Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Zu Beginn wusste Christoph nichts über die Kraft des Stichels. Er verstand nicht, dass das kleine Gravurwerkzeug sie am Ende retten konnte. Oder umbringen. Er wusste bloß, dass man mit dem Stichel nicht sauber arbeiten konnte. Er eignete sich nicht für Stahl, nur für Leinwand.
Es gefiel ihm nicht, wie er in seiner Hand lag. Ungewöhnlich schwer, kaum zu beherrschen. Er hätte sich gewünscht, damit so leicht Linien ziehen zu können wie mit einem Pinsel oder einem Stück Kreide, doch er blieb ständig hängen. Es frustrierte ihn, dass er den Stahl nicht so elegant bearbeiten konnte wie sein Lehrmeister Friedrich.
Vielleicht würde Friedrich ihn ja hinauswerfen? Dann müsste er sich nicht nur eine neue Arbeit, sondern auch eine neue Unterkunft suchen. Als Lehrling von Friedrich bekam Christoph Kost und Logis bei der Familie Faber in deren wunderschönem Haus außerhalb von Großenburg - und zusätzlich noch fünf Schilling die Woche.
Was allerdings noch wichtiger war, er bekam die Gelegenheit, das Handwerk zu erlernen, für das Friedrich Faber in ganz Österreich bekannt war: die Briefmarkengravur. Sein größtes Werk war die beliebteste und nach Christophs Meinung auch die künstlerisch wertvollste Briefmarke des Landes, die 12-Groschen-Edelweiß. Die Marke zeigte eine atemberaubende Darstellung der schönen weißen Blume. Friedrich hatte sie im Jahr 1932 sowohl entworfen als auch graviert.
Christoph erinnerte sich genau daran, wie er diese Marke einmal auf einen Brief an seine Mutter geklebt, diesen jedoch nie abgeschickt hatte. Man konnte keine Briefe an Menschen schicken, die es nicht gab oder deren Aufenthaltsort trotz aller Mühe nicht zu ermitteln war. Schon mit dreizehn hatte Christoph die Schönheit der Marke bewundert, die perfekten Schwünge der Blütenblätter.
Er hatte immer davon geträumt, seinen Lebensunterhalt als Künstler zu verdienen. Als er im vorigen Herbst von einem anderen Straßenkünstler in Wien gehört hatte, dass Friedrich Faber, der Friedrich Faber, einen neuen Lehrling suchte, hatte er sein Arbeitszeug zusammengepackt und sein Erspartes für die zweihundert Kilometer weite Fahrt nach Großenburg geopfert. Als er dort angekommen war, hatte er Friedrich davon überzeugt, ihm die Stellung zu geben, indem er ihm einige seiner Kreidezeichnungen von Wien vorlegte.
»Du hast ein gutes Auge«, hatte Friedrich gesagt, als er das Werk betrachtete, das Christoph für sein bestes hielt. Den Stephansdom, herausgearbeitet in feinstem Detail. Friedrich hob eine seiner grauen Augenbrauen. »Aber was verstehst du von Stahl, mein Junge?«
»Ich lerne schnell«, hatte Christoph darauf geantwortet, und das schien Friedrich überzeugt zu haben.
Leider hatte sich bald herausgestellt, dass das nicht stimmte, jedenfalls, was das Gravieren anging.
Den Umgang mit dem Grabstichel beherrschte Christoph noch lange nicht, aber wenigstens zwei Dinge hatte er in den ersten paar Wochen begriffen. Erstens: Friedrich war älter, als Christoph ihn anfangs eingeschätzt hatte. Manchmal zitterten ihm die Hände, wenn er Christoph zeigte, wie man mit den Werkzeugen umging.
Friedrich hatte Christoph erklärt, er brauche einen Lehrling, weil genügend Arbeit für zwei Graveure anfiel, aber inzwischen vermutete Christoph, der wahre Grund für seine Einstellung war, dass Friedrich sein Handwerk bald aufgeben musste. Friedrich hatte keine Söhne.
Zweitens: Friedrich hatte zwei Töchter. Elena war siebzehn, ein Jahr jünger als Christoph, und erinnerte ihn an ein Edelweiß. Sie hatte schneeweiße Haut, lange, hellbraune Locken und strahlend grüne Augen. Miriam war dreizehn. Wenn Elena eine Blume war, dann war Miriam die summende Biene, die die Blume nicht in Ruhe ließ. Frau Faber verdrehte manchmal genervt die grünen Augen und nannte Miriam einen Irrwisch. Christoph fand Miriam unterhaltsam, ganz im Gegensatz zu ihrer Familie.
Er gewöhnte sich schnell an das Leben in Großenburg, wo es grün und ruhig war, anders als in der Großstadt mit ihren vielen Häusern und Menschen. Jeden Morgen wachte er auf und erblickte den Wald vor der bergigen Landschaft.
Zudem fühlte er sich auch im Esszimmer der Familie Faber wohl, wo es nach den köstlichen Eintöpfen von Frau Faber duftete und freitags im Schein der Kerzen das Brot gebrochen wurde. Das Sabbatbrot schmeckte wunderbar. Christoph hatte so etwas noch nie zuvor gegessen. Schon gar nicht im Waisenhaus in Wien, wo die Nonnen immer nur über eine einzige Religion redeten.
Er war nicht unbedingt ein gläubiger Mensch, fühlte sich aber zu den Fabers hingezogen, zu dieser fröhlichen, intakten Familie. Jedenfalls eher als zu Gott oder einer organisierten Religion.
»Miriam, hör auf, ständig herumzuzappeln«, ermahnte Frau Faber ihre Tochter eines Abends.
