Schweitzer Fachinformationen
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Wenn der Tod kommt, hat er die Sense des Schnitters geschultert, und seine skelettartige Gestalt wird von einem weiten schwarzen Mantel verhüllt. Sie hingegen steigt vom Himmel herab, rittlings auf einem prächtigen Pferd, die blutbefleckte Rüstung funkelt im Licht des Sonnenuntergangs auf dem Schlachtfeld, während sie einen gefallenen Krieger zum ewigen Festmahl trägt. Er wiederum geht voraus zur Waage der Gerechtigkeit, die menschlichen Arme einladend ausgebreitet, während sein gieriger Blick abwägend und hungrig über seine Schakalschnauze schweift. Und sie wartet - entweder abscheulich hässlich oder unsagbar schön, je nachdem, wie man sein Leben gelebt hat - auf der anderen Seite einer Brücke, die ein Regenbogen sein mag oder die Milchstraße oder beides, eine Brücke, die entweder tückisch und schmal ist wie ein einzelnes Brett oder breit, stabil und sicher, je nachdem, was man verdient hat. Es gibt Spatzen und Eulen, Delfine und Bienen, Hunde und Raben und Flattermänner. Es sind die vertrauten Gesichter von Vorfahren, die zuvor gegangen sind, leuchtende Wesen, unmöglich zu beschreiben: Sie sind die willkürlichen Zündungen der Synapsen, wenn der Funke des Lebens erlischt. Er ist ein Moment, den alle erleben müssen. Sie ist eine Gestalt, die sowohl gefürchtet als auch angenommen werden muss. Und beide sind das Konzept, das alle anderen beherrscht; eine Konstante, wie Entropie, wie Lichtgeschwindigkeit. Der Tod ist sowohl Ende als auch Übergang. Gleichzeitig ein Hinübergehen und ein Wegweiser auf dieser Reise, die für jedes Individuum einzigartig und doch für alle gleich ist. Der Tod ist in der Lage, all dies und mehr zu sein - alles auf einmal, ohne Konflikt oder Widerspruch, denn der Tod ist das Ende aller Konflikte, steht jenseits jeglicher Widersprüche. Er ist sowohl nichts als auch alles.
Nur eines ist der Tod nie gewesen - einsam.
Einer dieser vielen Widersprüche, eine junge Frau namens Renaissance Raines, wartete in einer Spelunke namens Pal's auf ebendiesen Tod, während sie mit dem Daumennagel das Etikett einer lauwarmen, zur Hälfte geleerten Flasche Abita abkratzte, unbemerkt, nüchtern und gelangweilt. Sie saß auf einem der hochlehnigen Drehstühle an der langen Bar, die den größten Teil des Hauptraums einnahm, und blickte auf den indirekt beleuchteten Altar aus Schnapsflaschen unter ein paar Flachbildfernsehern und Kreidetafeln mit speziellen Getränkeangeboten. An der Wand hinter ihr reihten sich mehrere kleine Tische für zwei Personen. Jetzt, am frühen Nachmittag, waren sie noch frei, aber das würde nicht mehr lange so bleiben. Die hellblauen Wände ragten hoch auf bis zur orangefarbenen Decke, die von Lampen erhellt wurde, die sich nach unten hin verjüngten und Renai an Kreisel erinnerten. Das Leben in der Bar brandete um sie herum auf - das elektronische Klimpern der digitalen Jukebox in der Ecke, das schrille, zu laute Lachen der Handvoll meist weißer Collegekids, die im hinteren Teil Airhockey spielten, die freundlichen, gedämpften Gespräche eines Quartetts Einheimischer, ein älteres schwarzes Paar, eine weiße Frau mit einem zitternden Hündchen und ein Mann mittleren Alters, ein Ureinwohner, der seinen Bauch gegen die Bar quetschte. Zigarettenrauch waberte in der Luft, die Deckenventilatoren über ihr surrten leise - und obwohl sie atmete und Blut in ihren Adern pulsierte, wirkte sie in alldem wie ein Geist. Sie sprach mit niemandem, teilte kein kameradschaftliches Schweigen, schickte keine Nachricht, um sich nach dem Verbleib von jemandem zu erkundigen, versuchte nicht, den Blick eines Fremden aufzufangen. Falls jemand Renai lange genug ansah, um sie wirklich wahrzunehmen, hätte er sich gefragt, ob sie alt genug war, um schon Bier zu trinken. Mit ihrer dunkelbraunen, jugendlich straffen Haut, die weder Lach- noch Zornesfalten aufwies, den vollen Wangen, in denen sich Grübchen bildeten, wenn sie lächelte, dem kinnlangen Haar, das sie normalerweise offen trug, nur heute nicht, wo sie es zu beiden Seiten ihres Kopfes zu je einem Knoten zusammengefasst hatte, und mit ihrer schlanken sportlichen Figur, die sich in der viel zu großen, schweren Lederjacke verlor, welche sie trotz der Hitze angezogen hatte. Einer Hitze, die selbst jetzt, Ende Oktober, noch nicht nachgelassen hatte. Aber sie wusste, dass niemand sie wahrnehmen würde.
Die meisten Leute schienen sie zurzeit überhaupt nicht zu bemerken. Sie war nicht kontrolliert worden, als sie hereingekommen war, und niemand hatte sie aufgehalten, als sie hinter den Tresen getreten war und sich ein Bier aus dem Kühlschrank genommen hatte. Stellte sie die Flasche auf dem Tresen ab, nahm der Barkeeper sie und warf sie in den Glascontainer. Wechselte sie den Stuhl und setzte sich neben die Einheimischen oder drängte sich zwischen sie, redeten sie weiter, als ob sie nicht da wäre, solange sie sie nicht berührte. Unterbrach sie die Leute, tippte jemandem auf die Schulter, zertrümmerte einen Fernseher mit einem Glas oder kreischte aus Leibeskräften, sahen die Gäste sie kurz an und warfen ihr den verwirrten Blick eines gerade wachgerüttelten Menschen zu. Verstummte sie jedoch oder nahm die Hand weg, wandten sie sich wieder ihrer ursprünglichen Beschäftigung zu, vielleicht verunsichert, aber bereits dabei, Renai zu vergessen.
