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Erstes Kapitel
DER VIZEKÖNIG ERÖFFNET
DIE SITZUNG, DOCH JEMAND
ANDERS BEENDET SIE
Die Sitzung des Heiligen Königlichen Rates, die der Vizekönig Don Angel de Guzmán, Marqués von Castel Rodrigo, an jedem Mittwochmorgen Schlag zehn Uhr im Palast eröffnete, begann auch an diesem Tag, dem 3. September des Jahres 1677, wie üblich nach einem streng festgelegten Reglement.
Zunächst hatten fünf Dienstmädchen, nachdem sie die Fenster zum Lüften geöffnet hatten, von sechs bis acht Uhr den Boden gefegt und gewischt und die Möbel im Saal abgestaubt und poliert.
Die Lehnstühle der sechs Ratsherren waren jeweils zu dreien links und rechts des großen goldenen Thrones angeordnet, der Ihren Majestäten, den Königen von Spanien, vorbehalten war, denen sich allerdings nie die Gelegenheit geboten hatte, ihren Allerwertesten darauf zu postieren, weil keiner von ihnen je geruht hatte, sich auf die Insel zu bemühen.
Der Thron stand oberhalb von sechs hohen Stufen, auf denen ein dicker roter Teppich lag.
Auf der rechten Seite des Thrones, doch etwas versetzt und um drei Stufen niedriger, die ebenfalls mit einem roten Teppich bedeckt waren, befand sich ein weniger großer und weniger goldener Thron für den Vizekönig. Vier Schritte entfernt vom letzten der drei Lehnstühle auf der linken Seite stand ein großer Tisch mit zwei Stühlen. Das waren die Plätze des Hofnotars und des Ratsschreibers.
An der Wand hinter dem Königsthron hing ein riesiges Porträt Seiner Majestät, König Karls, das ihn von Kopf bis Fuß, doch vierfach vergrößert zeigte. Neben dem Bild prangte ein riesiges Kruzifix aus Holz. Dem Schnitzer war Jesu Gesicht nicht so recht gelungen; anstatt es von Agonie und Schmerz erschüttert darzustellen, hatte er ihm einen erzürnten, ungehaltenen Ausdruck verliehen. Derart ungnädigen Blicken ausgesetzt, war den Ratsherren, von denen nicht einer ein reines Gewissen hatte, stets unbehaglich zumute, weshalb sie es vermieden, zum Kruzifix aufzuschauen.
Kaum waren die Dienstmädchen gegangen, war der Hofschmied Alizio Cannaruto gekommen, dem die Aufgabe oblag, das komplett unter dem vergoldeten Holz verborgene Eisengerüst zu überprüfen, von dem der Kleine Thron des Vizekönigs gestützt wurde, den dieser sich als Ersatz für den zuvor verwendeten eigens hatte anfertigen lassen müssen.
Kaum war der Hofschmied gegangen, war der Oberste Vermesser, Gaspano Inzolia, mit zwei Gehilfen gekommen. Der Vermesser hatte sich vergewissert, dass alle Stühle exakt in Reih und Glied standen und keiner auch nur einen Millimeter zu weit nach vorn oder nach hinten gerückt war. Schon die kleinste Verschiebung eines Stuhles konnte die Empfindlichkeit der Ratsherren reizen und womöglich als Zeichen der Gnade oder der Ungnade des Vizekönigs missdeutet werden oder aber als Zeichen des Hochmuts eines der Ratsmitglieder und somit ernste und langanhaltende Folgen in Form von Zwietracht, Streitereien und sogar Mord und Totschlag nach sich ziehen.
Um Viertel zehn waren die zwei großen Flügel der goldenen Saaltür von den Ersten Lakaien Foti und Miccichè feierlich geöffnet worden, die sich dann kerzengerade gegenüberstanden und sich vor jedem Ratsherren verneigten, der zwischen ihnen hindurchging und sich auf seinen Platz setzte.
Aufgeblasen, in prunkvollen Kleidern und ohne auf die Verbeugung der Lakaien zu achten, waren in der Rangfolge ihrer Stellung innerhalb des Heiligen Königlichen Rates einer nach dem anderen erschienen: Seine Exzellenz Don Rutilio Turro Mendoza, Bischof von Palermo; Don Giustino Aliquò, Fürst von Ficarazzi und Stadthauptmann; Don Alterio Pignato, Herzog von Batticani und Oberster Schatzmeister; Don Severino Lomascio, Marchese von Roccalumera und Königlicher Richter; Don Arcangelo Laferla, Graf von Naso und Großadmiral, und schließlich Don Cono Giallombardo, Baron von Pachino und Oberster Verwalter.
Dann war der Hofnotar Don Gerlando Musumarra eingetreten und nach ihm der Ratsschreiber Don Ernesto Rutè.
Nun waren die beiden Ersten Lakaien zum Ersten Kammerdiener des Vizekönigs gegangen und hatten gemeldet, alle Ratsmitglieder seien versammelt und warteten hinter der geschlossenen Tür geflissentlich darauf, dass Seine Exzellenz Don Angel erscheine.
Inzwischen war es halb zehn.
Der Vizekönig, Marqués Don Angel de Guzmán, hatte, als er knapp zwei Jahre zuvor in Palermo an Land gegangen war, jedermann aus zwei Gründen in Erstaunen versetzt.
Der erste war sein jugendliches Alter, hatte er doch noch nicht die dreißig erreicht, und soweit man in Sizilien zurückdenken konnte, hatte es nie einen Vizekönig unter fünfzig gegeben.
Der zweite war seine große Magerkeit, an Don Angel war nicht ein Gramm Fett, seine Haut saß ihm direkt auf den Knochen, und er wog allenfalls etwas mehr als dreißig Kilo. Ein kräftiger Windstoß hätte ihn durch die Luft gewirbelt wie ein dürres Blatt.