Christoph war schon fast einen Monat in der Lehre und machte noch keine Fortschritte bei der Stahlbearbeitung. Allerdings hatte er Friedrich am selben Tag mit einer Landschaftsskizze beeindruckt, und noch einen halben Tag später sonnte er sich in Friedrichs Lob, die Arbeit sei gar nicht mal so übel.
»Ich zappele doch gar nicht, Mutter«, entgegnete Miriam in einer Art Singsang, während sie auf ihrem Stuhl herumrutschte und Christoph von der Seite her anlächelte.
Christoph verbarg sein Lächeln hinter dem Suppenlöffel. Er sah zu Elena hinüber, doch die wandte den Blick ab. Er war sich nicht sicher, ob sie unhöflich oder nur schüchtern war. Benahm sie sich stets so distanziert oder nur in seiner Gegenwart?
»Elena, mein Schatz, hol doch noch ein oder zwei Scheite Holz. Es ist kalt hier drin«, sagte Frau Faber.
Es war Hochwinter, kalt und dunkel, und im dreistöckigen Holzhaus der Fabers zog es fürchterlich. In Christophs Dachzimmer stand zwar ein kleiner Ofen, aber er musste sich trotzdem unter zwei Lagen Decken kuscheln, um es nachts einigermaßen warm zu haben. Das war jedoch tausendmal angenehmer als im zugigen Schlafsaal des Waisenhauses, wo jeder nur eine dünne Decke bekommen hatte. Und Frau Faber kochte viel besser als die Nonnen.
Elena legte ihren Suppenlöffel beiseite und stand auf. Christoph versuchte noch einmal, Blickkontakt aufzunehmen, doch sie sah nicht auf.
»Ich helfe dir«. Unwillkürlich erhob sich Christoph. Elena sah ihn an. Endlich hatte er ihre Aufmerksamkeit erregt.
Ein Schatten legte sich über ihr hübsches Gesicht. »Das ist nicht nötig .«
Frau Faber unterbrach sie: »Danke, Christoph, das ist sehr nett von dir.«
Er schenkte Frau Faber ein Lächeln und folgte Elena. Wortlos durchquerten sie die Küche und nahmen den Hinterausgang in Richtung des Holzlagers, das sich vor Friedrichs Werkstatt befand. Der Boden war gefroren und knirschte unter jedem ihrer Schritte. Die kalte Abendluft biss sie in die Wangen. Keiner von beiden hatte an einen Mantel gedacht.
Elena zitterte. Als sie nach dem Holz auf dem Boden griff, fiel ihr Haar über ihre Augen. Christoph musste sich beherrschen, um es ihr nicht zurückzustreichen. Er bückte sich und nahm ihr das Holzscheit aus den Händen.
»Also wirklich«, sagte sie spitz und holte sich das Holzscheit zurück. »Das schaffe ich schon. Ich habe das immer allein gemacht. Ich brauche deine Hilfe nicht.«
»Aber ich möchte dir helfen«, erwiderte er. »Das mache ich gern.«
Elena funkelte ihn zornig an. Da begriff er, dass sie nicht schüchtern war. Sie konnte ihn einfach nicht leiden. Diese Erkenntnis ärgerte ihn. Konnte man das nicht ändern?
Bevor er etwas sagen konnte, drehte Elena sich um und marschierte wieder Richtung Haus. Christoph schnappte sich ein Holzscheit und rannte ihr nach. Er erreichte sie kurz vor der Tür und fasste sie an der Schulter.
»Habe ich was falsch gemacht?«, keuchte er leicht außer Atem. Seine Worte schwebten wie Rauchwölkchen in der eisigen Luft.
»Falsch gemacht?«, wiederholte sie.
»Irgendwas, das dich gestört hat?«
»Wie kommst du denn darauf?« Ihr Atem malte kleine Kringel in die Luft. Sie zitterte wieder.
»Ach, schon gut«, sagte er. »Gehen wir rein. Du frierst.«
»Hör mal«, sagte sie. »Wir sind keine Freunde und werden auch keine. Ich gehe davon aus, dass du nicht lange bei uns bleibst. Sie bleiben nie lange bei uns.«
»Sie?« Zum ersten Mal dachte er an den Lehrling, der vor ihm gekommen war. An die letzten paar, die vor ihm gekommen waren. Hatten sie alle mit dem Stichel versagt wie er und waren hinausgeworfen worden?
Elena gab keine Antwort. Sie trug das Holz hinein und legte es ins Feuer. Christoph machte es ihr nach, dann entschuldigte er sich und ging in seine Kammer. Dort wickelte er sich in zwei Decken ein, holte seinen Skizzenblock hervor und nahm ein Stück Zeichenkohle zur Hand.
Er malte Elenas wütende grüne Augen. Wie lange würde er diesen Ort wohl noch sein Zuhause nennen dürfen?
Am nächsten Tag in der Werkstatt hatte Christoph Mühe, bei der Sache zu bleiben. Er tat sich noch schwerer als bislang, und seine Übungslinien mit dem Grabstichel sahen schrecklich aus.
Als es vor dem Abendessen Zeit zum Aufräumen war, sah Christoph seinen Lehrmeister an und fragte: »Werden Sie mich hinauswerfen?«
»Dich hinauswerfen?« Friedrich war beinahe kahl, aber seine Augenbrauen waren buschig und standen über Augen, die so grün waren wie Elenas.
»Ich stelle mich nicht gerade geschickt an mit dem Stahl«, sagte Christoph kleinlaut. Seine Stimme zitterte ein wenig. »Vielleicht bin ich für diese Arbeit ja nicht gemacht. Vielleicht sollten Sie mich...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.