Schweitzer Fachinformationen
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»War das wirklich nötig? Verliert er so nicht die Authentizität?«
»Das hängt davon ab, wie wir Authentizität definieren.« Der Dozent stolziert durch den Raum. Sein Bart ist ungepflegt, er trägt eine bunte Fliege um den Hals. In den Händen hält er ein kleines Notizbuch, allerdings hat er es während der ganzen Zeit nicht einmal aufgeschlagen, sondern nur damit gespielt. Ich verwette meine Rente, dass das Notizbuch leer ist, nicht mal eine Zeile hat der geschrieben. Gut, vielleicht eine Einkaufsliste. Gedankenversunken macht er noch ein paar Schritte, dann bleibt er vor der jungen Frau stehen, die ihm die Frage gestellt hat: »Was ist authentischer, das Original oder die Übersetzung?«
»Das liegt doch auf der Hand«, antwortet sie, zuckt mit den Schultern und verzieht das Gesicht wie ein Mathematiker, den man gefragt hat, ob zwei und zwei vier ergibt. »Aber der Leser wertschätzt die Übersetzung in seine Sprache, weil sie sich für ihn wie das Original liest. Stell dir vor, es geht um deine Lieblingsstelle, du hast sie immer und immer wieder gelesen, und dann wird das Buch neu übersetzt! Die Wörter, die Satzstellung, alles ist verändert, fremd .«
»Deine Sicht der Dinge ist interessant, aber du sprichst von einem Leser, der das Buch bereits in einer anderen Version kennt.« Der Dozent hält inne, als ob er sich vergewissern wollte, dass ihm auch alle noch zuhören. »Aber wer es zum ersten Mal in dieser Übersetzung liest, könnte einen besseren Zugang zu diesem Buch finden, wenn es in einer moderneren Sprache übersetzt ist.«
In Momenten wie diesem beneide ich meinen armen Domenico um sein Hörgerät. Er war fast taub, und immer wenn er sich in Gesprächen langweilte, schaltete er es einfach aus, lächelte wissend und tat so, als würde er zuhören.
Nina hat ihre Buchhandlung für diesen Abend ihrer Lesegruppe zur Verfügung gestellt, und wir diskutieren etwa seit einer Stunde über den Wert von Übersetzungen. Um ehrlich zu sein, die anderen diskutieren, während ich warte, dass der Dicke in der karierten Jacke, der die ganze Zeit auf sein Handy starrt, endlich aus dem Sessel aufsteht und ich mich auf meinem Stammplatz ausruhen kann.
Nicht dass ich die Diskussion nicht interessant fände. Die Ansätze sind viel versprechend, der gut aussehende Dozent hat Charisma, dem ich auf der Stelle erliegen würde, wenn ich fünfzig Jahre jünger wäre und mehr Wert auf Äußerlichkeiten legen würde. Aber schon der Titel der Veranstaltung schreckt ab, »Kreativ lesen« . was soll das denn bitte sein?
Ich glaube nicht, dass das bei mir funktioniert.
Ich habe schon immer gerne gelesen und finde mich durchaus kreativ. Aber bis heute fällt es mir schwer, meine Leseerlebnisse mit anderen zu teilen, es sei denn, es sind Menschen, die ich wirklich schätze. Vielleicht, weil es mir peinlich ist, dass ich nicht studiert habe, sondern mir alles selbst beigebracht habe.
»Genau, wie bei Shakespeare!«, nimmt der Dozent den Faden wieder auf und deutet mit dem Notizbuch auf eine Frau mittleren Alters, die ihn regelrecht anhimmelt. »Die englischen Schüler hassen ihn wegen seiner antiquierten Sprache, wir dagegen, die seine Werke in der Übersetzung lesen können, sind von ihm fasziniert. Das Gleiche gilt für Don Quijote von Cervantes für die spanischen Leser.«
»Das heißt .«, murmelt der Typ im Sessel, der immer noch auf das Display seines Handys starrt, »dass es irgendwo auf der Welt Leser gibt, die tatsächlich Gefallen an dem ollen Dante finden?«
Ich bin entsetzt und muss mich zurückhalten, diesem Banausen nicht die Taschenbuchausgabe von »Stoner« an den Kopf zu werfen, in der ich gerade blättere. Zu dünn. Der hätte mindestens »Krieg und Frieden« verdient.
»Warum sagst du nichts?«, flüstere ich Nina zu, die einige Schritte von mir entfernt an einem Regal lehnt. Nach all den Diskussionen, die wir über die »Göttliche Komödie« geführt haben, hätte ich etwas zur Verteidigung von Signor Alighieri erwartet. Aber sie wirkt abwesend. Egal, auf welche Art und Weise ich versuche ihre Aufmerksamkeit zu erregen, sie reagiert nicht.
Seit sie weiß, dass die Liebe auch dieses Mal kompliziert und schmerzhaft ist, ist sie kaum wiederzuerkennen, so introvertiert, bedrückt und melancholisch ist sie. Wenn Kunden den Laden betreten, wirkt ihr sonst so strahlendes Lächeln aufgesetzt, sie scheint sogar erleichtert zu sein, wenn sie wieder gehen. Auch heute Abend hat sie kaum vier Sätze gesprochen, während es sonst regelrecht aus ihr heraussprudelt.
Über Andrea, den rätselhaften und leider verheirateten Herzensbrecher, hat sie noch kein Wort gesagt. Ich habe das respektiert, auch wenn ich in meinem Stolz verletzt war. Schließlich bin ich eine durchaus vertrauenswürdige alte Dame. Wer weiß, vielleicht hat sie befürchtet, ich würde ihr Vorwürfe machen, dass sie so schnell bereit war, Filippo Hals über Kopf zu verlassen.
