Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
KAPITEL EINS
Am Anfang war das Wort. Und die Leere, das Eis im Norden, das Feuer im Süden und die Großen Wasser.
Ein Universum, erschaffen an einem Tag und in einer Nacht oder in Milliarden Jahren, in sieben Tagen oder in einem Zyklus aus Schöpfung und Zerstörung. Man brachte die Wasser dazu zu weichen, damit das Land hervorträte, oder das Land wurde aus den Windungen einer Schlange gebildet oder aus der Hälfte einer erschlagenen Meeresgöttin oder dem Fleisch und den Knochen und dem Schädel eines Giganten oder einem zerbrochenen Ei. Oder eine Insel aus geronnenem Salz tauchte auf, als das Meer von einem Speer aufgewühlt wurde. Oder das Land wurde von einem Wasserkäfer über die Wasseroberfläche gehoben oder von einer Bisamratte oder einer Schildkröte oder von zwei Seetauchern. Wie auch immer die Welt erschaffen worden war, sie wimmelte von Leben, wurde von Wesen bevölkert, die aus einer einzelnen Zelle hervorgegangen waren oder die aus Ton geformt oder aus Holz geschnitzt oder aus einer Venusmuschel befreit worden waren. Sie sind aus den sieben Höhlen ihrer Unterwelt hinaufgewandert oder durch ein Loch im Himmel hinabgestürzt, oder aus der Welt der Insekten gekrochen, die tief darunter liegt. All diese Geschichten, all diese Anfänge sind wahr, und doch enthält keine die absolute Wahrheit. Sie existieren, obgleich paradox, dennoch gleichzeitig. Die Welt ist ein Haus, das aus sich widersprechenden Blaupausen errichtet wurde, weniger eine Geschichte als vielmehr ein Gespräch. Aber es ist keine Welt ohne Komplikationen, ohne Konflikte. Oder ohne Nähte.
Eine dieser Komplikationen war ein Mann namens Jude Dubuisson, ein Mensch aus Fleisch und Blut und gleichzeitig göttlich. Er starrte auf den Jackson Square, auf die breite weiße Fassade der St. Louis Cathedral, auf den flatternden Schwarm fetter Tauben, auf die gezeitengleichen Touristenströme auf den Pflastersteinen, und sah doch nichts davon. Er war taub für seine Umgebung, das ständige Murmeln der Menschenmenge, das Klappern der Hufe auf dem Pflaster und das laute Tuten der Dampforgel des Schiffs, das vom Fluss herüberschallte. Seine Aufmerksamkeit war nach innen gerichtet, auf Gedanken an das alte Leben, das er so sehr zu vergessen versucht hatte. Auf all die Jahre, in denen er zwischen den Welten der Götter und der Menschen gestanden hatte, der Lebenden und der Toten.
Sein ganzes Erwachsenenleben hatte er auf dem Saum zwischen diesen beiden Welten balanciert und beiden Schwierigkeiten gemacht - ein lebendiger, atmender Konflikt mit einem Scheiß-drauf-Grinsen. Allerdings war das vor dem Sturm gewesen. Diese Erinnerungen gehörten einem anderen Mann. In den sechs Jahren seit jenen schicksalhaften Tagen des Jahres 2005 hatte er versucht, das alles hinter sich zu lassen. Hatte versucht, all die unmöglichen Dinge zu verdrängen, von denen er wusste. In den letzten Tagen jedoch war die Vergangenheit wie eine Sturmwolke am Horizont aufgezogen, ein Gewitter, das unaufhörlich grollte, eine Schwermut, die sich einfach nicht zerstreuen ließ.
Die Vergangenheit weigerte sich schlichtweg, tot zu bleiben.
Jemanden wie Jude würden die liberaleren Geister in der Stadt, für die der Ausdruck »Mischling« irgendwie beleidigend klang, heutzutage einen »Kreolen« nennen. Die älteren Leute würden ihn als »rotknochig« bezeichnen, eine undefinierbare Melange aus weißen und afrikanischen Vorfahren, gewürzt mit allen möglichen anderen Zutaten, die es in den Gumbo geschafft hatten. Jude wusste nur, dass er hellbraune Haut hatte, eine weiße Mutter und einen Vater, den er nie kennengelernt hatte. Dem Rest der Welt schien seine Ethnie irgendwie immer wichtiger zu sein als ihm selbst.
Sein Haar war kurz geschoren und sein Bart eher stoppelig als stylish. Er trug eine Jeans und ein langärmeliges Oberhemd, trotz der schwülen Hitze, die sich im Sommer über New Orleans legte. Eine Hitze, die jede Betätigung zu einer Mühsal machte, selbst einen Atemzug. Das feuchte Hemd klebte an seiner Haut, und der Schweiß rann ihm das Kreuz hinunter. Jude wollte sich gerade zerstreut das Gesicht abwischen, mit einem Stofftaschentuch, das ein Gentleman stets bei sich trug, wie seine Mutter es ihn gelehrt hatte. Aber er hielt inne und wurde aus seiner Selbstbetrachtung gerissen, als er plötzlich den Lederhandschuh bemerkte. Er ließ die Hand wieder auf seinem Schoß verschwinden.
Es achtete jedoch ohnehin niemand auf ihn. Er saß seit dem frühen Morgen an der Ecke direkt gegenüber vom Muriel's, hatte seine Klappstühle und den wackligen Tisch aufgebaut, eine Kreidetafel, eine Geldschachtel und einen zerlesenen Paperback-Atlas ausgelegt, wie an den meisten Tagen. Aber in all den Stunden, die er jetzt auf dem Platz gesessen hatte, hatten nur wenige Leute sich die Mühe gemacht zu fragen, was die Tafel bedeute. Hingesetzt hatte sich keiner. Seine Dienste gehörten im Gegensatz zu den Tarotkartenlegern und den Blaskapellen und den Kunsthändlern nicht zum Klischee des Quarters und blieben folglich unter dem Radar des durchschnittlichen Touristen.