Er war allein nach Palermo gekommen, doch einen Monat später traf eines Nachts mit dem Schiff auch seine Gemahlin Donna Eleonora di Mora ein, die zwar Spanierin, doch sizilianischer Herkunft und zudem seit ihrem elften Lebensjahr Waise war. Man hatte sie damals in ein Kloster gesteckt, wo sie Unterricht erhielt, unter anderem in Italienisch, und das sie erst im heiratsfähigen Alter wieder verließ. Don Angel und Eleonora waren ein frischgebackenes Ehepaar, sie hatten erst drei Monate zuvor geheiratet. Über Donna Eleonora war sogleich zu erfahren, dass sie etwa fünfundzwanzig Jahre alt und von bestürzender Schönheit war, doch niemand hatte Gelegenheit, bestürzt zu sein, weil niemand Gelegenheit hatte, ihrer ansichtig zu werden. Donna Eleonora hielt sich nämlich seit ihrer Ankunft stets zurückgezogen in den Privatgemächern des Palastes auf, umsorgt von vier Zofen, die sie aus Spanien mitgebracht hatte.
Einen Monat nach dem Eintreffen seiner Gemahlin hatte Don Angel unter den zunächst erstaunten und dann zunehmend entgeisterten Blicken des Hofes begonnen sich zu verformen.
Dies äußerte sich anfangs in dem rasanten Wachstum seines Bauches und nur seines Bauches, so dass Don Angel, dessen übrige Körperpartien spindeldürr blieben, innerhalb einer Woche das exakte Ebenbild einer Schwangeren im neunten Monat war.
Dann griff die Fettheit rasch auf seine Arme, Hände, Beine und Füße über. Zuletzt befiel sie sein Gesicht. Aus der Mondsichel, die es gewesen war, wurde ein Vollmond.
In weniger als sechs Monaten wog Don Angel neunzig Kilo, nach weiteren sechs Monaten kam er auf einhundertfünfzig. Und nun schien sich sein Tonnengewicht auf einhundertneunzig eingepegelt zu haben. Ein Elefant.
Und nichts, rein gar nichts, konnte diese Entwicklung aufhalten. Der königliche Leibarzt Don Serafino Gustaloca hatte nach vielen Besuchen und abermaligen Besuchen, nach einem Tasten hier und einem Befühlen dort, nach unzähligen Versuchen mit den verschiedensten Arzneien, nach Aderlässen und Abführmitteln, die Hoffnung aufgegeben und hilflos die Arme ausgebreitet.
Auch der großartige spanische Arzt, ein Ausbund an Gelehrsamkeit, der von König Karl entsandt worden war, konnte nichts anderes tun.
Selbst wenn der Vizekönig eine ganze Woche lang keinen Bissen aß und nicht einmal einen Tropfen Wasser trank, nahm er weiter zu wie ein Mastschwein.
Der Hofschneider, Artemio Savatteri, verdiente sich in kürzester Zeit eine goldene Nase. Er brauchte vier Gehilfen, weil die gesamte Garderobe des Vizekönigs allwöchentlich komplett erneuert werden musste.
Um neun Uhr fünfunddreißig wurde die Tür bis zum Anschlag geöffnet und Don Angel aus den Händen der beiden Kammerdiener, die ihm beim Ankleiden behilflich gewesen waren, in die Hände der zwei Lakaien übergeben. Don Angel hakte sich bei Foti und Miccichè ein und begann, auf sie gestützt, den Ratssaal anzusteuern.
Das Gehen fiel ihm nicht leicht. Wollte er einen Schritt tun, konnte er wegen seiner dicken Schenkel den Fuß nicht vorsetzen, wie es natürlich gewesen wäre, sondern musste zunächst das ganze Bein zur Seite bewegen, um dann den Fuß nach vorn zu schieben.
Dadurch verlor sein Körper jedoch das Gleichgewicht, geriet ins Wanken und lastete auf dem vorderen Bein, weshalb derjenige, der ihn auf dieser Seite stützte, in der Verfassung sein musste, das ganze Gewicht dieses Fleischbergs zu halten. Hätte er unglücklicherweise die Balance verloren, hätte ihn der auf ihn fallende Vizekönig zerquetscht.
Als Don Angel an der Saaltür erschien, erhoben sich alle Ratsmitglieder, legten mit einer tiefen Verbeugung ihre rechte Hand aufs Herz und warteten darauf, dass der Vizekönig auf dem Kleinen Thron Platz nahm, damit sie sich wieder setzen konnten.
Doch Don Angel blieb eine Weile an der Tür stehen und rang nach Luft. In dem allgemeinen Schweigen klang sein Schnaufen geradeso wie ein mächtiger, langsam aufgezogener Blasebalg. Dann setzte er seinen Gang fort, der weniger einem schlichten Fußmarsch als vielmehr dem Schlingern eines Schiffes glich, das rollend und stampfend durch schwere See zog.
Das Schlimmste, aber, kam erst noch.
Die Erklimmung der drei Stufen zum Kleinen Thron stand bevor.
Die tatkräftige Unterstützung der zwei Lakaien oblag dem Hofnotar Musumarra und dem Schreiber Rutè, die herbeieilten, um die Plätze von Foti und Miccichè einzunehmen.
An der untersten der drei Stufen kauerte Foti nieder, packte Don Angels linken Fuß mit beiden Händen, hievte ihn ächzend hoch, schob ihn nach vorn und stellte ihn wieder auf den Boden.
Dadurch kippte der ganze Körper des Vizekönigs allerdings gefährlich nach hinten, so dass Miccichè ihn, damit er nicht umfiel, mit ausgestreckten Armen, mit...
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