Ach, wenn du wüsstest, meine liebe Nina, wie wenig ich von deinem Verlobten halte!
Schon als ich Filippo das erste Mal bei einer Lesung in deiner Buchhandlung traf, war mir klar, dass er nicht der Richtige für dich ist. Und kurz nach meinem Unfall habe ich die traurige Bestätigung dafür bekommen.
Vielleicht hätte ich meine junge Freundin warnen sollen, ihr sagen, was ich wusste, selbst auf die Gefahr hin, dass es sie verletzte und sie mich für ein altes Klatschweib gehalten hätte. Manchmal hilft eben nur die Wahrheit, auch wenn sie schwer zu akzeptieren ist. Aber jetzt, wo sie ihn ohnehin fast abserviert hat, bin ich fest davon überzeugt, richtig gehandelt und ihr mit meinem Schweigen unnötigen Schmerz erspart zu haben.
»Geht es dir gut, meine Liebe?«, frage ich leise, mache ein paar Schritte auf sie zu und berühre sie leicht an der Schulter. Sie zuckt zusammen, als ob sie ein Blitz getroffen hätte, dreht sich kurz zu mir um und macht die Augen schmal, wie immer, wenn sie Sorgen hat und nicht darüber reden will. Dann seufzt sie und schaut wieder zu dem Mann mit der Fliege, der vor sich hin doziert.
». genau aus diesem Grund würde auch die Neuübersetzung von >Der Fänger im Roggen< noch mehr junge Leser für dieses Buch begeistern.«
»Ich bin immer noch anderer Meinung, was die Modernisierung der Sprache angeht«, die junge Frau bleibt hartnäckig, »Salinger hat den Roman in den fünfziger Jahren geschrieben, deshalb sollte sich auch die Sprache an dieser Epoche orientieren, um den Geist der Zeit besser zu vermitteln .«
Wann habe ich eigentlich »Der Fänger im Roggen« zum ersten Mal gelesen? Das muss wohl 1962 gewesen sein.
Ich lag nach der Geburt meiner jüngsten Tochter, der Drittgeborenen, im Krankenhaus. Mein Mann hatte sich den Roman mitgebracht, damit er etwas zu lesen hatte, wenn ich nach dem Stillen in ein wohlverdientes Nickerchen sank. Doch das Buch zog mich magisch an, ich musste es einfach lesen, obwohl Domenico noch gar nicht durch war. Im Nachhinein bin ich sicher, dass ich ihm damit sogar einen Gefallen getan habe, er hat er nie ausgelesen. Er war ein Mann für Sherlock Holmes und Poirot, aber nicht für Salinger. Er hätte die Erlebnisse des Protagonisten nicht wirklich schätzen können. Wenn ich ehrlich bin, kann ich mich heute gar nicht mehr genau an die Handlung erinnern, obwohl sie mich damals fasziniert hat.
Vielleicht sollte ich das Buch noch einmal lesen, dieses und die vielen anderen Bücher, die ich bis zur Besessenheit geliebt habe. Aber diese Art von Vergötterung vergeudet kostbare Lesezeit. Ein Leben ist zu kurz, um Bücher zweimal zu lesen.
»Nochmal danke für deine Unterstützung, Nina, deine Buchhandlung ist wirklich etwas ganz Besonderes, ganz genau wie du.« Der Dozent mit den kurz geschorenen Haaren zwinkert ihr zu, bereit, sein ganzes Verführungsrepertoire auszubreiten, ein Fach, in dem er noch mehr brilliert als in der Literaturwissenschaft. Doch Nina ist bereits beim Aufräumen, weiß sie doch genau, dass sie die Gunst der Stunde nutzen muss.
Wenn die Veranstaltung vorbei ist, die Besucher sich von ihren Plätzen erheben und ihre Jacken wieder anziehen, muss sie handeln, sonst sind sie verschwunden. Sie muss ein Zeichen setzen und an ihr Schuldgefühl appellieren. Seht her, ihr geht und lasst mich ganz allein mit dem ganzen Durcheinander. Habt ihr denn gar kein schlechtes Gewissen?
Mit verkrampftem Lächeln hält Nina dem Dozenten einen Stapel Klappstühle hin und dreht den Kopf in die andere Richtung. »Bitte dort hinten in den Abstellraum, danke!«
Währenddessen lasse ich mich in den Sessel sinken, der endlich wieder frei ist. Allerdings habe ich das ungute Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt.
Wenn man alt wird, hat man seine Gewohnheiten, auf die man nicht verzichten möchte. Und man wird dickköpfig. Wenn mein Sessel nicht frei ist, warte ich zum Beispiel lieber eine Stunde im Stehen, anstatt mich auf irgendeinen Stuhl zu setzen. Das macht mir gar nichts aus. Starrsinn setzt bekanntlich Energien frei.
Meine Arbeitskolleginnen haben immer gesagt: »Adele, du bist so ein Sturkopf, du solltest zur Gewerkschaft gehen!« Die wussten immer alles besser.
Ich bin meinen Weg gegangen, auch wenn ich dafür kämpfen musste. Wie damals, als ich die Schule abbrach, um Domenico in der Werkstatt zu helfen, schließlich brauchten wir das Geld, um heiraten zu können. Oder als wir von Ginosa nach Mailand gezogen sind, um uns dort unseren Lebenstraum zu erfüllen.
In der damaligen Zeit war es ein Abenteuer, das vertraute Apulien zu verlassen, um im fernen Norden zu arbeiten. Mit unseren riesigen Koffern, die wir mit Schnüren zusammengebunden hatten, wirkten wir wie...
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