Heute aber passte der Mangel an Kunden zu seiner Stimmung. Es wäre ihm schwergefallen, Interesse an den Problemen irgendwelcher Leute vorzutäuschen, da seine Gedanken unaufhörlich kreisten. Sie rannten in seinem Verstand herum, angespannt und nutzlos wie ein werdender Vater. Oder wie ein Verbrecher, der auf seine Exekution wartete.
Ein junger Straßenkünstler, Jude vergaß immer wieder, ob er Timmy oder Tommy hieß, blieb vor seinem Tisch stehen und warf einen langen Schatten. Jude quittierte diese Störung seiner Gedanken mit einem Stirnrunzeln, obwohl er den Schatten zu schätzen wusste. Das Gesicht des weißen Jungen war mit den verschwitzten Resten einer Clownsbemalung verschmiert, die sich bei seinem offenen Lächeln verzerrte. Er trug ein Golf-Cap und eine Tweedweste ohne Hemd darunter. Die beiden Männer trennten weniger als zehn Jahre, vielleicht gerade fünf, aber in Judes Augen war der andere noch ein Junge.
Jude war mehr an Schweigen als an Sprechen gewöhnt und musste erst einmal seine Stimme suchen, bevor er etwas sagen konnte. »Brauchst du was?«, krächzte er.
»Wollte dich grad dasselbe fragen.« Der Junge setzte sein Cap ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wollte zum Lebensmittelladen um die Ecke.« Er wedelte mit der Mütze in die Richtung des Ladens, bevor er sie wieder aufsetzte.
Jude schüttelte den Kopf. »Trotzdem danke.«
»Nicht dafür«, antwortete der Junge, wandte sich zum Gehen und blickte zurück.
»Kommst du morgen Abend?« Jude zuckte ratlos mit den Schultern. Der Junge hob resigniert die Hände. »Ich habe es dir ja auch erst - wie oft gesagt, zwölfmal? Dass meine Band endlich den Gig bekommen hat? In der Circle Bar?«
»Ach ja, richtig«, erwiderte Jude. Er stellte sich vor, wie er mit einem Haufen Fremder in der winzigen Bar zusammengepfercht wurde. »Ja, ich versuche zu kommen«, log er.
Das Grinsen des Jungen machte diesen noch mal fünf Jahre jünger, und Jude kam sich plötzlich wie eine ältere, zynischere Version seiner selbst vor. Tommy ging zum nächsten Tisch, und die lockere Sohle eines seiner Schuhe klatschte auf die Straße. Es wirkte irgendwie kläglich.
Jude seufzte und inhalierte die Vielzahl der Gerüche des Quarters: schales Bier, Moschusduft und der feuchte, dunkle Geruch des Flusses. So zu leben wie er war schwer, verborgen in den Nähten zwischen dem Leben, das er gekannt hatte, und diesem neuen Leben, das er wie eine Maske trug. Aber wegen all der Dinge, an die er nicht zu denken versuchte, gehörte Jude genau hierher.
Glaubte er jedenfalls.
Kurz darauf hatte Jude seine ersten und einzigen Kunden an diesem Tag, ein Pärchen von außerhalb. College-Kids, jedenfalls den griechischen Buchstaben auf ihren T-Shirts und den knallgrünen Plastik-Trinkbechern in ihren Händen nach zu urteilen. Sie war ein weißes Mädchen, das stundenlang in der Sonne gelegen hatte, um sich zu bräunen, und er war irgendetwas Westasiatisches, sprach aber mit einem stocklangweiligen amerikanischen Akzent. Jude vermutete, dass die beiden ein Liebespaar waren, so wie der Junge die Hand auf die Schulter des Mädchens legte und sie beide vorstellte, Mandy und Dave. Als machte die Konjunktion aus ihnen eine Einheit. Mandy schien erheblich neugieriger zu sein als ihr Begleiter. Als sie Jude fragte, was sein Schild bedeute, blickte Dave angelegentlich auf die andere Seite des Platzes, als suchte er nach einer Fluchtmöglichkeit.
»Es bedeutet das, was da steht«, erwiderte Jude. »Wenn Sie etwas verloren haben, kann ich Ihnen sagen, wo es ist.«
»Wirklich, echt alles?« Mandy warf einen kurzen Blick auf Dave, ob er auch zuhörte.
»Ja«, antwortete Jude, »wirklich echt alles.« Sie schien den amüsierten Spott in seiner Stimme nicht zu bemerken, aber Dave drehte sich um und warf ihr einen finsteren Blick zu.
»Das ist doch nur ein Schwindel«, erklärte er.
»Ihr erster Versuch ist kostenlos, wenn Sie nicht zufrieden sind«, sagte Jude. »Und zehn Mäuse, wenn doch.«
Daves Miene verfinsterte sich, aber Mandy setzte sich auf einen der Aluminiumstühle vor Jude.
»Komm schon, Schatz, lass es mich zumindest versuchen. Mom bringt mich um, wenn sie erfährt .« Sie warf einen berechnenden Blick in Judes Richtung. »Wenn sie erfährt, was ich verloren habe.« Dave stöhnte ungläubig, warf einen Blick auf sein Handy und verkniff sich gerade noch, mit dem Fuß auf das Pflaster zu klopfen, um seine Ungeduld zu demonstrieren. Sein ganzes Verhalten sagte Jude, dass er schon einmal über den Tisch gezogen worden war.
Aber Jude war kein...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.