über der Buchhandlung in der Hauptstraße von Gutenstadt und musste etwa zehn Minuten mit der Straßenbahn zum Lyzeum fahren. Die Wohnung enthielt viele Sachen seines Vaters und einige seiner Mutter. Was einmal das Leben seiner Eltern gewesen war, war nun zu Max' Leben geworden, mit Ausnahme des dumpfen Schmerzes der Einsamkeit, der ihn jeden Abend überkam.
Die Buchhandlung befand sich im Einkaufsviertel und lag neben Feinsteins Bäckerei und gegenüber dem Fischgeschäft von Herrn Sokolov. Deswegen mangelte es ihm nie an gutem Essen, an Gesellschaft jedoch schon. Zumindest, seit sein Vater nicht mehr da war. Seine Eltern waren nie alleine gewesen. Zuerst hatten sie einander gehabt. Später hatte der Vater Max gehabt. Max selbst hatte zwar Freunde, aber das war nicht dasselbe.
Als Max an diesem Vormittag vom Lyzeum nach Hause kam, durchsuchte er den Schrank im Schlafzimmer, bis er das alte Grammofon seiner Mutter und die dazugehörigen Schallplatten fand. Alles war staubig, weil es nicht benutzt wurde. Er bezweifelte, dass die Platten funktionierten. Doch er legte eine auf, und tatsächlich ertönte eine Opernstimme, hoch und weit entfernt und kratzig. Das klang überhaupt nicht wie die Geigenmusik, die er gehört hatte. Nicht einmal annähernd. Und er spürte es wieder in seinem Bauch. Diesen Schmerz, diese Leere.
Max öffnete die Buchhandlung um zwölf Uhr, wie jeden Tag außer sonntags, und richtete die Bücher in den Regalen aus. Plötzlich fiel sein Blick auf den Schrank hinten im Laden. Sein Vater hatte vor Jahren ein Schloss installiert und ein Schild an die Schranktür gehängt, auf dem er die Kunden aufforderte, sich von dem Schrank fernzuhalten: Achtung! Das Schild hing noch dort, aber es war nicht mehr sichtbar, weil Max ein paar Monate zuvor ein Bücherregal vor die Schranktür gerückt hatte.
Er hatte diese Tür nur einmal geöffnet. Im Juni, nur einen Monat nachdem sein Vater gestorben war. Der Schmerz war frisch gewesen, und das Geschäft flaute bereits ab. Die allgemeine Wirtschaftslage war schlecht, und die Leute mussten ihr spärliches Geld für Nahrungsmittel ausgeben anstatt für Bücher. Außerdem hatte sich seine Freundin Edda gerade von ihm getrennt, und er tat sich selbst leid. Er hatte sich gefragt: War es das gewesen? War das alles, was er vom Leben erwarten konnte? Oder kommt da noch etwas?
Die Glocke über der Ladentür läutete und lenkte seine Aufmerksamkeit auf die andere Seite des Ladens. Zu seinem Entsetzen und seiner Freude betrat sie seine Buchhandlung. Das schöne Mädchen, das im Lyzeum Geige gespielt hatte.
Er starrte sie mit leicht offenem Mund an. Sie war größer als gedacht, nur einen Kopf kleiner als er selbst. Ihr braunes Haar war hinten am Kopf zu einem Knoten geschlungen. Einige widerspenstige Locken hatten sich gelöst und fielen nach vorne über ihr herzförmiges Gesicht. Sie schob sie geistesabwesend zurück.
»Sie haben dies hier vergessen«, sagte sie brüsk. »Als Sie heute Morgen . Was haben Sie da eigentlich gemacht? Mich ausspioniert, oder so?« Sie hielt ein Buch hoch.
Erst in diesem Augenblick erinnerte er sich daran, dass er es in der Hand gehabt hatte, als er auf sie zugelaufen war. Er hatte es als Lektüre dabeigehabt und es wohl im Hörsaal abgelegt. Wie alle Bücher, die er im Geschäft verkaufte, trug auch dieses einen Stempel mit dem Namen und der Adresse des Geschäfts im hinteren Umschlag. Ein Kniff, wie sein Vater es genannt hatte, um die Kunden daran zu erinnern, nach der letzten Seite zurückzukehren und ein weiteres Buch zu kaufen.
Max nahm das Buch entgegen und bedankte sich bei ihr. »Ich bin Max«, sagte er. »Max Bissinger.«
»Ach, dann ist das also Ihr Laden?« Sie fuhr mit den Fingern über eine Reihe von Buchrücken in einem Regal. Buchhandlung Bissinger. Die Worte, die auf der Rückseite des Buches eingestempelt waren, prangten auch auf der Glasfront des Geschäfts.
»Ja, er gehörte meinem Vater, der kürzlich verstorben ist.«
Sie sah vom Bücherregal auf, und ihr Gesichtsausdruck wurde freundlicher. »Oje, das tut mir leid.« Sie ging auf ihn zu und streckte die Hand aus. »Hanna Ginsberg.«
Er nahm ihre Hand und schüttelte sie. Ihre Finger waren zierlich und dünn, fühlten sich aber ziemlich stark an. »Ich wollte Sie nicht stören. Ich hatte bloß den falschen Raum erwischt. Ihr Geigenspiel - es ist so schön.«
Sie lächelte zaghaft und zog die Hand weg. »Nun, das ist sehr nett von Ihnen, aber Herr Fruchtenwalder, mein Lehrer, findet, es sei nicht gut genug für das Sinfonieorchester.«
»Nicht gut genug? Ist der verrückt?«, fragte Max hastig.
Sie lachte. »Sie sind auch Geiger?«
Er schüttelte den Kopf. »Ihr Spiel ist wunderbar. So etwas habe ich noch nie gehört.«
»In und um Berlin gibt es Hunderte Geiger. An mir ist nichts Besonderes«, erwiderte sie.
»Das...
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