Das Leben war einfach nicht mehr dasselbe seit ihrer Auferstehung.
Die Details ihres vorzeitigen Endes und ihrer ungewöhnlichen Rückkehr waren für sie immer noch frustrierend verschwommen, obwohl sie etliche Jahre Zeit gehabt hatte, sich zu erinnern. Aber sie konnte nur eine Reihe von unzusammenhängenden, lebhaften und schwer zu glaubenden Erinnerungsblitzen heraufbeschwören, die sie zusammenzufügen versuchte. Ein Moment der Gewalt in einem vertrauten Raum. Eine schwierige Reise durch einen Ort, der irgendwie sowohl New Orleans als auch ein anderer war. Eine unheimliche schwarze Straßenbahn, die es in der Welt der Lebenden nicht gab. Der Moment der Entscheidung - aber ohne genauere Einzelheiten, die sie vor einem Paar riesiger leerer Stühle getroffen hatte: die Throne, die den Tod verkörperten. Ein Wiederauftauchen in einer Betongruft mit einer anderen Stimme in ihrem Kopf: der eines Straßenmagiers namens Jude. Sein Körper, der kopfüber an einem Baum im Audubon Park hing. Eine rote Tür, die sie mit Furcht erfüllte. Nichts davon ergab einen Sinn, der für sie logisch klang.
Sicher wusste sie nur, dass sie eines späten Abends im August 2011 gestorben und an irgendeinem Septembermorgen in einem fremden Bett aufgewacht war, mit dem Gefühl, dass in der Zwischenzeit etliche Tage vergangen sein mussten, als hätte sie sich durch eine schwere Krankheit gekämpft, deren Fieber gerade nachließ. In den darauffolgenden Tagen, Wochen, Monaten und Jahren hatte sie entdeckt, dass ihre neue Existenz gewisse Konsequenzen mit sich brachte - zum Beispiel diese von ihr so empfundene Aura des Desinteresses, die Momentaufnahmen ihrer Erlebnisse in der Unterwelt, die sich in ihr Gedächtnis eingebrannt hatten, und eine seltsame, tiefe Distanz zur Welt um sie herum. Sie war noch nicht lange tot gewesen, nicht einmal eine Woche, aber das genügte, um alles zu zerstören, was sie gewesen war. Familie und Freunde hatten sie beerdigt. Urkunden waren unterzeichnet worden. Man hatte um sie getrauert. Und dann, noch bevor sie die Chance gehabt hatte, in ihre Welt zurückzukehren, hatte die sich weiterbewegt.
Sie war ins Leben zurückgeholt worden, nur nicht in ihr eigenes.
Renai nahm ein paar Schlucke Bier, als ob ihre Gedanken einen schlechten Geschmack in ihrem Mund hinterlassen hätten. Sie verzog angesichts des lauwarmen Biers das Gesicht und spielte mit dem Gedanken, sich ein kaltes zu holen. Aber eigentlich wollte sie Wärme. Kaffee, Tee, brennendes Benzin; irgendetwas, das die Kälte linderte, die seit ihrer Auferstehung tief in ihrem Inneren saß.
»Wenigstens hat sie so etwas wie Gerechtigkeit bekommen«, sagte der Ureinwohner. Er hatte einen Akzent, den Renai nicht einordnen konnte, der aber verriet, dass er nicht von hier war. »Zu wenig und zu spät, aber besser als nichts.«
Einen Moment lang glaubte Renai, er spreche von ihr, aber das konnte natürlich nicht sein. Er wusste ja nicht einmal, dass sie im Raum war. Sie hatte das Gespräch der Leute am Rande mitgehört, während sie gegrübelt hatte, deshalb wurde ihr schnell klar, dass sie immer noch über die junge Frau sprachen, die vor ein paar Jahren in ebendieser Bar ermordet und deren Mörder gerade verurteilt worden war. Die gefühlsduselige Diskussion bewegte sich zu den letzten Worten des ermordeten Mädchens, und Renai drehte sich mit ihrem Hocker von ihnen weg. Sie brauchte nicht mitzuhören, um zu wissen, was sie sagen würden. Die letzten Worte, die über die Lippen der meisten Menschen kamen, waren entweder eine Bitte um mehr Zeit oder eine Frage, auf die sie niemals eine Antwort bekommen würden.
Beides hatte Renai in den letzten fünf Jahren oft gehört.
Sie wollte gerade Geld für das Bier auf den Tresen legen - sie hatte keine Angst, erwischt zu werden, aber ihre Mama hatte schließlich keine Diebin großgezogen - und sich auf den Weg quer durch die Stadt machen, als die Tür zur Herrentoilette aufschwang und einer der Collegetypen herausstürmte. »Pah!«, rief er seinen Freunden zu. »Den Scheiß müsst ihr euch ansehen! Da sind überall obszöne Siebzigerjahre-Sprüche an den Wänden!«
»Warte nur, bis deine Süße Burt im Damenklo sieht«, murmelte Renai, die an das Poster des nackten Burt Reynolds auf dem Bärenfell denken musste, das über dem Waschbecken in der Damentoilette hing.
Wie als Antwort auf ihr Gemurmel hörte Renai ein...
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